Bolivien / Politik

Einigung im Konflikt um Volkszählung in Bolivien in Sicht

Expertenkommission soll Datum beschließen, das per Dekret festgelegt wird. Kaum Resonanz auf den Aufruf der Rechten in Santa Cruz zu landesweitem Streik

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Präsident Arce eröffnete am Freitag die Tagung der Expertenkomission
Präsident Arce eröffnete am Freitag die Tagung der Expertenkomission

La Paz/Trinidad. Angesichts des anhaltenden Streiks in Santa Cruz hat Boliviens Präsident Luis Arce einen runden Tisch zur endgültigen Festlegung des Datums der Volkszählung einberufen.

Seit dem Wochenende tagt in Trinidad, der Hauptstadt des Departamento Beni, eine technische Expertenkommission mit Vertreter:innen aller Departamentos und deren Hauptstädte, des Nationalen Statistikinstituts (INE), der öffentlichen Universitäten sowie Repräsentant:innen der indigenen Gemeinschaften, um einen endgültigen Zensustermin zu beschließen.

Hintergrund ist der seit zweieinhalb Wochen laufende Streik im wirtschaftsstärksten Departamento Santa Cruz, mit dem die rechte Opposition um Gouverneur Luis Fernando Camacho beabsichtigt, die Volkszählung bereits 2023 statt 2024 durchführen zu lassen. Santa Cruz erhofft sich vom Zensus vor allem mehr politische Einflussnahme im zentralistisch regierten Andenstaat.

Die Folge des Streiks sind insbesondere massive Wirtschaftsschäden, die sich allein in Santa Cruz bereits auf über 500 Millionen US-Dollar belaufen sollen.

Derweil ist die Anspannung im ganzen Land zu spüren. Schon am Wochenende sind die Lebensmittelpreise auf den Märkten stark gestiegen und vor Tankstellen bildeten sich lange Schlangen. In Gesprächen mit amerika21 wurde deutlich, dass viele Bolivianer:innen größere Ausschreitungen, Benzinknappheit und eine allgemeine Versorgungsknappheit befürchten.

Neben dem sich verschärfenden Konflikt zwischen Befürworter:innen und Gegner:innen des Streiks sind zuletzt auch immer häufiger gewaltsame Zusammenstöße und rassistische Übergriffe auf Indigene zu konstatieren. Ein Streikgegner starb nach einem Angriff von Mitgliedern einer rechten Jugendorganisation. Nicht Wenige sehen bereits Zustände wie vor dem Putsch 2019, in dessen Verlauf Evo Morales, erster indigener Präsident Boliviens, ins Exil fliehen musste und Camacho schnell zum Anführer des Anti-Morales-Lagers aufgestiegen war.

Präsident Arce hält angesichts dieses Konfliktpotenzials weiterhin an klärenden Gesprächen fest und betonte vor dem Treffen: "Wir rufen immer zum Dialog auf und laden dazu ein, denn wir sind überzeugt, dass dies der beste Mechanismus zur Konfliktlösung ist."

Der Ablauf der Expertenversammlung in Trinidad folgt größtenteils den Vereinbarungen des am 28. Oktober in Cochabamba abgehaltenen "Plurinationalen Treffen für einen Zensus und Konsens". Neu ist, dass jede teilnehmende Delegation eine Person bei der Kommission akkreditieren lassen kann. Auch nehmen diesmal internationale Vertreter:innen des Centro Latinoamericano de Demografía (Celade) sowie des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) teil.

Von den weit über 700 eingereichten Tagespunkten konnten bis Sonntagabend erst knapp die Hälfte besprochen werden. Nachdem die Sitzung am Montagabend für die Gruppenfindung einzelner Arbeitsbereiche wie Personalrekrutierung und statistischer Kartographierung unterbrochen wurde, werden seit Dienstag Möglichkeiten einer Verkürzung der Terminfrist diskutiert.

Präsident Arce hatte zur Eröffnung der Versammlung am Freitag verkündet, er werde das auf der Konferenz beschlossene Datum per Dekret als verbindlich festschreiben. Damit möchte er auch die weitere, von der rechten Opposition betriebene Politisierung der Volkszählung beenden.

Unterdessen hat Camacho zusammen mit dem Präsidenten des Comité pro Santa Cruz, Rómulo Calvo, zu einem landesweiten Streik aufgerufen. Ab Montag sollte es nach ihrem Willen im ganzen Land Straßensperrungen und Proteste geben. In Tarija kam es am Montagmorgen zu ersten Zusammenstößen zwischen Befürwörter:innen und Gegner:innen des Zensus. In Cochabamba traten Abgeordnete der Partei Comunidad Ciudadana (CC) in einen Hungerstreik, um den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Die Präsidentin des Zivilkomitees Potosí verkündete derweil, dass sich das Departamento Potosí ab dem 13. November den Protesten anschließen werde.

Trotz einzelner Vorkommnisse blieb ein landesweiter Streik bislang aber aus. Vielmehr kam es zu Solidaritätskundgebungen für die Politik des Präsidenten durch Vertreter:innen von Sozialorganisationen, Gewerkschaften und indigenen Verbänden.

Die ausgebliebene Resonanz auf Camachos Aufruf wird bereits als herber Rückschlag für ihn und die ultrarechten Komitees gedeutet.

Die Regierung, wie auch die Mehrheit der Bevölkerung, beabsichtigt weiterhin eine konstruktive und demokratische Lösung des Streits, um den fortdauernden Konflikt um die Volkszählung und die damit verbundenen Unruhen und Konfrontationslinien zwischen der rechten wirtschaftsstarken Opposition in Santa Cruz und der linken Regierung der MAS (Moviemiento al Socialismo) beenden zu können. Hierfür werden die Ergebnisse der Expertenversammlung, das damit einhergehende Dekret sowie die parteiübergreifende und gesellschaftliche Akzeptanz von entscheidender Bedeutung sein.