Gegen das Imperium der Überwachung

Ignacio Ramonet sprach mit Noam Chomsky über die Entwicklungen in Lateinamerika, die Politik der USA und Massenkommunikation

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Noam Chomsky beim Interview mit Ignacio Ramonet, das am 13. März für das öffentlich-rechtliche Fernsehen Argentiniens in Buenos Aires durchgeführt wurde
Noam Chomsky beim Interview mit Ignacio Ramonet, das am 13. März für das öffentlich-rechtliche Fernsehen Argentiniens in Buenos Aires durchgeführt wurde

In Buenos Aires, Argentinien, fand vom 12. bis 14. März dieses Jahres ein Internationales Forum für Emanzipation und Gleichberechtigung statt, das vom Kulturministerium und vom Sekretär für die Strategische Koordination des Nationalen Denkens, Ricardo Foster, organisiert wurde und namhafte Vertreter aus den USA, Lateinamerika und Europa versammelte. Es ging dabei darum, über die aktuelle Lage in Lateinamerika und darüber hinaus in einigen europäischen Ländern zu debattieren, wo neue politische Organisationen wie Syriza (Griechenland) und Podemos (Spanien), die mit den progressiven Prozessen in Lateinamerika vertraut sind, nun versuchen, einen Wandel herbeizuführen und Lösungen für soziale Inklusion und gegen die Austeritätspolitik zu finden.

Im Rahmen dieses außergewöhnlichen Treffens konnten wir unseren US-amerikanischen Freund Noam Chomsky interviewen, einen der bekanntesten Intellektuellen der Welt und einen Mann, der seit Jahren Wege hin zu einer gerechteren und gewaltfreien Welt sucht.


Ignacio Ramonet: Noam, am 9. März erließ Barack Obama eine "executive order" und rief den "nationalen Notstand" aufgrund der "ungewöhnlichen und außerordentlichen Bedrohung" Venezuelas für die "nationale Sicherheit" seines Landes aus. Was halten Sie von dieser Erklärung?

Noam Chomsky: Wir müssen vorsichtig sein und zwei Teile in dieser Erklärung unterscheiden. Auf der einen Seite eine reale Tatsache, nämlich die Belegung sieben venezolanischer Funktionäre mit Sanktionen. Auf der anderen Seite einen eher technischen Aspekt, nämlich die Beschaffenheit US-amerikanischer Gesetze. Wenn ein Präsident Sanktionen verhängen möchte, muss er diese lächerliche Erklärung abgeben, dass es "eine Bedrohung der nationalen Sicherheit und der Existenz der USA" durch den einen oder anderen Staat gebe. Das ist ein technischer Aspekt des US-amerikanischen Rechts, der so lächerlich ist, dass er eigentlich nie hervorgehoben wurde. Diesmal betonte man ihn, weil es um Lateinamerika geht. In der üblichen Erklärung wird dieser ganze Kontext aber fast nie erwähnt, und ich glaube, es ist das neunte Mal, dass Obama sich auf eine "Bedrohung der nationalen Sicherheit und der Existenz der USA" beruft, denn das ist der einzige ihm zur Verfügung stehende gesetzliche Mechanismus, um Sanktionen zu verhängen. Anders ausgedrückt: Was zählt, sind die Sanktionen. Der Rest ist eine absurde Formalität, eine obsolete Rhetorik, auf die wir verzichten können und die eigentlich nichts aussagt.

Obwohl, in einigen Fällen doch. Zum Beispiel berief sich Ronald Reagan 1985 auf dasselbe Gesetz, als er sagte: "Der Staat Nicaragua ist eine Bedrohung für die nationale Sicherheit und Existenz der Vereinigten Staaten". Aber in diesem Fall stimmte das, denn das passierte in einem Moment, in dem der Internationale Gerichtshof (IGH) angeordnet hatte, dass die USA ihren Angriffen gegen Nicaragua mithilfe des unangemessenen Einsatzes der sogenannten Contras gegen die sandinistische Regierung Einhalt gebiete. Washington ignorierte das. Daraufhin veröffentlichte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution, die forderte, dass "alle Staaten" internationales Recht respektierten. Es wurde niemand Bestimmtes erwähnt, aber alle wussten, dass die USA gemeint waren. Der IGH forderte, dass die USA dem internationalen Terrorismus gegen Nicaragua ein Ende machten und wichtige Reparationen an Managua tätigten. Aber der US-Kongress erhöhte im Gegenzug die Mittel der Kräfte [der Contras], die, von Washington finanziert, Nicaragua angriffen.

Anders ausgedrückt, die Regierung von Reagan widersetzte sich dem IGH und setzte sich über dessen Forderungen hinweg. In diesem Moment zog sich Reagan seine Cowboystiefel an und erklärte Nicaragua zu einer "Bedrohung der Vereinigten Staaten". Sie werden sich an seine berühmte Rede erinnern, in der er davon sprach, dass "die Panzer von Nicaragua nur zwei Tage Fußmarsch von Texas" entfernt seien. Er verkündete eine "imminente Bedrohung". Nun gut, für Reagan war jene "Bedrohung" real. Aber heute nicht: Obamas Erklärung ist eine Rhetorik, oder sagen wir, ein technischer Ausdruck. Natürlich versucht man zusätzlich, der Erklärung einen dramatischen Beiklang zu geben, um die venezolanische Regierung zu untergraben. Das ist etwas, was Washington in solchen Fällen fast immer tut.

Ignacio Ramonet: Sie haben den Präsidenten Hugo Chávez kennengelernt. Und Chávez bewunderte Sie sehr. Er lobte einige Ihrer Bücher. Welche Erinnerungen haben Sie an ihn, und wie schätzen Sie ihn als Regierenden ein, insbesondere im Hinblick auf seine Rolle für Lateinamerika?

Noam Chomsky: Ich muss gestehen, dass sich mein Buch [Hybris. Die endgültige Sicherung der globalen Vormachtstellung der USA], nachdem Präsident Chávez es bei den Vereinten Nationen (UN) gezeigt hatte, sehr gut bei Amazon.com verkaufte [lacht]. Ein Freund von mir, ein Dichter, sagte, das Buch wäre bis dahin unter den Untersten im Ranking von Amazon gewesen, und plötzlich wären Tausende gekauft worden. Dann fragte er mich, ob Präsident Chávez nicht auch eines seiner Bücher bei den UN zeigen könnte. [Lachen]. Nun gut, ich habe mit Chávez ein paar Mal im Präsidentenpalast geredet, mehr aber auch nicht. Ich war mit einem Freund in Caracas, und wir sprachen mit Chávez im Grunde genommen darüber, wie er an die Macht gekommen war, wie die USA darauf reagierten, und über viele andere Dinge dieser Art.

Chávez unternahm sehr wichtige Anstrengungen, um substanzielle Änderungen in Venezuela und seiner Beziehung zur Welt einzuleiten. Eine seiner ersten Errungenschaften war es, dass die Organisation der Erdöl exportierenden Länder (OPEC), die fast das Erdölmonopol innehatte, die Produktion verringerte, sodass die Barrelpreise anstiegen. Ihm zufolge war das der Moment, an dem die USA sich definitiv gegen Venezuela ausrichteten. Davor hatten sie ihn toleriert. Chávez machte noch vieles mehr: Er versorgte Kuba und andere karibische Staaten zu niedrigen Preisen mit Erdöl, unternahm Anstrengungen zur Verbesserung des Gesundheitssystems, zur Armutsbekämpfung und startete die "Misiones", große Projekte, die den bescheidenen Bevölkerungsteilen zugutekamen. Damit hatte er einen gewissen Grad an Erfolg, aber er musste auch mit enormen Schwierigkeiten umgehen, insbesondere mit der Inkompetenz, der Korruption, der Art der Aufstandsbekämpfung etc. Das Endresultat ist eine schwierige Lage im Inneren Venezuelas. Und das größte Problem – das nicht überwunden ist und das ein Problem für Lateinamerika insgesamt ist – ist, dass all diese Länder von einem nicht nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklungsmodell abhängen, das auf dem Export von Rohstoffen basiert. Ein Land kann dies auf sich nehmen – Argentinien und Brasilien wissen das –, wenn die Wirtschaft so diversifiziert ist, dass sich eine wirklich komplexe Industrie entwickeln kann. Aber eine Industrie, die ausschließlich auf Landwirtschafts- oder Bergbauprodukten basiert, ist kein nachhaltiges Modell.

Nehmen Sie einmal die entwickelten Länder, begonnen bei England, den USA und anderen: Alle haben ursprünglich mit dem Export von Basisprodukten angefangen. Zum Beispiel konnten sich die USA entwickeln, da sie nahezu das Monopol über eines der wichtigsten Basisprodukte des 19. Jahrhunderts hatten, der Baumwolle, die in Sklavenplantagen produziert wurde, mit Lagern, die die Nazis beeindruckt hätten, hätten sie sie sehen können. Und so schafften es die USA, die Produktivität der Baumwolle schneller zu steigern als die Industrie, und das ohne technische Innovation, abgesehen von den Peitschen, mit denen die Sklaven gefoltert wurden. Mit dem intensiven Einsatz von Folter und anderen grauenvollen Maßnahmen stieg die Baumwollproduktion massiv an, wodurch die Sklavenhalter sich natürlich bereicherten, aber sich auch das Fabriksystem entwickelte.

Denken Sie zum Beispiel an den Nordosten der USA: Wo sich heute die wichtigsten Fabriken befinden, wurde damals Baumwolle zu Stoff verarbeitet. Das Gleiche geschah in England. Die Engländer importierten Baumwolle aus den USA und entwickelten ihre ersten Fabriken. Und das ermöglichte ebenso die Expansion des Finanzsystems, was ein äußerst komplexes Unterfangen mit Geldanleihen und anderen finanziellen Operationen war. Und all das auf Grundlage des Anbaus von Baumwolle: ein Handelssystem, ein Industriesystem, ein Finanzsystem. Die USA respektierten – genauso wenig wie andere entwickelte Länder – nicht, was man heute "gesunde Wirtschaft" nennt. Sie verstießen gegen dieselben Prinzipien, die sie heute predigen, und es existierten hohe Zölle und andere protektionistische Mechanismen. Und das ging so bis zum Jahr 1945, als die USA die industrielle Stahlproduktion etc. entwickeln konnten. So lässt sich Entwicklung umsetzen.

Wenn ein Land sich auf den Export von primären Rohstoffen beschränkt, wird es scheitern. Und genau das passiert in Venezuela. Die Wirtschaft hängt weiterhin schrecklich von der Erdölausfuhr ab. Dieses Modell ist nicht nachhaltig. Und das Gleiche gilt für eine Wirtschaft, die nur auf dem Export von Soja oder anderen Landwirtschaftsprodukten basiert. Was bedeutet, dass wir ein anderes Entwicklungsformat durchlaufen müssen, als es England, die USA und andere europäische Staaten gemacht haben. Wie auch Frankreich zum Beispiel: 20 Prozent des Reichtums von Frankreich waren das Ergebnis der Folter der Haitianer, die bis heute bedauerlicherweise andauert. Und genauso verlief die Entwicklungsgeschichte anderer Kolonialstaaten.

Venezuela hat diese Klippe nicht überwunden. Und es hat schwerwiegende interne Probleme, die die USA natürlich verschärfen wollen. Ich denke, die Sanktionen sind ein Versuch, dies zu erreichen. Meiner Meinung nach wäre Venezuela gut beraten, sie einfach zu ignorieren. Natürlich gehen die Sanktionen nicht einfach so an Venezuela vorbei, denn sie sind real. Aber was man ignorieren könnte, wäre das, was Sie erwähnt haben: diese lächerliche Behauptung, Venezuela sei eine "Bedrohung für die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten". Es ist wichtig zu wiederholen, dass sie an sich nichts bedeutet. Wie gesagt, ist das bloß ein formaler Ausdruck. Nicht einmal die Medien betonten das in den USA. Das Wichtige ist die Reaktion, die in diesem Fall von Lateinamerika ausging.

Ignacio Ramonet: Am 17. Dezember des vergangenen Jahres gaben sowohl Präsident Barack Obama als auch Präsident Raúl Castro, jeder für sich, eine Erklärung ab, in der sie die Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA ankündigten. In seiner Erklärung anerkannte Präsident Obama, dass 50 Jahre US-amerikanische Unterdrückungspolitik, inklusive der Wirtschaftsblockade, keine Wirkung gezeigt haben und dass es einen Politikwechsel braucht. Was halten Sie von der Normalisierung der Beziehungen zwischen Kuba und den USA? Und wie sehen Sie die Entwicklung der Beziehungen zwischen Havanna und Washington und ihren Einfluss auf Lateinamerika als Ganzes?

Noam Chomsky: Eine kleine Korrektur. Es handelt sich nicht um eine "Normalisierung". Es ist zuallererst ein Schritt, der so etwas wie einer "Normalisierung" vorausgehen könnte. Denn das Embargo, die Beschränkungen, das Verbot, frei von einem Land ins andere zu reisen etc., all dies ist nicht verschwunden. Aber in der Tat war es ein Schritt in Richtung Normalisierung, und es ist interessant zu sehen, mit welcher Rhetorik Obama aktuell analysiert und auftritt. Er sagte, dass 50 Jahre, in denen wir versucht haben, "Demokratie, Freiheit und Menschenrechte nach Kuba zu bringen", vergeblich waren. Und dass andere Länder leider nicht unsere Bemühungen unterstützt haben, sodass wir andere Formen finden müssen, mit denen wir unser Eintreten für die Durchsetzung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten, die unsere gütige Politik in der Welt prägen, weiterführen können. So oder ähnlich hat er das gesagt.

Wer George Orwell gelesen hat, weiß, dass man den Diskurs einer Regierung in klare Sprache übersetzen muss. Was Obama gesagt hat, bedeutet Folgendes: 50 Jahre lang haben wir einen groß angelegten Terrorismus ausgeübt, einen Wirtschaftskampf ohne Erbarmen geführt, der die USA total isoliert hat. Wir haben es in diesen 50 Jahren nicht geschafft, die Regierung von Kuba abzusetzen, daher: Wie wär‘s mit einer anderen Lösung? Das ist die Übersetzung des Gesagten, das ist, was es wirklich bedeutet oder was man auf Englisch oder Spanisch sagen kann.

Und wir sollten auch daran denken, dass die meisten Fragen dieser Art in den nordamerikanischen und sogar europäischen Debatten verschwiegen werden. In der Wirklichkeit führten die USA unter der Präsidentschaft von John F. Kennedy eine schwere Terrorismuskampagne gegen Kuba, der Terrorismus war damals extrem. Es gab Debatten über Mordversuche an Fidel Castro, petrochemische Einrichtungen wurden angegriffen, Hotels – von denen man wusste, dass dort Russen untergebracht waren – wurden bombardiert, Vieh wurde getötet etc. In anderen Worten eine große Kampagne, die viele Jahre andauerte. Und mehr noch: Nachdem die USA ihren direkten Terrorismus beendeten, kam der – sagen wir – Unterstützungsterrorismus, der in den 1990ern in Miami seine Basis hatte. Außerdem, erhielt der Wirtschaftskrieg, der von Eisenhower initiiert wurde, erst richtigen Antrieb während der Kennedy-Ära und wurde danach intensiviert. Der Vorwand für diesen Wirtschaftskrieg war nicht die "Errichtung von Demokratie" oder die "Einführung von Menschenrechten", sondern die Bestrafung Kubas für dessen Allianz mit dem großen Satan, der Sowjetunion. Denn klar, "wir mussten uns beschützen", genauso wie wir uns vor Nicaragua "beschützen mussten" und vor anderen Ländern.

Was passierte mit dem Embargo, als die Sowjetunion zusammenbrach? Die Blockade wurde verschärft. Clinton besiegte George Bush sr., um die Blockade sogar noch um ein Vielfaches zu verstärken. Etwas Seltsames für einen liberalen Senator aus New Jersey1. Später wurden die Bemühungen, die kubanische Ökonomie zu strangulieren und zu zerstören, noch weiter intensiviert. All das hatte offensichtlich nichts mit Demokratie oder Menschenrechten zu tun. Und das ist nicht einmal lustig.

Man muss sich nur einmal anschauen, welche gewaltsamen, terroristischen Diktaturen in Lateinamerika von den USA unterstützt wurden, nicht nur unterstützt, sondern auch durchgesetzt wurden. Wie im Fall von Argentinien, wo die USA die stärkste Stütze der Diktatur waren. Als die Regierung von Guatemala einen regelrechten Genozid verübte, wollte Reagan sie unterstützen. Aber der Kongress hatte ihm Beschränkungen auferlegt. Deshalb sagte er: "Na gut, dann machen wir's in Argentinien und verwandeln die argentinischen Militärs in Neonazis, damit sie das tun, was wir wollen." Leider wurde Argentinien später eine Demokratie, wodurch die Vereinigten Staaten ihren damaligen Rückhalt verloren. Deshalb griffen sie für das Training der terroristischen Armeen in Guatemala auf Israel zurück.

Aber schon seit Beginn der 1960er-Jahre gab es eine riesige Repressionswelle in ganz Lateinamerika, in Brasilien, Uruguay, Chile, Argentinien etc. bis Mittelamerika. An all diesen Kommandos waren die USA direkt beteiligt. Und davor auch und heute immer noch. Zum Beispiel ist Obama praktisch der einzige Staatschef, der 2009 den Putsch in Honduras unterstützte, welcher die konstitutionelle Regierung [von Manuel Zelaya] stürzte und eine Militärdiktatur einführte, die die USA anerkannten.

In anderen Worten: Wir können das Gerede über Demokratie und Menschenrechte beiseitelassen, das ist völlig irrelevant. Es ging darum, die Regierung zu zerstören. Und wir wissen, warum. Einer der Vorteile der USA ist, dass es sich in vielerlei Hinsicht um eine freie Gesellschaft handelt, in der es interne Aufzeichnungen gibt, die publiziert wurden und genau dokumentieren, welche internen Beratungen stattfanden, sodass man im Bilde ist, was tatsächlich passierte.

Ignacio Ramonet: 1999 tauchte Hugo Chávez in Venezuela auf und eine Reihe von Ländern gab sich antineoliberale Programme, mehrere progressive Regierungen traten in Lateinamerika auf, nach Venezuela zuerst in Brasilien mit Lula, danach in Bolivien mit Evo Morales, später in Ecuador mit Rafael Correa, dann in Argentinien mit Nestor Kirchner, in Uruguay mit Tabaré Vázquez und Pepe Mujica. Das hat sich über Lateinamerika verbreitet, und in der Tat hat sich Lateinamerika, wie Sie gerade sagten, ein wenig aus den Fängen der USA befreit. Ich würde Sie erstens gern fragen, welche Meinung Sie von diesen progressiven Regierungen im Allgemeinen in Lateinamerika haben? Und zweitens, wie konnte es dazu kommen, dass die USA in Lateinamerika auf diese Art Einfluss verlieren?

Noam Chomsky: Was Sie gerade beschrieben haben, sind Ereignisse von höchster Wichtigkeit in diesem Erdteil, von wahrlich historischer Relevanz. Man halte sich das einmal vor Augen: 500 Jahre lang wurde Lateinamerika mehr oder weniger von westlichen imperialistischen Mächten kontrolliert, im 20. Jahrhundert vor allem von den USA, und davor gab es andere. In Lateinamerika sah sich die eingeborene Bevölkerung der Kontrolle einer kleinen, vornehmlich weißen, sehr reichen Elite ausgesetzt. Diese Eliten waren damals sozusagen Fremde im ihren eigenen Land: Sie exportierten Kapital nach Europa und sandten ihre Kinder beispielsweise in die USA. Das eigene Land kümmerte sie nicht.

Die Beziehungen zwischen den lateinamerikanischen Ländern waren sehr begrenzt. Jede Elite eines Landes orientierte sich in Richtung Westen und hatte imperialistisches Gedankengut. Es gab gewisse Unterschiede, aber so war im Allgemeinen die typische Situation. Und naja, so läuft das auf verschiedene Weisen seit 500 Jahren. Aber 1999 begann sich die Situation zu ändern. Was Sie beschreiben, ist ein fundamentaler Wandel, ein historischer Einschnitt. Die Vereinigten Staaten sind natürlich das einflussreichste Land auf der Welt, aber sie haben nicht mehr die überwältigende Stärke wie früher, mit der sie Regierungen zerstören und Militärdiktaturen errichten konnten, wo es ihnen gerade passte. Denken wir zum Beispiel an die letzten 15 Jahre. Da gab es so einige Staatsstreiche: einen Putschversuch 2002 in Venezuela, naja – einer der, sagen wir mal, nicht länger als zwei Tage anhielt. Die USA unterstützten ihn voll und ganz, aber sie hatten nicht genug Macht, um eine neue Regierung einzusetzen. Einen weiteren gab es 2004 in Haiti; die Folterer von Haiti, Frankreich und die USA koordinierten die Entführung von Präsident Aristide, schickten ihn in die Mitte von Afrika und hielten ihn dort versteckt fest, damit er nicht einmal an den Wahlen teilnehmen konnte. Nun ja, dieser Versuch war erfolgreich, aber Haiti ist auch ein sehr schwaches Land. Einen anderen Fall gab es 2009 in Honduras – auch mit Obama: Die Militärs entledigten sich damals dort der verfassungsmäßigen Regierung. Dort [gab es] eine "demokratische Ausrede" für den Umsturz, und Washington weigerte sich, ihn als Militärputsch zu verurteilen. Aber es stellte sich heraus, dass die USA mit ihrer Unterstützung dieses erfolgreichen Militärputsches isoliert waren. Jetzt ist dieses Land ein totales Desaster. Es hat eine schreckliche – die schlechteste – Menschenrechtsbilanz. Auch was die Einwanderung in die USA angeht, die ein großes Thema ist, sieht man nun, dass die Mehrheit aus Honduras kommt, weil dieses Land von dem Staatsstreich zerstört wurde, den Washington unterstützte.

Insgesamt verzeichnet man also ein paar Erfolgsfälle, um das einmal so auszudrücken, aber nicht wie in der Vergangenheit, nicht wie früher. Lateinamerika hat mittlerweile einen großen Schritt nach vorn hin zu einem gewissen Grad an Unabhängigkeit gemacht. Das ist der richtige Weg nach vorn. Mit Unasur, Mercosur, Celac gibt es verschiedene Gruppen, die die zunehmende Integration repräsentieren. Die Celac [Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten] ist etwas gänzlich Neues, denn die USA und Kanada sind davon ausgeschlossen, und das ist etwas, was sich vor ein paar Jahren noch niemand hätte vorstellen können.

Das alles wird auf verschiedene Weise deutlich. Vor Kurzem gab es einen sehr interessanten Bericht über etwas, was wir die "schlimmste Folter der Welt" nennen könnten: Man nimmt jemanden fest und schickt ihn in die grausamste Militärdiktatur, um ihn dort straflos foltern zu lassen und so an die gewünschte Information zu kommen. Das ist die schlimmste Form der Folter. Die USA machen das seit vielen Jahren. In einer Studie hat man versucht herauszufinden, welche Länder dabei kooperiert haben. Ohne Frage die Länder des Nahen Ostens, dort schickt man die Leute hin, um sie zu foltern: Das hat man schon mit al-Assad in Syrien, mit Mubarak in Ägypten und, naja, mit Gaddafi in Libyen gemacht, nicht wahr? Und die Mehrzahl der europäischen Länder hat sich beteiligt, England, Schweden, Frankreich und all diese Länder. Allerdings gab es eine Region der Welt, von der sich kein Land beteiligt hat: Lateinamerika. Und das ist wirklich auffällig und sehr, sehr interessant. Unter der Kontrolle der USA war Lateinamerika ein globales Folterzentrum. Jetzt haben sie sich geweigert, an diesem schrecklichen Spiel mitzuwirken, an dieser Art der Folter, die von den USA implementiert wurde. Das ist eine signifikante Veränderung, ein wirklich ausschlaggebendes Signal. Es hat in Lateinamerika also gewisse, zumindest teilweise Erfolgsfälle gegeben. Lateinamerika hat so gesehen den Widerstand gegen das neoliberale Projekt angeführt. Es gab auch andere Erfolge, obgleich natürlich noch ein langer Weg bevorsteht.

Ignacio Ramonet: Eine Reflexion über die Außenpolitik der Vereinigten Staaten in Bezug auf ihre Rivalität mit China. Denken Sie wie einige Analysten, dass China der große strategische Konkurrent der Vereinigten Staaten im 21. Jahrhundert sein wird? Und welche Auswirkungen kann das auf den Lauf der Welt im Allgemeinen und für das Schicksal der Vereinigten Staaten haben?

Noam Chomsky: China entwickelt sich sehr effizient. Das fing 1949 an, als China seine Unabhängigkeit erlangte. Es gibt einen Ausdruck dafür im nordamerikanischen Diskurs: Man nennt es "den Verlust von China". Das ist sehr interessant: "Der Verlust von China". Man kann nichts verlieren, was man nie besessen hat. Aber in den USA gehen wir davon aus, dass wir die Herrscher der Welt sind, und wenn sich ein Land von unserer Seite entfernt, "verlieren" wir dieses.

China ist heute ein Offshore-Produzent der nordamerikanischen Fabriken. Die größten US-amerikanischen Unternehmen produzieren in China, importieren aus China. Das heißt, unsere größten Unternehmen importieren billige Güter aus China und erzielen außergewöhnliche Gewinne. Eine US-amerikanische Firma kann über eine unterdrückte, sehr günstige Arbeitskraft verfügen, die vom Staat direkt kontrolliert wird, man muss sich nicht um Umweltverschmutzung und andere Dinge scheren: Das ist eine sehr kluge Art, Geld zu verdienen. Und deshalb gibt es sehr starke Handels-, Finanz- und Industriebeziehungen.

Gleichzeitig hat China die natürlichen Ambitionen einer Supermacht. China ist zum Beispiel, wenn Sie sich die Landkarte anschauen, im Osten von einer Reihe US-amerikanischer Protektorate umringt, die ihre territorialen Gewässer kontrollieren. Das gefällt China nicht. Die Chinesen wollen über ihre eigenen Gewässer Offshore expandieren. Und so entsteht ein potenziell ziemlich ernst zu nehmender Konflikt zwischen China auf der einen und den USA und Japan auf der anderen Seite. Und dieser Konflikt betrifft das gesamte Gebiet des Westpazifiks. Das ist eine Region, in der Japan während seiner Kaiserzeit alle seine Macht konzentrierte. Und es kontrolliert weiterhin einen beträchtlichen Teil. Was China nicht gefällt. Im Moment fliegen die japanischen und chinesischen Jagdflugzeuge kontinuierlich über Inseln, die von keinem Interesse sind. Diese Dinge könnten in einem gegebenen Moment zu einem Krieg führen. Das Gleiche passiert zwischen den USA und China. Obamas Außenpolitik ist ein Dreh- und Angelpunkt für Asien. Diese besteht darin, Militär nach Australien zu schicken und eine enorme Militärbasis auf einer Insel nahe China zu errichten. Sie sagen nicht, dass es eine Militärbasis ist, aber sicher ist es eine. Die USA besitzen, wenige Kilometer von China entfernt, die Basis von Okinawa, dessen Bevölkerung sich geschlossen dieser Militärbasis widersetzt. Japan kontrolliert dieses Territorium, und die USA möchten die Basen in dieser Zone beibehalten. Sie bauen neue Basen und expandieren gegen den großen Widerstand der Bevölkerung und von China, die das alles als Bedrohung auffassen und damit recht haben.

Anders ausgedrückt, es gibt eine potenzielle Konfrontation nicht nur mit den USA, sondern auch mit den Nachbarländern wie den Philippinen, Vietnam und natürlich Japan. Das ist ein Spannungsproblem. Und auf hintergründiger Ebene gibt es auch ein Wirtschaftsproblem, eine riesiges Beziehungsgeflecht von Wirtschaft, Produktion, Finanzen, Import etc. Das wird sicher weiterhin ein überaus wichtiges Thema in internationalen Angelegenheiten sein.

Nichtsdestotrotz hat man viel über die neue Macht Chinas im 21. Jahrhundert gesprochen. Ich glaube, man übertreibt da über die Maßen. Das Wachstum Chinas war jahrelang stark, aber es bleibt ein überaus armes Land. Schauen Sie sich zum Beispiel den Index der menschlichen Entwicklung der UN an: Da ist China, glaube ich, auf 90. Position und bewegt sich davon auch nicht fort. Das Land hat wichtige interne Probleme, die Arbeiterbewegung ist dabei, ihre Ketten abzulegen, es gibt viele Streiks, Proteste, immense Umweltprobleme, die Leute sprechen von Verschmutzung, aber es ist viel schlimmer: Die begrenzten landwirtschaftlichen Ressourcen werden zerstört; man steht hier außerordentlichen Problemen gegenüber, die die USA und Europa nicht haben. Und es gibt weiterhin enorme Armut. China ist nicht kurz davor, zu einer hegemonialen Macht zu werden. Auf diese Art schiebt der Druck der USA und Japans auf China vom Osten aus das Land Richtung Zentralasien, eine der wichtigsten letzten Entwicklungen der weltweiten Beziehungen ist die Errichtung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Engl. SCO) mit Sitz in China, die allerdings auch Russland, die zentralasiatischen Staaten und Indien sowie Iran als Beobachter beinhaltet. China schiebt sich auch in Richtung Türkei und wird vielleicht in Richtung Europa expandieren, mit dem man so etwas wie die "Seidenstraße", die alte Seitenstraße, die von China ausging und nach Europa führte, wiederherstellen könnte. Washington gefällt das nicht. Die USA haben darum gebeten, Beobachter im Kreise der SCO werden zu dürfen, aber das wurde abgelehnt; diesen Status haben Iran und andere Länder, aber den USA hat man das verwehrt. Tatsächlich hat die SCO gebeten, dass alle nordamerikanischen Militärbasen in Zentralasien abgezogen werden.

Asien hat große Ressourcen, die aktuelle Konfrontation mit Russland drängt den Kreml dazu, engere Beziehungen mit China einzugehen, in denen China die dominantere Macht ist. Aber das ist sozusagen wie eine natürliche Entwicklung. Der östliche Teil Russlands hat große Bodenschätze, Mineralien, Öl etc. Das könnte China und Russland sogar noch enger zusammenbringen. Man kann ein fröhliches und immer besser und enger werdendes eurasisches Zusammenspiel beobachten. Zum Beispiel kann man heute einen Hochgeschwindigkeitszug von China nach Kasachstan nehmen, aber keinen Hochgeschwindigkeitszug von Boston nach Europa, aber dafür von Peking nach Kasachstan. Das ist Teil der Entwicklung, die wir beobachten, und die ist ganz schön stark; einige US-amerikanische Strategen sehen das [die SCO] schon als Nato mit Basis in China. Vielleicht ist sie das. Vielleicht. In diesem Fall gäbe es große Fortschritte, und Sie hätten recht damit zu sagen, dass das potenzielle Gefahrenherde in internationalen Angelegenheiten sind.

Ignacio Ramonet: Ich würde Ihnen jetzt gern zwei Fragen zur Massenkommunikation stellen. Die erste bezieht sich auf die tiefe Beunruhigung über die Krise der Printmedien. Es gibt eine enorme Krise der Printpresse, viele Zeitungen verschwinden, viele Journalisten verlieren ihre Arbeit. Und die Frage ist: Wird der Journalismus in Papierform weiterhin existieren? Welche Folgen kann das Verschwinden des Printjournalismus haben?

Noam Chomsky: Ich glaube nicht, dass es unausweichlich ist. Es gibt einige interessante Ausnahmen. Zum Beispiel in Mexiko. Ich glaube, "La Jornada" ist dort die zweitwichtigste Tageszeitung, die sehr viel gelesen wird, obwohl die Unternehmerschicht sie absolut nicht mag, weshalb sie keine Werbung erhält, zumindest keine Markenwerbung. Aber von der Regierung schon, denn das mexikanische Gesetz erfordert das, es verlangt, dass die Regierung ihre Werbung in allen Tageszeitungen veröffentlicht. Diese Zeitung überlebt, ich habe viele Menschen gesehen, die sie lesen. Von dem, was ich gelesen habe, denke ich, ist "La Jornada" eine Tageszeitung von guter Qualität und sie überlebt. Ich glaube, das ist nichts völlig Unmögliches.

In der Erklärung der Menschenrechte der UN spricht einer der Artikel, ich glaube der 19., von der Pressefreiheit. Darin steht, dass die Pressefreiheit aus zwei Teilen besteht: dem Recht, Informationen ohne Regierungskontrolle zu generieren, aber auch dem Recht, Informationen zu erhalten und die Möglichkeit zu haben, Informationen frei zu generieren. Das bedeutet also ohne Konzentration von Kapital. Die reiche, komplexe und unabhängige Presse des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts ist zwei Elementen erlegen: erstens der Konzentration von Kapital, was bedeutete, das sich große Mengen an Kapital in die kommerzielle private Presse einmischten. Und zweitens der Abhängigkeit von Werbung. Ist man abhängig von Werbung, gewinnen die Inserenten Einfluss auf die Zeitung. Die moderne Tageszeitung heute ist ein Geschäft, und wie jedes Geschäft muss sie ein Produkt generieren, das seinen Markt hat. Dieser Markt sind andere Unternehmen, die Werbung machen, und die Produkte sind die Leser. Aber die Produkte unterhalten eine Tageszeitung nicht. Heute verkauft eine Zeitung ihre Leser an die Werbefirmen, und genauso ist das im Fernsehen. Man bezahlt nicht, wenn man den Fernseher anschaltet, sondern das Unternehmen, der Fernsehkanal, verkauft sein Publikum an seine Werbeagenturen. In diesem Bereich konzentrieren sich die größten Anstrengungen, die größte Kreativität: in der Werbung. In der Fernsehindustrie ist die Werbung der wahre Inhalt. Die Geschichten sind lediglich eine Füllung, die die Leute zwischen zwei Werbeblöcken sehen. Das ist die grundlegende Struktur des kommerziellen Fernsehens.

In der Printpresse gibt es einen Begriff: das "news hole" [Dt. Nachrichtenloch]. Wie stellt man das her? Zuerst setzt man die Werbung, nicht wahr, das Wichtige, und danach füllt man hier und da die Lücken mit Nachrichten [Lachen]. Das ist der natürliche Aufbau der kommerziellen Kommunikationsmedien. Dieses Thema ist schon seit Jahrhunderten ein Schlachtfeld. Und was wir kürzlich in Argentinien gesehen haben: Heißt das vielleicht, dass die Pressefreiheit lediglich die Freiheit der privaten Unternehmen bedeutet, zu machen, worauf sie Lust haben? Oder müsste unter Pressefreiheit auch verstanden werden, was in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen steht, nämlich das Recht der Menschen, Informationen aus vielfältigen Quellen zu erhalten und die Möglichkeit zu haben, auf Grundlage vieler Quellen Informationen zu sammeln, zu erzeugen und zu produzieren?

Ihre Frage bezüglich der Printmedien stellt sich in diesem Kontext. Es könnte Printmedien geben, die voller Leben sind, aber Voraussetzung ist ein öffentliches Verantwortungsbewusstsein. Und wenn man von Regierungsgeldern spricht, heißt das bei einer demokratischen Regierung, öffentliche Gelder. Es heißt, dass die Öffentlichkeit diejenige ist, die daran mitwirkt, eine Umgebung zu garantieren, in der Informationen durch eine Vielzahl von Quellen verfügbar sind, und dass viele verschiedene Gruppen die Möglichkeit haben, ihre eigenen Fakten, Interpretationen, Analysen und Ermittlungen etc. zu präsentieren. Das wäre eine reichhaltige Version von Pressefreiheit. Die kann man erreichen, aber wie für alle Demokratisierungsformen bedarf es der öffentlichen Mobilisierung. Die privaten Firmen werden das Unmögliche unternehmen, um das zu verhindern. Das wissen die Argentinier gut. Aber das passiert überall.

Ignacio Ramonet: Kürzlich waren Sie in London und haben Julian Assange, den Gründer von Wikileaks, in der Botschaft von Ecuador besucht – ich war ein paar Tage vorher bei ihm. Er und Edward Snowden haben mit ihren Enthüllungen die Dimensionen des Überwachungssystems aufgezeigt und konnten einige Aktionen der Staaten sowie die Macht der Staaten in puncto Überwachung und Vertuschung von Informationen ans Licht bringen. Anders ausgedrückt, haben Wikileaks auf der einen Seite und Whistleblower wie Snowden auf der anderen mithilfe des Internets, der sozialen Netzwerke uns viel über das Thema von Informationen aufgeklärt. Denken Sie, dass diese neue Art von Journalismus etwas ist, was sich in der nahen Zukunft in Sachen Kommunikation und intellektuelle Kommunikation entwickeln und zur Bewusstseinsbildung der Bürger beitragen wird?

Noam Chomsky: Die Antwort ist, wie bei den meisten Fragen, dass es davon abhängt, was die Bürger tun. Ohne Zweifel wird jedwedes Machtsystem alles im Rahmen seiner Möglichkeiten verhindern. Assange ist in die Botschaft von Ecuador in London geflüchtet, und Großbritannien zahlt sehr viel Geld dafür, dass er sich nicht durch die Hintertür hinausschleichen kann. Wie Sie wissen, lebt Assange unter schlechteren Bedingungen als im Gefängnis, denn im Gefängnis kann man das Tageslicht sehen, auch wenn man eingesperrt ist; er kann das nicht. Snowden ist in Russland. Sie wissen, was mit dem Flug von Evo Morales passiert ist, als der bolivianische Präsident von Moskau nach Bolivien flog und die europäischen Länder – Frankreich, Spanien und andere – ihn auf Anweisung des Großen Bosses in Washington abfangen ließen. Eine unglaubliche Sache! Schließlich musste das Flugzeug in Österreich landen. Die Polizei betrat unverzüglich das Flugzeug, um sich zu versichern, dass sich Snowden nicht in der Kabine versteckte. Das sind direkte Verstöße gegen diplomatische Grundregeln, aber sie zeigen zwei Dinge: erstens die extreme Entschlossenheit von Obamas Regierung, ihn zu bestrafen, und zweitens die Unterwürfigkeit Europas unter dem Scheffel der USA. Ein sehr interessantes Phänomen. Obama übertrifft alles, er hat mehr "Whistleblower" bestraft als alle andere Präsidenten.

In den USA gibt es ein Gesetz, ein Spionagegesetz aus dem Ersten Weltkrieg. Obama hat dieses benutzt, um Veröffentlichungen wie die von Snowden und Assange, die die Öffentlichkeit aufklären, zu verhindern. Die Regierung wird das Unsagbare tun, um sich gegen ihren "Hauptfeind" zu verteidigen. Und der "Hauptfeind" einer jeden Regierung ist die eigene Bevölkerung. Dafür gibt es viele Hinweise, die man hier [in Argentinien] verstehen kann. Auf die gleiche Art, wie große Privatunternehmen versuchen werden, ihre tyrannische Macht über jedwede Teile des Lebens aufrechtzuerhalten. Für diese "Whisteblower" ist der Kampf für freie und transparente Information eine fast natürliche Angelegenheit. Werden sie Erfolg haben? Naja, das ist so, als würde man wissen wollen, ob die argentinische Diktatur wieder die Macht ergreifen könnte. Es hängt von der Bevölkerung ab. Wenn Snowden, Assange und andere das tun, was sie tun, tun sie das als Bürger. Sie helfen der Öffentlichkeit, ans Licht zu bringen, was ihre eigenen Regierungen tun. Gibt es eine edlere Aufgabe für einen freien Bürger? Man bestraft sie unerbittlich. Wenn die USA sie festnehmen könnten, wäre es noch schlimmer; es gibt schon viele, die Strafen erleiden mussten. Jetzt gilt: Ob das weitergeht oder nicht, wird davon abhängen, wie die Bürgerinnen und Bürger reagieren.


Dies ist eine gekürzte Version des Interviews von Ignacio Ramonet mit Noam Chomsky, das am vergangenen 13. März für das öffentlich-rechtliche Fernsehen Argentiniens in Buenos Aires durchgeführt und am Samstag, dem 21. März, in voller Länge auf dem Kanal des argentinischen TV Pública gesendet wurde. In seiner kompletten Version kann man es an hier online abrufen und auch auf Youtube.