Corona in Argentinien: Situation in Armenvierteln von Buenos Aires spitzt sich zu

Kein fließendes Wasser, Mangel an Lebensmitteln und fehlende Einkünfte aufgrund der Quarantäne bestimmen die Lage in den Villas

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Die informelle Siedlung Villa 31 liegt nahe am Zentrum von Buenos Aires
Die informelle Siedlung Villa 31 liegt nahe am Zentrum von Buenos Aires

Buenos Aires. Trotz weiterhin strenger Quarantäne-Maßnahmen im ganzen Land mehren sich in den Armenvierteln der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires und ihrem Ballungsgebiet die Corona-Infektionsfälle. Vor allem die zentrumsnah gelegene Villa 31 steht momentan im Fokus. In dieser Woche wurde zudem aufgrund hoher Infektionszahlen die südlich der Hauptstadt gelegene Villa Azul abgeriegelt. Bis Mitte der Woche sollen dort rund die Hälfte von 300 durchgeführten Tests auf Covid-19 positiv verlaufen sein.

Die Abriegelung der Villa Azul brachte der Regierung um Präsident Alberto Fernández auch Kritik aus den eigenen Reihen und von sozialen Organisationen ein. Daniel Menéndez, Referent bei der landesweit aktiven sozialen Organisation "Barrios de pie", warnte davor, "abgeriegelte Zonen armer Menschen" zu schaffen, die dort "sterben werden". Die in den Armenvierteln arbeitenden Aktivisten sind außerdem selbst vom Virus betroffen. Einige starben bereits, wie zu Beginn dieser Woche Agustín Navarro, der in der Villa 31 aktiv war. Er war Koordinator einer kommunitären Küche und eine der Führungspersonen von "Barrios de Pie". Kurz vorher waren bereits Ramona Medina und Victor Giracoy an den Folgen von Covid-19 gestorben, zwei weitere bekannte Basisaktivisten der Siedlung. Seit Wochen gab es dort kein Wasser.

Inzwischen wurden über 2.500 Infektionen und bis Mitte der Woche 22 Todesfälle in der Villa 31 verzeichnet. Vertreter der Stadtteilorganisationen trafen sich unlängst mit dem regierenden Bürgermeister von Buenos Aires, Horacio Larreta, und mit Staatspräsident Alberto Fernández, um dringende Maßnahmen zur Verhinderung einer weiteren Ausbreitung des Virus und zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Wasser zu besprechen.

Die Villa 31 ‒ auch "Padre Mugica" genannt, nach dem in den 1970er Jahren von der paramilitärischen Triple-A ermordeten Gründer der Bewegung der Pfarrer der Armenviertel ‒ liegt im Stadtteil Retiro, sehr nah an den wohlhabenderen Vierteln Barrio Norte und Nuñez. Es ist eine der ältesten informellen Siedlungen des Landes und existiert, eingekeilt zwischen Hafen und Bahngelände, seit Anfang der 1930er Jahre. Damals ließen sich dort polnische und italienische Einwanderer nieder, die auf Grund der Weltwirtschaftskrise arbeitslos waren.

Das Viertel wuchs und veränderte sich über die Jahre im Rhythmus der wirtschaftlichen Schwankungen. In Zeiten der Mechanisierung der Landwirtschaft kamen die landlosen Arbeiter aus dem Landesinneren, in Aufschwungzeiten Zuwanderer aus Nachbarländern, in Krisenzeiten nahm es diejenigen auf, die durch die sozialen und familiären Netze fielen. Die Bewohner wurden wiederholt umgesiedelt, mal mehr oder wenig freiwillig in soziale Wohnungsbauprojekte wie Catalinas Sur, mal mit offenem Zwang in die Provinz. Der größte Anlauf, die Villa aufzulösen, erfolgte in der Militärdiktatur (1976–1983), die bis 1980 97 Prozent der Anwohner umsiedelte, bis nur ein Kern von 754 Personen verblieb. Kurz darauf zogen jedoch neue Siedler in die frei gewordene Brache.

Seit der Rückkehr der Demokratie läuft die Diskussion über eine Konsolidierung der Siedlung durch Infrastrukturmaßnahmen und Ersatz der baulichen Substanz ‒ oder aber die komplette Verlegung und Auflösung. Ab 2010 wurde ein Urbanisierungsplan entwickelt. Bürgermeister Larreta kündigte 2017 den Ausbau der Infrastruktur an, wofür ein Kredit von 100 Millionen US-Dollar aufgenommen wurde. Kritiker werfen ihm vor, viel Geld für Gutachten und nicht für konkrete Maßnahmen ausgegeben zu haben. Die Errichtung eines nahen öffentlichen Gebäudes senkte gar den Wasserdruck im Viertel so stark, dass die Bewohner wochenlang kein fließendes Wasser hatten. Die Verbindungen der beauftragten Consulting-Firma zu der in Buenos Aires regierenden konservativ-liberalen PRO-Partei führte bereits zu Anschuldigungen wegen Vetternwirtschaft.

Die zentrale Lage weckt Begehrlichkeiten. Trotz des Urbanisierungsplans existiert seit einiger Zeit ein aufwändiges paralleles Immobilienprojekt. Im Juni 2019 genehmigte das Stadtparlament die Privatisierung der ehemaligen Bahn- und Hafengrundstücke, auf denen das Viertel steht. Der geschätzte Wert, sollte man die Villa loswerden, ist auf Grund der Nähe zum Zentrum sehr hoch.

Die bis Dezember mit Mauricio Macri im Land regierende Partei PRO, die auch jetzt noch in der autonomen Hauptstadt die Regierung stellt, wird schon lange beschuldigt, Spekulationen mit staatlichen Immobilien zu fördern. Der argentinische Staat machte deswegen jüngst eine Reihe von Übertragungen von staatlichen Immobilien an die Stadt rückgängig, die von Macri kurz vor seinem Abgang verfügt wurden.

Die Bevölkerung der Villa 31 wird heute auf rund 70.000 Personen geschätzt. Viele von Ihnen arbeiten auf dem Bau und im Dienstleistungssektor des reichen Stadtzentrums, besonders im informellen Bereich, weshalb sie der Lockdown besonders hart trifft.

In den nahen reicheren Vierteln fielen die ersten importierten Covid-19-Fälle an, und von dort wurden sie in die Armenviertel getragen, dessen Bewohner definitiv nicht zu dem Teil der Bevölkerung gehören, die ihren Urlaub in Übersee verbringen, aber häufig in den Häusern derer arbeiten, die es tun.

Und während zwischen der restlichen Bevölkerung die Fallzahlen rückläufig sind und die Todesfälle sehr gering ausfielen, breitet sich in diesem und anderen Armenvierteln die Krankheit nun rasant aus.