In Lateinamerika über 200.000 Menschen gewaltsam verschwunden

Weltweites Gedenken am Internationalen Tag der Verschwundenen. Menschen in Lateinamerika erinnern öffentlich und fordern Aufklärung.

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Das gewaltsame Verschwindenlassen geschieht in vielen Ländern Lateinamerikas weiter
Das gewaltsame Verschwindenlassen geschieht in vielen Ländern Lateinamerikas weiter

Genf. Von Mexiko bis Argentinien haben am 30. August Familienangehörige und Menschenrechtsorganisationen an die gewaltsam Verschwundenen des Subkontinents erinnert. Laut den Vereinten Nationen, die den 30. August zum Internationalen Tag der Verschwundenen erklärt haben, wird das gewaltsame Verschwindenlassen "oft als Strategie genutzt, um Schrecken unter der Bevölkerung zu verbreiten. Das durch diese Praxis verursachte Gefühl der Unsicherheit betrifft nicht nur die Angehörigen der verschwundenen Personen, sondern ganze Gemeinschaften und Gemeinden und letztlich die gesamte Gesellschaft."

Rafael Barrantes vom Internationalen Roten Kreuz für Mexiko und Zentralamerika verweist darauf, dass die hohe Zahl der Opfer in Lateinamerika sich aus vielen Quellen speist: bewaffnete Konflikte, Agieren von Staatsorganen, Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und dem organisierten Verbrechen oder als Schicksal auf der Flucht in Richtung USA aufgrund ökonomischer und sozialer Gründe. Ein großes Problem sei die Unzuverlässigkeit offizieller Zahlen, "die ein Indikator für die Probleme der Kontrollmechanismen sind." Trotz ungenauer Erhebungen gehen Menschenrechtsorganisationen davon aus, dass mindestens 200.000 Menschen in Lateinamerika gewaltsam verschwunden sind. Bekannte Kontexte systematischen Verschwindenlassens sind die Operation Condor, die bewaffneten Konflikte in Guatemala und Kolumbien sowie der Drogenkrieg in Mexiko.

Operation Condor war der Codename der staatterroristischen Geheimdienstoperationen verschiedener südamerikanischer Staaten in den 1970er und 1980er Jahren, deren Ziel die Zerschlagung der linken Opposition gegen die damaligen Militärdiktaturen war. Die Geheimdienste von Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay kooperierten bei der systematischen Repression, die Geheimdienste Kolumbiens, Perus und Venezuelas beteiligten sich punktuell. Nach heutigen Erkenntnissen wurde die Operation Condor von US-amerikanischen und französischen Geheimdiensten aktiv unterstützt.

Laut guatemaltekischer Wahrheitskommission gelten bis zu 45.000 Bürger des mittelamerikanischen Landes als Folge des von 1960 bis 1996 dauernden Bürgerkrieges als verschwunden. Nach dem 1954 von der CIA organisierten Staatsstreich gegen den Präsidenten Jacobo Árbenz Guzmán, eskalierten die inneren Unruhen ab 1960 zu einem Bürgerkrieg zwischen linken Guerillas und den durch Todesschwadrone unterstützen Streitkräften. 200.000 Menschen starben, in ihrer großen Mehrzahl Indigene. Unter dem von 1982 bis 1983 als Militärdiktator regierenden Efraín Ríos Montt kam es zu einem offenen Völkermord an der indigenen Bevölkerung.

Das kolumbianische Nationale Zentrum für historisches Gedächtnis (CNMH) beziffert die Zahl der gewaltsam Verschwundenen im Land auf über 80.000. Von 1964 bis 2016 kämpften der kolumbianische Staat und rechte Paramilitärs gegen linke Guerillas. Über 200.000 Menschen starben in dem Konflikt. 2016 unterzeichnete die kolumbianische Regierung einen Friedensvertrag mit der größten Guerillaorganisation, den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc-EP). Doch auch seit Unterzeichnung des Friedensvertrags sind laut Internationalem Roten Kreuz mindesten 466 Menschen verschwunden, vor allem Gewerkschafter, Menschenrechtsaktivisten und demobilisierte ehemalige Farc-Mitglieder.

In Mexiko sind nach offiziellen Zahlen über 70.000 Menschen gewaltsam verschwunden. Der aktuelle Präsident Andrés Manuel López Obrador veranlasste nach Amtsantritt eine Neuauswertung der offiziellen Statistiken, da er Beschönigungen durch seine Vorgänger vermutete. Bis April 2018 belief sich die offizielle Zahl auf knapp 43.000. Schon während der jahrzehntelangen Regierungszeit der Partei der Institutionellen Revolution (PRI) verschwanden viele Oppositionelle spurlos. Seit der Eskalation des Drogenkrieges ist das Verschwindenlassen auch gängige Praxis der Drogenkartelle geworden. Internationale Schlagzeilen machte der Fall der 43 Studenten von Ayotzinapa, die im September 2014 verschwanden. Bisherige Ermittlungen weisen auf eine Kooperation staatlicher Behörden mit dem organisierten Verbrechen hin.

Der Internationale Gedenktag für die Verschwundenen geht auf die Initiative der 1981 in Costa Rica gegründeten transnationalen Nichtregierungsorganisation Lateinamerikanischer Zusammenschluss von Familien von Verschwundenen (Fedefam) zurück. Am 21. Dezember 2010 stimmte die Vollversammlung der Vereinten Nationen dafür, den 30. August zum Internationalen Tag der Verschwundenen zu erklären.

Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, ruft in einer Mitteilung die Staaten der Welt dazu auf, "ihre Anstrengungen zu forcieren, erzwungenes Verschwindenlassen zu verhindern, die Opfer aufzufinden und Opfer und ihre Angehörigen zu unterstützen." Von den Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen fordert er, die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen zu unterzeichnen.

Die UN-Konvention wurde am 20. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und trat im Dezember 2010 in Kraft. Lateinamerikanische Menschenrechtsaktivisten, die nach dem Ende der Militärdiktaturen in Argentinien und Chile Aufklärung über den Verbleib von vermissten Oppositionellen forderten, waren Initiatoren für die Konvention. Weltweit haben 98 Staaten den Vertrag unterzeichnet und 61 ratifiziert und erkennen somit den UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen als Kontrollgremium an. In Lateinamerika haben nur El Salvador und Nicaragua die Konvention nicht unterschrieben. In El Salvador forderten zivile Organisationen die Regierung nun auf, die Konvention zu unterschreiben und ihre Umsetzung zu garantieren.