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Chile: Sebastián Piñera, Posterboy des grünen Kapitalismus

Die Umweltagenda von Piñera ist eine Fallstudie für das Scheitern des "grünen Kapitalismus"

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"Piñera riecht nach Diktatur". Seit dem 18. Oktober erlebt Chile die größten Proteste seit der Rückkehr zur Demokratie
"Piñera riecht nach Diktatur". Seit dem 18. Oktober erlebt Chile die größten Proteste seit der Rückkehr zur Demokratie

Die Oase steht in Flammen. In den letzten Wochen erlebte Chile die größten Proteste seit der Rückkehr zur Demokratie. Der erfolgreiche Milliardär, als der Präsident Sebastián Piñera der internationalen Gemeinschaft bislang erschien, ist abgestürzt, jeden Tag erreicht seine Regierung einen neuen Tiefpunkt: Der Einsatz des Militärs gegen das eigene Volk, eine sogenannte Sozialagenda mit lahmen Maßnahmen wie einer Erhöhung um gerade mal 70 Dollar auf die unzureichenden 400 US-Dollar Mindestlohn, eine Kabinettsänderung, die nichts anderes tat, als alte neoliberale Experten durch jüngere neoliberale Experten zu ersetzen.

Aber der Tiefpunkt, der überall auf der Welt wahrgenommen wurde, war der Rückzug Chiles als Gastgeber des zehntägigen COP25-Forums das am 2. Dezember stattfinden soll.

Noch im vergangenen September schienen die weltweit größten Gespräche über den Klimawandel in besten Händen. Vom Atlantic Council in New York hatte Piñera den Global Citizen Award bekommen, und nur einen Tag später stand er vor der UN-Generalversammlung und forderte die Welt auf, jetzt zu handeln.

Seit Übernahme der Gastgeberrolle durch seine Regierung für die COP25 wurde seine Agenda grün und grüner: Das Verbot von Plastiktüten im Handel, das Jahr 2040 als Ziel für die Kreislaufwirtschaft, ein Pakt mit Giganten wie Coca-Cola und Nestlé zwecks Förderung von Innovation und Recycling in der Industrie, Senkung der Unternehmenskosten beim Übergang zu umweltfreundlichen Praktiken. Als wichtigste Maßnahme seiner Regierung wurde die Schließung aller Kohlekraftwerke bis 2040 angesehen, um ein CO2-freies Chile bis 2050 zu erreichen.

Ohne auf Konfrontationskurs zu gehen und unternehmerfeundlich versprach Piñera mit seinem grünen Kapitalismus, das Land zu retten, ohne es zu verändern. Chile, für gewöhnlich ein Modell für andere Länder in der Region, ging wieder einmal mit gutem Beispiel voran. Vor allem aus Sicht von Regierungen, die keine radikalen, strukturellen Änderungen wünschen.

Ob diese Politiken hinreichend sind, um die Standards eines Global Citizen Award zu erfüllen, ist nicht die Frage. Schließlich wurde der Preis auch Henry Kissinger verliehen.

Tatsache ist, dass diese Regierung ‒ abgesehen von ihrer wenig ehrgeizigen, aber bestens publik gemachten Agenda ‒ alles versucht hat, um Rohstoffe weiter zu privatisieren; die Augen verschloss vor historisch zerstörerischen Industrien; auf die Unterzeichnung eines Freihandels-Vertrags drängte, der Bayer/Monsanto das Monopol über das Saatgut des Landes gibt; und sie weigerte sich auch, einem internationalen Abkommen beizutreten, das die Zivilgesellschaft in die Umweltpolitik mit einbezieht.

Ein genauerer Blick auf die Umweltagenda von Piñera erlaubt es nicht nur, die Engstirnigkeit der kapitalistischen Mächte in Chile besser zu verstehen, sie dient zudem als Fallstudie für das Scheitern des "grünen Kapitalismus" als Ganzes.

Kohlenstoffverzicht – als Befreiung getarnt

Die Ankündigung eines kohlenstofffreien Chiles bis 2050 stieß sofort auf breite Kritik, weil es sich um eine "kostet ja nichts-Nummer" handelt. Zu diesem Zeitpunkt sind viele Verträge der Kraftwerke bereits ausgelaufen. Außerdem hat die Regierung weiterhin die Inbetriebnahme neuer kohlenstoffbasierter Kraftwerke genehmigt.

Die Nichtregierungsorganisation Chile Sustentable (Nachhaltiges Chile) bewies sogar, dass eine vollständige Dekarbonisierung bis 2030 möglich und kostengünstig ist. Bis 2024 könnten 50 Prozent der kohlebasierten Stromversorgung des Landes ausgeschaltet werden, also ein Jahr früher als von der Regierung geplant, die mit dem Abschalten von (lediglich) acht ihrer Kraftwerke anfangen will.

Vor der UN-Generalversammlung entschuldigte sich Piñera für die zu häufige Nutzung von "Opferzonen" seines Landes. Er veröffentlichte auch Hochglanzberichte über die Sanierung der bekanntesten dieser "zonas de sacrificio": Quintero und Puchuncaví. Die benachbarten Küstenstädte, die seit 50 Jahren Standorte von Kohlekraftwerken von 17 Energiekonzernen sind, werden auch "das chilenisches Tschernobyl" genannt.

Der Bericht von Piñera steht in krassem Gegensatz zu den Erfahrungen der Bewohner dieser Städte. Kurz nach Piñeras Rede wurde beim obersten Rechnungsprüfer eine Beschwerde eingereicht, in der die Nachlässigkeit der Regierung bei der Dekontaminierung beklagt wird, und dass sie nur Luftverschmutzung beobachte, aber die Land- und Wasserverseuchung vernachlässigte.

Am 24. August, genau ein Jahr nachdem die Medien die Not der Küstenstädte wieder zum Thema gemacht hatten und vier Monate nachdem der Oberste Gerichtshof die Regierung aufgefordert hatte, einen Sanierungsplan zu verabschieden, wurden 49 Kinder aus dem benachbarten Ventanas mit Vergiftungserscheinungen eingeliefert. Am 30. September beklagte ein Einwohner in einem Forum, dass während der letzten 303 Tage ein gefährliches Maß an Luftverschmutzung festgestellt wurde.

Piñeras Ankündigung zur "Dekarbonisierung" verurteilt Städte wie diese zu weiteren 20 Jahren Kohle.

Das Lachsproblem

Tief unten im chilenischen Süden halten lediglich zehn Lachsfirmen 80 Prozent aller Konzessionen. Der chilenische Lachs war häufig Gegenstand internationaler Kontroversen. Im vergangenen Jahr prangerte die NGO Oceana an, dass diese Industrie über 95 Prozent der weltweit in der Lachszucht verwendeten Antibiotika einsetzt.

Der Mangel von Regulierung und Überwachung in dieser Branche hat zu Überdüngung und strukturellen Veränderungen im Wasser geführt, wie schädliche Algen und sauerstoffzehrende organische Stoffe. Die Pestizide, die gegen Seelausbefall eingesetzt werden, schaden auch nicht zur Zielgruppe gehördende Arten. Lachsflucht aus den Farmen ist ebenfalls ein häufiges Umweltrisiko und gefährdet einheimische Arten.

Allein im vergangenen Jahr entkamen rund 690.000 Lachse, von denen weniger als die Hälfte wieder eingefangen wurden. Anfang 2016, lagen innerhalb von nur zwei Wochen rund 40.000 tote Lachse an den Ufern der Region Los Lagos. Die gesamte Region wurde wegen der Gesundheitsrisiken durch tote Biomasse in Küstennähe als Katastrophenzone eingestuft.

Außer Strafmaßnahmen wie gegen "Nova Austral" 2018 wegen Fälschung der Anzahl toter Lachse unternahm die Regierung weder etwas, um die antibiotikalastige, umweltzerstörende Produktionsweise der Lachsindustrie zu ändern, noch für Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze, um die übermäßige Abhängigkeit des Südens von dieser Art Industrie zu verringern, der zweitwichtigsten Industrie in Chile nach dem Bergbau.

Nachsicht mit der Bergbauindustrie

Kupfer ist derzeit Chiles wichtigstes Exportgut, aber die Nachfrage nach Lithium soll steigen, da der Bedarf bei batteriebasierten erneuerbaren Energien steigen könnte. Während die Bergbauindustrie Maßnahmen ergriff, um ihre Aktivitäten "zu vergrünen" (aber immer noch Tonnen an Kohlenstoff produziert), verfügt sie historisch auch über ein Lobby-Netzwerk, das sowohl bestehende Naturschutzgebiete als auch Planungen gefärdet , die Schutzgebiete weiter auszudehnen.

Die Regierung hat sich auf die Seite dieser Lobby gestellt und will ein Gletscherschutzgesetz ändern, das derzeit im Senat diskutiert wird. Die Gletscher Chiles schmelzen immer schneller, in den letzten fünf Jahren verloren sie über acht Prozent ihrer Masse. Die von der Regierung vorgeschlagenen Gesetzesänderungen würden die Definition dessen, was ein Gletscher ist, einschränken; und sie würden viele hydrologisch in dieser von Dürre heimgesuchten Region wichtige Gletscher der Nutzung durch die Bergbauindustrie aussetzen.

Weitere Privatisierung von Wasser

Dank des Wassergesetzes, das in Pinochets neoliberaler Diktatur geschaffen wurde, ist Wasser in Chile in Privatbesitz, ein Gesetz, das bis heute gilt. Piñera versuchte, die Privatisierung weiterzutreiben, indem er 2018 einen als "Pro-Investitionsprojekt" getarnten Gesetzentwurf vorlegte, der tatsächlich die staatliche Wasserbehörde (Dirección General de Aguas, DGA) privatisieren soll, die den Wasserverbrauch regelt.

Er pries das Vorhaben eines "Nationalen Wasser-Tisches", eines Rates, der darauf abzielte, die Wasserkrise des Landes zu lösen. Daran waren jedoch ausschließlich Führungskräfte, Kongressabgeordnete und der Agrarindustrie freundlich gesonnene Organisationen beteiligt; ferner sein ehemaliger Wirtschaftsminister José Ramón Valente, eine der treibenden Kräfte für die Privatisierung der DGA. Darüber hinaus ist Piñeras Landwirtschaftsminister Antonio Walker im Besitz von Fließwasser mit mehr als 29.000 Litern pro Sekunde.

Gegen Umweltschutz

Die Weigerung dieser Regierung, den Escazú-Vertrag (amerika21 berichtete: Staaten in Lateinamerika unterzeichnen Agenda 2030 zu nachhaltiger Entwicklung) zu unterzeichnen, bleibt eine Schande für das Land, wenn man bedenkt, dass die Vorgängerregierung unter Michelle Bachelet an der Entstehung dieses Vertrags beteiligt war. Die derzeitige Umweltministerin Carolina Schmidt wies den Vertrag mit den Worten zurück: "Escazú ist kein Thema außerhalb [Chiles]." Bis zu 14 Länder aus Lateinamerika und der Karibik haben dieses Dokument jedoch unterzeichnet.

Der Vertrag legt fest, dass die Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei Umweltentscheidungen zu spielen hat, und fordert, dass die Staaten in ihrer Gesetzgebung Mechanismen schaffen, um den Menschen Umweltgerechtigkeit und Zugang zu Informationen zu erleichtern, und dass für eine Region, in der die Zahl ermordeter Umweltschützer Rekordhöhe erreicht hat, die Notwendigkeit zu deren Schutz besteht.

Dieser letzte Punkt findet einen finsteren Widerhall in Chile angesichts der Fälle Macarena Valdés und Alejandro Castro, die in den letzten drei Jahren unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden wurden. Beide befanden sich im Kampf gegen private Interessen, die ihre Gemeinden gefährdeten: ein Wasserkraftprojekt der österreichischen Firma RP Global und der chilenischen Saesa im Falle von Valdés. Und Castro war Aktivist für die "zona de sacrificio" Quintero. Da keine ernsthafte Untersuchung stattfand, wurden beide Todesfälle als Selbstmorde eingestuft ‒ ein Urteil, das von den Familienangehörigen massiv kritisiert wird. (Siehe auch amerika2: Chile: Zufälliger Tod eines Aktivisten)

Darüber hinaus zeigen kürzlich geleakte Geheimberichte, dass die chilenische Polizei Umweltaktivisten überwacht, unter ihnen die "Agrupación Eco Social" aus Quintero oder das "Red de Apoyo de Resistencia del Pilmaiken" der Mapuche und Rodrigo Mundaca, Gewinner des Internationalen Menschenrechtspreises Nürnberg 20191.

Das Monsanto-Gesetz

Die Piñera-Regierung hat sich zur Genehmigung des Freihandelsabkommens Trans Pacific Partnership Treaty (TPP-11) durch Kongress und Senat durchgearbeitet und wartet derzeit auf die Abstimmung der zweiten Kammer. Das Abkommen würde es transnationalen Unternehmen in Chile ermöglichen, Saatgutsorten als geistiges Eigentum zu patentieren. Damit könnten Kleinbauern und indigene Völker sie ohne Genehmigung dieser Konzerne nicht mehr nutzen. Derzeit beschränkt sich die Präsenz von Bayer/Monsanto in Chile auf die Produktion für den Export, aber wenn TPP-11 zugelassen wird, hätten sie freie Hand, um nahezu exklusiv für den chilenischen Markt zu produzieren.

In einer Region, die von einer institutionellen Krise nach der anderen gebeutelt wird, galt Chile immer als Vorbild für Stabilität, als ein Beispiel, dem andere Länder folgen sollten. Der Volksaufstand hat diese Illusion endgültig zunichte gemacht. Vor der letzten UN-Generalversammlung sagte Piñera, die Zeit, für unseren Planeten zu handeln, sei jetzt. Aber nicht nur seine Taten zeigen zu wenig davon, sein jüngster Rückgriff auf den Autoritarismus zeigt eine klare Missachtung des menschlichen Lebens im Allgemeinen.

Dieser Präsident ist da nicht der Einzige. Die kapitalistische Klasse wird immer wachsam sein und ihre grün-demokratische Verkleidung fallen lassen, sobald ihre Geldbeutel bedroht sind, wie es die Regierung dieses Milliardärs bewiesen hat. Ein paar Brände reichten dem Globalen Citoyen, um diktatorische Züge zu entwickeln und das Militär auf die Straße zu schicken.

Wir leben in einer Zeit, in der der Kapitalismus endlich zu seiner Verantwortung für den Klimawandel aufgerufen ist, auch wenn dieses Wirtschaftssystem die bestimmende Logik der Klimapolitiken weltweit bleibt.

Nun wird sich die Welt am 2. Dezember in Madrid zur COP25 versammeln. Der rasche Fall aus der Gnade des früheren Gastgebers muss von sozialen Organisationen, Aktivisten und menschlich geführten Regierungen als Chance genutzt werden. Zur Täuschung vom "prosperierenden Chile" gehört auch die vom grünen Kapitalismus. Diese Lüge muss als das angeprangert werden, was sie wirklich ist: nur eine weitere Marketingkampagne.

  • 1. Am 22. September 2019 wurde Rodrigo Mundaca mit dem 13. Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreis geehrt. "Die Auszeichnung gilt seinem mutigem Kampf für den freien Zugang zu Wasser in seiner Heimatregion Petorca“, so die Laudatio