Verfassungsreform: Chile vor Richtungsentscheidung

Die politischen Lager bringen sich im Kampf um eine neue Verfassung in Stellung. Verfassungstext trifft das aktuelle Wirtschaftsmodell im Kern. Soziale Bewegungen organisieren ihre Kampagne unabhängig

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Rund 100 Organisationen der sozialen Bewegungen bilden das Bündnis "Apruebo Nueva Constitución"
Rund 100 Organisationen der sozialen Bewegungen bilden das Bündnis "Apruebo Nueva Constitución"

Santiago. Am 4. September wird in Chile über eine neue Verfassung abgestimmt. Diese Abstimmung ist Ergebnis einer langen Phase der sozialen und ökologischen Proteste in Chile. Die Reform würde die neoliberalen Grundsätze der chilenischen Gesellschaft ins Wanken bringen und wird deshalb von der Rechten bitter bekämpft.

Anfang Juli wurde der endgültige Verfassungstext vorgestellt. Zuvor war er im Verfassungskonvent, der sich aus Mitgliedern der Zivilgesellschaft zusammensetzte, über ein Jahr erarbeitet worden. Der Text spiegelt grundlegende Forderungen der sozialen und ökologischen Bewegungen der letzten Jahrzehnte wider und trifft gleichzeitig das aktuelle wirtschaftliche Modell im Kern.

Die Verfassung von 1980 sollte nach dem Sturz des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende 1973 ein für alle Mal die wirtschaftsliberalen Grundsätze als Leitplanken der Gesellschaft festschreiben. In der Folge schützte sie die Privatinteressen der Wirtschaft bezüglich sozialer Infrastrukturen und ökologischer Ressourcen. Das Recht auf Privateigentum steht über allem.

Der "Vater" dieser Verfassung, Jaime Guzmán, sagte dazu, sie sei so geschrieben, dass selbst wenn der politische Gegner an die Macht gelänge, die Spielräume für eine alternative Politik äußerst gering seien.

Strafrechtlich abgesichert wurde die Verfassung zudem beispielsweise mit dem Antiterrorgesetz der Diktatur, das bis heute gegenüber politischen Oppositionellen Anwendung findet.

Nach dem Übergang zur Demokratie in den 1990er Jahren nahmen die Widerstandsbewegungen in Chile seit der Jahrtausendwende enorm zu. Gerade die Jugend, Schüler:innen und Studierende, demonstrierten zu Tausenden gegen die hohen Kosten des privaten Bildungssystems und die daraus resultierende horrende Privatverschuldung der Haushalte. Proteste der Rentner:innen gegen das privatisierte Rentensystem ‒ an denen sich teilweise über ein Millionen Menschen beteiligten ‒ schlossen sich an.

Auch an den Demonstrationen der feministischen Bewegung sowie anlässlich ökologischer Fragen, wie der Entprivatisierung des Wassers beteiligten sich breite Teile der Bevölkerung.

Die Proteste kulminierten Ende Oktober 2019 im "Estallido Social" (Sozialer Ausbruch), der Millionen Menschen auf die Straße brachte und nur durch den Einsatz des Militärs und durch den Ausbruch der Corona-Pandemie gestoppt werden konnte.

Die Rebellion verdeutlichte, dass die sozialen und ökologischen Bewegungen nicht nur für partikulare Interessen, sondern gegen die soziale Ungleichheit insgesamt protestieren, die Resultat einer weitgehend privatisierten Gesellschaft ist, in der große Unternehmen ihre Gewinne mit der Ausbeutung der nationalen Ressourcen und dem Geld der einfachen Leute machen.

Ein Fundament dieser Gesellschaftsordnung bildet die bisherige Verfassung. Deren Änderung wurde zur zentralen Forderung des Aufstands.

Eines der Ergebnisse des Oktober 2019 war, dass ein verfassungsgebender Prozess eingeleitet wurde. Der Text liegt nun der Gesellschaft zur Diskussion und Abstimmung vor. Mit ihm könnten Bildung, Gesundheit, Rentensystem sowie Wasserrechte und teilweise auch die Ressourcen des Landes bald der Dominanz der Privatwirtschaft entrissen werden.

Der Staat könnte als plurinational gelten, eine große Veränderung vor dem Hintergrund, dass die bisherige Verfassung etwa die Existenz der größten indigenen Gruppe, der Mapuche, nicht anerkannte. Außerdem soll der Senat, eine parlamentarische Kammer, die nach der Diktatur die politische Kontinuität sicher stellen sollte, durch eine Regionalkammer ersetzt werden, was eine Dezentralisierung der in der Hauptstadt Santiago gebündelten politischen Macht bedeuten würde.

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"Franja Ciudadana", das Kampagnenbündnis der Rechten, macht mobil gegen die Reform
"Franja Ciudadana", das Kampagnenbündnis der Rechten, macht mobil gegen die Reform

Die politische Rechte hat sich nun in Stellung gebracht und macht mobil für die Ablehnung der Reform.

Ihre Kampagne basiert laut Kritiker:innen vor allem auf Desinformation und dem Schüren von Angst. Berichte zeigen zudem, dass die Finanzierung der Kampagnen äußerst ungleich ist: Die Kampagne für die Ablehnung erhielt 99 Prozent der bisherigen Spenden.

Der amtierende Präsident Gabriel Boric, dem von der Rechten vorgeworfen wird, entgegen seiner Verpflichtung zur Neutralität für die Zustimmung zur neuen Verfassung zu werben, ruft dazu auf, am 4. September "informiert abzustimmen". Zudem kündigte er an, für den Fall der Ablehnung einen neuen verfassungsgebenden Prozess zu initiieren.

Während die Rechte versucht, ihre Basis zu mobilisieren und eine Rundreise durch die unterschiedlichen Regionen des Landes beginnt, gelang es dem linken Bündnis "Aprueba x Chile" (Zustimmung für Chile) 130 soziale und kulturelle Organisationen und Akteure zu vereinen.

Zugleich hat sich aus rund 100 Organisationen der sozialen Bewegungen das Bündnis "Apruebo Nueva Constitución" gebildet, das sich als dezentral und unabhängig versteht und nicht direkt mit den Regierungsparteien zusammenarbeitet. Unter den beteiligten Organisationen findet sich auch das in den vergangenen Jahren der Proteste stark präsente feministische Bündnis Coordinadora Feminista 8M, die Bewegung für die Verteidigung des Zugangs zu Wasser, Land und Umweltschutz, ein Reihe von Gewerkschaften und die Vereinigung der Mapuche-Frauen. Ihr zentrales Anliegen: Diejenigen im Kampf für die neue Verfassung sichtbar zu machen, die historisch stets ausgeschlossen worden sind, so die Sprecherin des Bündnisses.