Brasilien: Kritik trotz Entschädigungszahlungen durch die Volkswagen AG

Konzern zahlt endlich Entschädigungen wegen Kollaboration mit der Diktatur. Doch die nun bekannt gewordene Einigung stößt auch auf Kritik

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Für sie kommt die Entschädigung zu spät: die früheren VW-Mitarbeiter und Zeugen Lúcio Bellentani und Heinrich Plagge
Für sie kommt die Entschädigung zu spät: die früheren VW-Mitarbeiter und Zeugen Lúcio Bellentani und Heinrich Plagge

Wolfsburg/Brasília. Volkswagen do Brasil hat sich im Rahmen der seit Ende 2017 in São Paulo stattfindenden außergerichtlichen Verhandlungen unter Vermittlung der brasilianischen Bundesstaatsanwaltschaft bereit erklärt, sich der historischen Verantwortung zu stellen und Entschädigungszahlungen zu leisten. Dabei geht es um eine Summe in Höhe von 36 Millionen Reais (derzeit umgerechnet rund 5,5 Millionen Euro). Dies geht aus der am Mittwoch auf der Webseite der Bundesstaatsanwaltschaft in São Paulo veröffentlichten Einigung hervor.

Ziel der Verhandlungen war der Versuch, zwischen den Beteiligten – den von Repression seitens des VW Werkschutzes in den 1970er Jahren betroffenen VW-Mitarbeitern, Menschenrechtsgruppen sowie Gewerkschaftsverbänden und dem Konzern – eine Einigung zu erzielen, die ohne eine explizite Verfahrenseröffnung vor Gericht auskäme. Der Gerichtsweg wurde angesichts des in Brasilien immer noch gültigen Amnestiegesetzes von 1979 und aufgrund der Lehren der vergangenen Jahre über transitional justice für beide Seiten Unwägbarkeiten und vor allem jahrelangen Rechtsstreit bedeuten.

Die Einigung sieht im Einzelnen vor: 16,8 Millionen Reais werden an die Opfervereinigung "Associação Henrich Plagge" als Individualentschädigungen gespendet, die unter Aufsicht unabhängiger Ombudspersonen die Gelder an die rund 60 antragsberechtigten ehemaligen VW-Arbeiter nach festzulegenden Kriterien verteilt.

Neun Millionen Reais gehen an die bundes- und landesstaatlichen "Fonds zur Verteidigung und Wiedergutmachung verschiedener Rechte". Die unter staatlicher Aufsicht stehenden Fonds können dann hinterher mit dem Geld verschiedene Projekte ihrer Wahl finanzieren.

Weitere 10,5 Millionen Reais sollen in den Bereich Kollektiventschädigung gehen. Sechs Millionen Reais davon werden für die Fertigstellung des bereits im Bau befindlichen Erinnerungsmuseums Memorial da Luta por Justiça fließen, das die Rechtsanwaltskammer von São Paulo in der Avenida Brigadeiro Luís Antônio errichtet. Dort soll nun auch ein Raum zur Erinnerung an die Kämpfe und Widerstände der Arbeiter gegen die Militärdiktatur eingerichtet werden.

2,5 Millionen Reais gehen an die Universidade Federal de São Paulo (Unifesp) zur fortführenden Finanzierung der archäologischen und forensischen Untersuchungen der 1990 in einem geheimen Massengrab im Bezirk Perus, São Paulo, gefundenen sterblichen Überreste von bis heute nicht identifizierten Opfern der Militärdiktatur. Zwei Millionen Reais gehen ebenfalls an die Unifesp, für Stipendien an Forscher zum Thema weiterer Kollaborationen brasilianischer und multinationaler Firmen mit der Diktatur.

Zudem verpflichtet sich VW do Brasil, in mindestens zwei großen Tageszeitungen des Bundesstaats São Paulo eine Erklärung zu seiner Zusammenarbeit mit den Organen der Militärdiktatur abzudrucken.

Volkswagen ist damit die erste Firma, die in Brasilien historische Verantwortung für die Kollaboration mit der Diktatur übernimmt.

In diesem Kampf geht es aber nicht nur um Entschädigungen, sondern auch um Wahrheit und historische Gerechtigkeit. Und es gibt neben viel Zustimmung zur jetzt erfolgten Einigung auch Kritik.

Geäußert hat diese das gewerkschaftsnahe Forschungsinstitut IIEP (Intercâmbio, Informações, Estudos e Pesquisas) zusammen mit bekannten Menschenrechtsverteidigern.

Es war vor allem das IIEP, das 2015 gemeinsam mit dem betroffene Arbeiter, alle Gewerkschaftsdachverbände und mehrere Persönlichkeiten der Menschenrechtsverteidigung umfassenden "Arbeiterforums für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung" die Anzeige mit umfangreicher Daten- und Aktendurchforschung bei der Staatsanwaltschaft eingereicht und somit den ganzen Prozess überhaupt in die Wege geleitet und den Grundstein für die jetzt erzielte außergerichtliche Einigung gelegt hatten.

Die Kritik bezieht sich auf mehrere Punkte:

- Zwar sei die Einigung für betroffenen Arbeiter und deren Angehörige ein Erfolg. Wer aber vergessen wurde, seien "die Sklavenarbeiter der VW-Fazenda in Paŕa, Rio Cristalino".

- Die gerechtfertigten individuellen Entschädigungen erfolgen als "good will" ohne Schuldeingeständnis. Es sei zu bezweifeln, dass VW in seiner öffentlichen Klärung die nicht haltbare "Einzeltäterthese" endlich revidiert. Entsprechend kritisch sieht das IIEP der Stellungnahme des Konzerns in den großen Tageszeitungen entgegen.

- Die Forderung nach einem Erinnerungsort für die Kämpfe der Arbeiter gegen die Militärdiktatur und gegen die Kollaboration von VW do Brasil mit den Repressionsorganen (Espaço de Memória dos Trabalhadores) ist zusammengeschrumpft auf einen Raum in dem Museum, das bereits seit Jahren im Bau ist und zu dessen Fertigstellung die Gelder von VW verwendet werden. Dabei hatten die verschiedenen Menschenrechtsgruppen mit der Stadt bereits einen geeigneten Erinnerungsort ausgewählt, der nun aber, ohne die Gelder aus dem VW-Topf, nicht realisierbar sein wird.

- Ein Viertel der Gesamtsumme soll an den landesstaatlichen Fonds zur Verteidigung und Wiedergutmachung verschiedener Rechte von São Paulo und an den Bundesfonds "Fundo de Defesa de Direitos Difusos" gehen. Letzterer ist direkt dem Justizministerium unterstellt, hier wird eine potentielle Einflussnahme von Präsident Jair Bolsonaro und seinen Gefolgsleuten befürchtet.

Adriano Diogo – einer derjenigen, die die 2015 die Klage gegen VW do Brasil bei der Bundesstaatsanwaltschaft in Brasilien eingereicht hatten – kritisiert ebenfalls deutlich: "Die Geschichte verschwindet in diesem Deal", so der vormalige Präsident der Wahrheitskommission des Bundesstaates von São Paulo.

"Volkswagen geht es um sein Image und sein Marketing. Die zu leistenden Spenden werden von dem Unternehmen als Wohltat und nicht wie eine Wiedergutmachung für seine Komplizenschaft mit der Diktatur dargestellt. So gesehen kommt Volkswagen sauber aus der Sache raus", erklärten die an dem Fall seit September 2015 beteiligten Menschenrechtsgruppen gegenüber der Presse.

Für die beiden wichtigsten Zeugen, die aus eigener Erfahrung von der Folter berichteten, zu der VW Beihilfe leistete, Heinrich Plagge und Lúcio Bellentani, kommt die Einigung zudem zu spät: Sie sind vor zwei beziehungsweise einem Jahr verstorben.