Proteste in Chile: UN sieht massive Menschenrechtsverletzungen durch Staat

Fälle von Folter und sexualisierter Gewalt. Innenminister von Senat zur Verantwortung gezogen. Noch keine juristische Aufarbeitung

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Weitestgehend straffrei: Polizeigewalt in Chile gegen Demonstrierende
Weitestgehend straffrei: Polizeigewalt in Chile gegen Demonstrierende

Santiago. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) hat in einem am Freitag veröffentlichten Bericht festgestellt, dass in Chile Polizei und Militär seit Beginn des landesweiten Aufstands am 18. Oktober massiv Menschenrechtsverletzungen begangen haben. "Zu diesen Verstößen gehören übermäßige oder unnötige Gewaltanwendung. Diese führte zu willkürlicher Entziehung von Leben und Verletzung, Folter und Misshandlung, sexueller Gewalt und willkürlicher Inhaftierung. Diese Verstöße wurden im ganzen Land begangen", so der UN-Bericht. Nach bereits veröffentlichten Berichten von Amnesty International und Human Rights Watch ist dies bereits der dritte Bericht internationaler Nicht-Regierungs-Organisationen, der die Kritiken der chilenischen Zivilgesellschaft bestätigt.

Das OHCHR hat für ihren Bericht im Zeitraum vom 30. Oktober bis zum 22. November 235 Interviews durchgeführt und 133 Fälle von Folter und Misshandlungen, vor allem durch Angehörige der Militärpolizei Carabineros festgestellt. Der Bericht geht auch auf die mittlerweile mehr als 350 am Auge verletzten Demonstranten ein. Die Autoritäten hätten spätestens ab dem 22. Oktober Kenntnis vom Ausmaß der Verletzungen gehabt, es aber "versäumt, wirksame, rasche und rechtzeitige Maßnahmen zu ergreifen, um den Einsatz von weniger tödlichen Waffen, insbesondere von Gummischrot-Gewehren zu beenden".

Darüber hinaus berichtet das OHCHR von Fällen von Folter. So hätten Polizisten Festgenommene unter anderem bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt und verprügelt. Auch psychologische Folter soll zum Einsatz gekommen sein. Das OHCHR hat "wiederholt Berichte über psychologische Folter erhalten, wie Morddrohungen, Drohungen, die Person ‚verschwinden zu lassen‘, Drohungen der Vergewaltigung, Schläge auf Familienangehörige und Freunde vor der Person und Drohungen der Aggression gegen Familienmitglieder". Auch vereinzelte Fälle von Scheinhinrichtungen wurden dokumentiert.

In mindestens 24 Fällen wurde sexualisierte Gewalt dokumentiert, darunter "Vergewaltigung, Androhung von Vergewaltigung, erniedrigende Behandlung (z.B. gezwungen zu sein, sich auszuziehen), homophobe oder frauenfeindliche Kommentare, Schläge oder Handlungen, die Schmerzen in den Genitalien verursachen". Der Bericht erwähnt auch, dass das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) in Hunderten weiteren ähnlichen Fällen Anzeige erstattet hat.

Schon vor der Veröffentlichung des UN-Berichts hatte der Senat in dieser Woche eine Verfassungsbeschwerde gegen den ehemaligen Innenminister Andrés Chadwick zugelassen. Chadwick war spätestens seit dem Mord an dem indigenen Aktivisten Camilo Catrillanca durch eine Spezialeinheit der Polizei im November letzten Jahres heftiger Kritik von sozialen Bewegungen ausgesetzt. Chadwick war bereits am 28. Oktober zurückgetreten. Mit der Entscheidung des Senats wird Chadwick für fünf Jahre das Ausüben öffentlicher Ämter untersagt. Die Senatoren entschieden, dass Chadwick gegen die Verfassung und die Gesetze verstoßen habe, indem er "keine Maßnahmen zur Beendigung von Menschenrechtsverletzungen" ergriffen habe, und dass er "die Ehre und Sicherheit der Nation" ernsthaft gefährde.

Chadwick selbst, der schon während der Militärdiktatur Augusto Pinochets politische Karriere gemacht hatte, bezeichnete die Verfassungsbeschwerde als "ungerecht, unbegründet und politisiert". Er habe sich in seiner gesamten Amtszeit "darum gekümmert, dass die öffentliche Ordnung Realität ist und dass in dieser öffentlichen Ordnung die Menschenrechte gewahrt werden".

Kurz nach der Entscheidung des Senats hatte das Abgeordnetenhaus am Donnerstag beschlossen, eine Verfassungsbeschwerde gegen den konservativen Präsidenten und Multimilliardär Sebastián Piñera nicht zuzulassen. Piñera, dessen Zustimmungswerte sich stabil im einstelligen Prozentbereich bewegen, hat damit zunächst von offizieller Seite nichts zu befürchten.

Die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung ist auch weiterhin Regierungsprogramm. Während die Umsetzung der als Reaktion auf die massenhaften Proteste lancierten Sozialreformen weiter auf sich warten lässt, hatte das Abgeordnetenhaus bereits am 4. Dezember eine Reihe repressiver Gesetze verabschiedet, die nun noch vom Senat bestätigt werden müssen. Die als "Anti-Vermummten-Gesetz" und "Anti-Barrikaden-Gesetz" benannten Gesetzesprojekte sehen massive Strafverschärfungen für im Rahmen von Protesten begangene Delikte vor und werden von Seiten der Zivilgesellschaft als Kriminalisierung der Proteste betrachtet. Für Empörung sorgte, dass die Gesetze mit den Stimmen der Opposition, unter anderem dem Frente Amplio, bei lediglich sieben Gegenstimmen verabschiedet wurden. Die Abgeordneten der Kommunistischen Partei erschienen nicht zur Abstimmung.