Venezuela / Politik

Für die Wiedergeburt der revolutionären Politik

Zu den Lektionen aus der Wahlniederlage am 6. Dezember gehört, dass die basisdemokratischen Strukturen wieder gestärkt werden müssen

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"Kommune oder Nichts" - Grafito in Venezuela
"Kommune oder Nichts" - Grafito in Venezuela

Die folgenden Arbeitshypothesen beruhen auf den politischen Lektionen, die aus der intensiven Etappe seit dem Tod des Comandante Chávez1 am 5. März 2013 bis zur Wahlniederlage am 6. Dezember 2015 zu lernen sind. Möglicherweise könnten sie zu Handlungslinien werden.

1. Für die Wiedergeburt der bolivarischen Revolution ist es erforderlich, die Kommunalen Räte2 wiederzugewinnen. Wiedergewinnen heißt: sie zurückerobern, stärken und vervielfachen.

2. Die Kommunalen Räte sind natürlich nicht der einzige Raum des revolutionären Aktivismus und es ist auch nicht wünschenswert, dass es so wäre. Aber sie bilden den primären Raum für die Ausübung direkter und partizipativer Demokratie. Die Kommunalen Räte sind ein nach dem Maß des politischen Subjekts gestalteter Raum, welcher die Grundlage für die bolivarische Revolution bildet.

3. Die Kommunalen Räte sind Räume für das Gemeinschaftliche, für die Ausübung einer Politik, die als Politik unter Gleichen verstanden wird. Auf solch eine Politik konzentriert sich der Chavismus. Dieser vertritt nicht nur eine vorherrschende Klassenherkunft, sondern auch die allgemeine Erfahrung der Politisierung. Der Chavismus besteht hauptsächlich aus enormen Kontingenten von Männern und Frauen aus den Volksklassen, die sich entschieden haben gegen die repräsentative Demokratie zu rebellieren, jedoch fehlen fast allen Vorerfahrungen aus einem politischen Aktivismus. Sogar der Chavismus – bevor er als solcher bekannt wurde - trat in die Politik als ein Akt der Rebellion ein. Er ist ein politisches Subjekt, das überschwänglich, pluralistisch, vorurteilsfrei ist und keine ideologischen Ketten hat, sich durch einen radikal demokratischen Charakter auszeichnet, zudem egalitär, anti-oligarchisch und bis zu einem bestimmten Grade anti-kapitalistisch ist.

4. Chávez förderte die Schaffung der Kommunalen Räte nicht, um eine Angleichung nach unten zu erreichen, sondern um die Untersten einzubeziehen, um ihnen einen Raum zu geben. Er machte es nicht, um den Chavismus zu domestizieren, sondern er erkannte ihn als ein Subjekt an, das auf die Errichtung einer anderen Politik abzielt. Chávez verband mit dem Chavismus einen Geist, der sich schwer mit den traditionellen Formen politischer Beteiligung abfindet.

5. Vielleicht bestehen die wichtigsten Beiträge des venezolanischen Volkes, von Chávez und der bolivarischen Revolution zur politischen Philosophie, zur Jahrtausende alten Tradition der Befreiungskämpfe der Völker, zur Entstehung einer emanzipatorischen politischen Kultur für das 21. Jahrhundert in: a) dem Verständnis der Politik als einer Politik unter Gleichen; b) den Kommunalen Räten als Räume für die Ausübung dieser Politik und c) darin, die Kommunen nicht nur als eine Anhäufung der Kommunalen Räte zu verstehen, sondern als Ausdruck einer neuen politischen Kultur. Nicht von ungefähr waren die Kommunen das zentrale Thema der letzten der programmatischen Reden von Comandante Chávez: Das Steuer herumreißen (Golpe de Timón).

6. Die Kommunalen Räte bilden gleichermaßen den primären Raum für den Aufbau einer demokratischen und Volkshegemonie und beziehen diejenigen ein, die anders denken, einschließlich derer, die gegenteilig denken, um so die Probleme der Allgemeinheit auf die Tagesordnung zu setzen und zu lösen.

7. Unser schrittweiser Rückzug aus den Kommunalen Räten ist ein eindeutiges Zeichen der Bürokratisierung der bolivarischen Revolution.

8. Ein weiteres eindeutiges Zeichen des selben Phänomens ist das wachsende Unbehagen der politischen Bürokratie über ihre Unfähigkeit, die Kommunalen Räte zu "kontrollieren". Um seine Ziele zu erreichen, muss man dem Politik-Machen im Land Zeit und Anstrengung widmen. Das Problem besteht aber darin, dass damit vor langer Zeit aufgehört wurde.

9. Das Rückständigste an der politischen Bürokratie wird jedoch gar nicht als ethisches Dilemma erkannt, nämlich sogar die Wahlen der Kommunalen Räte zu manipulieren, während andere Manipulationen nicht ausreichend waren, um diese zu "kontrollieren". Damit wird der Verfall der direkten und partizipativen Demokratie gefördert.

10. Nach dem III. Parteitag der PSUV Ende Juli 2014 haben die Kommunalen Räte ihre Zentralität als Raum zur Entfaltung revolutionärer Politik immer mehr verloren. Dieser Raum geht an die Unidades Bolívar Chávez(UBCH)3 über, die im Statut der Partei "als wesentliche und Grundorganisation sozialistischer Patrouillen zur koordinierten Umsetzung der sozialen und politischen Aktionspläne in einem bestimmten Handlungsradius" (Artikel 22) aufgeführt und definiert werden. In der "Acta de Decisiones", dem Dokument, das die Beschlüsse des Parteitages aufnimmt, werden die kommunalen Räte nicht erwähnt. Auf die Kommunen wird sich nur allgemein bezogen (Punkt 12), aber es werden keine Handlungskriterien für die UBCH in diesen Räumen definiert.

11. Der weitere Verlauf ist klar: Die Partei zieht sich Schritt für Schritt aus diesem Territorium zurück, um sich in sich selbst zurückzuziehen. Einerseits gibt sie damit den Raum zur Ausübung der Politik unter Gleichen auf, entpolitisiert die Beziehung zwischen beiden und lässt sie zu "Wohltäter" (benefactor) und "Klient" (cliente) werden. Andererseits führt die Aufgabe des Raumes zur Schaffung einer demokratischen Volkshegemonie nicht nur zur Unfähigkeit, die soziale Basis zur Unterstützung der Revolution auszubauen, sondern auch zur politischen Abkehr von ihr.

12. Die politische Bürokratie heizt den Konflikt zwischen den Kommunalen Räten, den Kommunen und den UBCH an. Ironischerweise handelt es sich fast immer um die selben Individuen: der Sprecher des Kommunalen Rates, der Parlamentarier der Kommune und das Mitglied der UBCH, nur dass sie von widerstreitender Logik geprägt sind: partizipative demokratische Logik versus die Logik des "Vorteils". Der politische Bürokrat versucht dabei die Idee durchzusetzen, dass es möglich (und sogar wünschenswert) ist, auf erstere zu verzichten, um zur zweiten Zugang zu haben.

13. Sind Kommunale Räte und Kommunen frei von der Gefahr des Klientelismus? Überhaupt nicht. Wir dürfen keinen Raum idealisieren. Die Frage ist: gerade weil dieses Risiko ständig da ist, müsste hier die Partei immer in diesem Bereich handeln, als ein Antikörper, als dynamischer Faktor, der partizipative und direkte revolutionäre Politik vorantreibt und niemals als ihr Totengräber.

14. Können die UBCH nicht entsprechend der partizipativen demokratischen Logik funktionieren? Selbstverständlich. In der Tat leiten viele UBCH-Chefs wirklich ihre Gebiete an. Das Problem besteht in der politischen Entscheidung, die die UBCH ermächtigt, die "Wohltaten" für die Bevölkerung zuzuteilen. Diese Entscheidung wurde irgendwann nach dem III. Parteitag der PSUV als ein Grundprinzip revolutionärer Politik unter Verletzung des "Wahlprinzips" gefasst: In Anbetracht unserer Situation wäre die Übersetzung dieses Prinzips folgende: unsere Parteimitgliedschaft gibt uns eine Verantwortung, aber kein Privileg; unsere Parteimitgliedschaft macht uns weder zu "Nutznießern"  noch zu "Wohltätern" von nichts und niemandem.

15. Verfolgt man die Inthronisation dieses Klientelismus bis zur letzten Konsequenz, wird deutlich, worin einige der Hauptgründe unserer Niederlage vom 6. Dezember 2015 liegen. Dagegen bäumt sich der "Chavismo de corazón" (Chavismus, der von Herzen kommt) auf.

16. Der "Chavismo de corazón" ist ein Konzept, das eine bestimmte Volkssensibilität in den ersten Tagen nach dem 6. Dezember gezeigt hat; es bringt zum Ausdruck, wie ein Teil des Chavismus die Niederlage verarbeitet, sie erträglich und begreiflich macht, bevor er sie zu einer politischen Herausforderung macht. Es ist keine Erfindung, die dem Interesse von irgendjemandem geschuldet ist, vielleicht eines angeblichen Optimisten oder eines hoffnungslosen Illusionisten, um die Niederlage zu poetisieren oder herunterzuspielen. Es ist die Form, in der sich viele wiederfinden, die den Klientelismus als Form politischer Beziehungen ablehnen. Was man jedoch erkennen muss, ist, wie dieser "chavismo de corazón" das Immaterielle, die Ideen, dem Materiellen voranstellt. Nennt es, wie ihr wollt. Früher nannte man es Bewusstsein.

17. In den Anfangsjahren der bolivarischen Revolution vertrat Comandante Chávez eine Linie, die von der politischen Revolution (oder Neugründung der Republik) zur wirtschaftlichen Revolution überging. Wenn der globale Anti-Chavismus (und nicht nur der einheimische) Druck macht, um mit allen verfügbaren Mitteln die harte Auseinandersetzung über die Wirtschaftspolitik zu seinen Gunsten zu entscheiden, dann geschieht das teilweise, weil er die politische Konterrevolution für vollzogen und nur noch einen letzten Prankenhieb für erforderlich hält.

18. Die Aufgabe der Räume, die die Ausübung der direkten und partizipativen Demokratie garantieren, und damit die Neutralisierung ihres Veränderungspotenzials bereiten den Nährboden für die politische Konterrevolution. Wir müssen verhindern, dass die Kommunen nur auf dem Papier existieren. Vor allem aber müssen wir mit Leidenschaft diejenigen bekämpfen, die überall Kommunen sehen, die nur auf dem Papier existieren.

19. Möglicherweise kämpfen die selben Agenten der politischen Konterrevolution heute für unsere Kapitulation, was die Wirtschaftspolitik angeht.

20. Wenn wir davon reden, was funktional für die Gegner der Revolution ist: vergessen wir nicht die Zentralität, die der Anti-Chavismus der Kritik an den Kommunalen Räten gibt. Während der Wahlkampagne zu den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2012 versuchten sie die "moralische Führung" des Chavismus zu untergraben, indem sie gegen die "Günstlinge" (enchufados) wetterten. Heute, da viele von uns bereits den Sprachgebrauch angenommen haben, der in den konterrevolutionären Reihen verwendet wird, und auch angesichts der Unterschätzung der strategischen Bedeutung der Kommunalen Räte, täten wir gut daran, den "Golpe de Timón" erneut zu lesen, als eine Antwort -  warum auch nicht - auf diese Angriffe. Ohne Kommunale Räte gibt es keine Kommunen. Und wir wissen sehr wohl, dass es darum geht: die Kommune oder nichts.

  • 1. Hugo Chávez, Revolutionsführer und Präsident Venezuelas (1999-2013)
  • 2. Die Kommunalen Räte (Conesjos Comunales) sind eine Struktur der Selbstverwaltung auf lokaler Ebene. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt. Die Kommune (Comuna) ist der Zusammenschluss mehrerer Kommunaler Räte auf lokaler Ebene. Sie sind seit 2006 gesetzlich verankert, haben Verfassungsrang und sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates. In den vergangenen zehn Jahren wurden mindestens 46.000 Kommunale Räte gebildet. Im Januar 2015 existierten bereits 931 Kommunen. Die lokalen Verwaltungsbezirke und Bundesstaaten bestehen jedoch weiterhin
  • 3. Unidades de batalla Bolívar-Chávez – Bolívar-Chávez-Kampfeinheiten