"Das Großkapital will die lateinamerikanische Integration zerstören"

Der Ökonom Ariel Noyola Rodríguez aus Mexiko im Gespräch mit dem brasilianischen Sozialwissenschaftler Theotonio dos Santos

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Wandbild für die Integration Lateinamerikas
Wandbild für die Integration Lateinamerikas

Wenn es jemanden gibt, der eine Spur im ökonomischen Denken Lateinamerikas hinterlassen hat, dann ist es Theotonio dos Santos: ein brasilianischer Gesellschaftswissenschaftler, Hochschullehrer an der Staatlichen Universität von Río de Janeiro, Exponent der marxistischen Abhängigkeitstheorie und im Jahre 2013 mit dem Preis für Marxistische Ökonomie der Weltweiten Vereinigung Politischer Ökonomie ausgezeichnet. Dos Santos hielt Mitte Februar als Teil des Lehrauftrages Maestro Ricardo Torres Gaitán, der ihm vom Institut für Wirtschaftsforschung der Nationaluniversität von Mexiko (UNAM) aufgrund seiner Beiträge zum Thema erteilt worden war, eine Reihe von Vorträgen über Entwicklungstheorien.

Ariel Noyola Rodríguez hat Theotonio dos Santos während seines Aufenthaltes in Mexiko-Stadt interviewt. Das umfangreiche Gespräch wurde in mehrere Abschnitte aufgeteilt. Im vorliegenden zweiten Teil untersucht Noyola Rodríguez gemeinsam mit dos Santos die Herausforderungen der lateinamerikanischen Integration, den bürokratischen Stau bei der Bank des Südens und die Neupositionierung der USA in der Region.

Ariel Noyola Rodríguez: Wir haben heute durch Andrés Arauz (den Vertreter Ecuadors gegenüber dem Exekutivausschuss der Bank des Südens) erfahren, dass Brasilien und Paraguay die Gründungsakte der Banco del Sur nicht ratifiziert haben.

Im Gegensatz dazu sehen wir, dass die brasilianische Regierung im Rahmen der Finanzierung der Entwicklungsbank der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) und der von China angestoßenden Asiatischen Infrastruktur-Investmentbank (Asian Infrastructure Investment Bank - AIIB) engagiert ist.

Sind Sie in diesem Sinne der Meinung, dass Brasilien (entsprechend der von Ruy Mauro Marini ausgearbeiteten Kategorie) eher eine sub-imperialistische Rolle spielt oder auf welch andere Weise können wir es erklären, dass es kein Interesse daran hat, die Initiativen zur regionalen Integration anzuführen, während es die Projekte von Wirtschaftsmächten wie China unterstützt?

Theotonio dos Santos: Die herrschende Klasse Brasiliens strebte tatsächlich die Projektierung einer sub-imperialistischen Politik an, deren Zweckmäßigkeit aus der geopolitischen Vision der Militärs entstand, die den Staatsstreich von 1964 durchführten. Ruy hatte viel im Hinblick auf die Vision und den ökonomischen Kontext dieser Epoche gearbeitet. Zu jenem Zeitpunkt besaßen wir Brasilianer eine expandierende Wirtschaft mit einer starken Einflussmöglichkeit auf die Region, allerdings vermittels des Großkapitals, weshalb wir uns an die Politik anpassen mussten, die vom Großkapital entworfen wurde.

Nun ist es aber so, dass das Großkapital seine Sichtweise Brasiliens ziemlich stak verändert hat, insbesondere was seine Eigenschaft als Vermittler angeht. Es gibt viele Faktoren, die dies zugelassen haben. Einer davon besteht im Verlust des Vertrauens seitens der Vereinigten Staaten dahingehend, die brasilianische Wirtschaft kontrollieren zu können, sowie auch seitens verschiedener Unternehmensgruppen, die gedacht hatten, dass Brasilien in der Region eine Speerspitze darstellen könnte.

Trotz alledem blieb Brasilien im Jahrzehnt der 2000er Jahre ein Akteur, der gemeinsam mit Venezuela der Schaffung eines Integrationsapparates in der Region Unterstützung verschaffte. In diesen Jahren entsteht die Union Südamerikanischer Staaten (UNASUR), die trotz allem voranschreitet, obwohl es in der Tat viele Interessen gibt, die diesen Prozess zu sabotieren suchen. Die Bank des Südens ist eine weitere ziemlich wichtige Initiative, die aber von Brasilien nicht gewollt wurde. Vom ersten Moment an wollte Brasilien sich nicht beteiligen, trat dem Vorhaben aber dennoch bei…

Ariel Noyola Rodríguez: Stellt sich die Nationale Bank für Wirtschaftliche und Soziale Entwicklung (BNDES) dagegen, dass die brasilianische Regierung die Bank des Südens finanziert?

Theotonio dos Santos: So ist es, die BNDES will das nicht, weil sie, auch wenn sie diese reduziert hat, selbst über eine große Anzahl an Ressourcen verfügt. Auf jeden Fall hat die BNDES die Fähigkeit, eine große Menge an Investitionen in ganz Lateinamerika zu finanzieren, weshalb die brasilianische Regierung kein Interesse daran hat, vermittels der Banco del Sur einen Vermittler zu haben.

Es wurde die Gelegenheit versäumt, große Investitionen zu tätigen, um die Erholung der Wirtschaft während der 2000er Jahre dank der 300 bis 370 Milliarden Dollar, die Brasilien an Überschüssen generierte, zu nutzen. All diese Gelder wurden in die Reserven [der Zentralbank] gesteckt, und ein Großteil dazu verwendet, nordamerikanische Schulden aufzukaufen. So gelangte man zu einer Festlegung wirtschaftlicher Machtmittel. Wir haben etwa 120 Milliarden Dollar in Schatzbriefe der Vereinigten Staaten investiert, das ist doch absurd.

Das ist ein sehr schwerer Sichtfehler. Es gibt ein ökonomisches Denken, das sich nicht auf der Höhe der stattfindenden Veränderungen befindet. Brasilien besitzt keine lateinamerikanische Vision. Lula hatte eine andere Sichtweise, die nun in sehr starker Weise attackiert wird. Alles in Allem waren alle Initiativen, die die regionale Integration in jenen Jahren favorisierten, in der aktuellen Phase Initiativen, die eher von lateinamerikanischem Interesse als vom Interesse des transnationalen Kapitals geleitet waren.

Sehen wir uns zum Beispiel einmal die Abkommen zwischen Mexiko und den Vereinigte Staaten an. Für Mexiko bedeuteten sie viele Investitionen. Mexiko besitzt eine Automobilindustrie, deren Produktion zu 70% für den Export bestimmt ist. Auch Brasilien hat eine Automobilindustrie, die jedoch nur zu 30% den Export bedient, wobei sich beide mehr oder weniger gleichen.

Damit also Brasilien erneut zu einem Agenten des Großkapitals wird, damit von daher eine - sagen wir mal sub-imperialistische Politik angestoßen wird - müsste man eine Regierung von anderer politischer Ausrichtung installieren, und genau dies versucht man nun zu tun. Deshalb versucht man auch, Venezuela und all die Regierungen zum Einsturz zu bringen, die im Rahmen der Integrationsprozesse engagiert sind.

Es bedeutet eine Absurdität, dass gewisse Sektoren der Linken die Integration als eine Art Sub-Imperialismus ansehen. Die regionale Integration wird niemals Teil der Interessen des Sub-Imperialismus sein, ganz im Gegenteil. Die Vereinigten Staaten, die der überragende imperialistische Akteur sind, haben niemals eine Politik regionaler Integration verteidigt, die sie nun zu zerbrechen versuchen. Das Transpazifische Assoziationsabkommen (TPP) ist hier ihr neuestes Abenteuer. Sie wollen die Integration beschneiden, ohne irgend etwas anbieten zu können. Es geht darum, dass die Länder, die sich dem TPP angeschlossen haben, sich integrieren sollen, aber nur in Bezug auf die Vereinigten Staaten.

Es ist genau wie im Fall des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (North American Free Trade Agreement - NAFTA): es bezieht sich auf Mexiko gegenüber den Vereinigten Staaten und auf Kanada gegenüber den Vereinigten Staaten, aber zwischen Mexiko und Kanada gibt es nicht, also gibt es keine Integration. Und das Gleiche hat man mit den Ländern der Pazifikküste vor, die keinerlei Integration untereinander verstärken, sondern nur die Geschäfte vermehren werden, welche die Vereinigten Staaten begünstigen. Die Vereinigten Staaten werden jedoch die Nachfrage von Produkten aus diesen Ländern nicht steigern. Die USA wollen vielmehr die Verkäufe ihrer Produkte vermehren, weil sie ein extrem erhöhtes Handelsdefizit aufweisen.

Die Politik der Vereinigten Staaten besteht in einer Steigerung ihrer Exporte, und dies ist die Politik keines Landes der Region, sondern alle sind daran interessiert, an die Vereinigten Staaten zu verkaufen und nicht von dort zu kaufen, das Ganze ist also abenteuerlich. Aber schlimmer noch ist, dass diese Länder ihr Exportniveau erhöht und aufgrund der erhöhten Nachfrage des chinesischen Marktes in den letzten Jahren bedeutende Überschüsse erzielt haben, während es sich jedoch bei TPP um ein gegen China gerichtetes Produkt handelt.

Wie aber ist es möglich, sich einem antichinesischen Projekt anzuschließen, wenn doch die einzige Möglichkeit, die du hast, darin besteht, deine Exporte nach China zu erhöhen. Und ganz abgesehen davon bedeutet dies für Lateinamerika ein Anti-Integrationsprojekt, das sehr schwerwiegend ist, weil es die einzige, für unsere Länder existierende Möglichkeit darstellt, auf eine Politik der regionalen Entwicklung zu setzen, auf ein Projekt, das die Regierungen bedauerlicherweise noch nicht vollständig anzunehmen vermocht haben.

Und nichts davon gehört zum Schema des Großkapitals, nichts davon gefällt dem Großkapital, das kann man wohl glauben. Dabei handelt es sich jedoch bei dem, was wir jetzt erleben, nicht um das gleiche Phänomen wie bei den Geschehnissen der 1960er Jahre. Der Sub-Imperialismus besitzt ein gewisses Potenzial, bildet aber zurzeit nicht den Weg des Großkapitals ab. Das Großkapital befindet sich auf dem besten Weg, auf radikale Weise die Vorteile zu zerbrechen, die die Integration der Region verschaffen kann.

Ariel Noyola Rodríguez: Tatsächlich hat Washington versucht, seine ökonomische und politische Vorreiterrolle in Lateinamerika wieder zu erlangen und treibt deshalb in Übereinstimmung mit den Interessen der nordamerikanischen Unternehmen verschiedene Integrationsinitiativen voran.

Was die (aus Chile, Kolumbien, Mexiko und Perú bestehende) Pazifikallianz angeht, ist es sehr auffällig, dass Michelle Bachelet vorgeschlagen hat, eine "Brücke" zu errichten, die ein Zusammenwirken mit dem Gemeinsamen Markt des Südens (MERCOSUR, der Argentinien, Bolivien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und Venezuela umfasst) ermöglicht. Mauricio Macri, der neue Präsident Argentiniens, unterstützt diese Vorstellung. Worin liegen dabei wohl seine Absichten?

Und auf der anderen Seite haben wir das TPP-Abkommen (bestehend aus 12 Ländern unter Führung der Vereinigten Staaten), ein Projekt, das versucht, China sowohl in Lateinamerika als auch im pazifischen Asien wirtschaftlich zu isolieren. Haben denn diese beiden Initiativen so viel Einfluss in unserer Region?

Theotonio dos Santos: Das sind selbstmörderische politische Strategien. Also gut, das Großkapital ist daran interessiert, die lateinamerikanische Integration zu zerstören. Macri ist gegen die Integration, er tut alles dafür, die Integration zu verhindern, er schlug dabei sogar den Ausschluss Venezuelas aus dem MERCOSUR vor.

Von Seiten Bachelets sieht das anders aus, weil sie und ihr Außenminister  sich von Anfang an nicht der Pazifikallianz angeschlossen haben, um der lateinamerikanischen Integration nicht entgegen zu wirken. Die [Pazífische] Allianz befand sich  sozusagen bereits in einem fortgeschrittenen Stadium und ein Versuch, sie zu verändern, hatte von daher wenig Sinn. Das Problem liegt darin, dass mit der Pazifikallianz nichts zu erreichen sein wird. Was also liegt im Bereich des Möglichen?

Ariel Noyola Rodríguez: Im Umfeld der Finanzen geben die Mitgliedsstaaten der Pazifischen Allianz vor, beim Aufbau eines gemeinsamen Kapitalmarktes, des Mercado Integrado Latinoamericano (MILA) vorangekommen zu sein. Die Absicht dieses Instruments liegt in der transnationalen börsenmäßigen Integration der Wertbörsen Chiles, Kolumbiens, Mexikos und Perus, um auf diese Weise ein einzigartiges Erbe zu schaffen, damit sie - ihnen zufolge - auf Augenhöhe mit der Wertpapierbörse von São Paulo konkurrieren können…

Theotonio dos Santos: Es wäre interessant, dieses Phänomen weiter zu beobachten, aber ich bezweifele, dass diese Länder dies zustande bringen können. Die Vereinigten Staaten besitzen nicht das Kapital, sie haben Schulden, eine öffentliche Verschuldung, die ihrem Bruttoinlandsprodukt entspricht, obwohl sie noch zu weiterer Verschuldung in der Lage wären. Woher sollten die Vereinigten Staaten die Mittel nehmen, um dahingehend zu investieren? Woher sollte denn Chile das Geld nehmen?

Die brasilianischen Kapitalisten sind an der Börse aktiv, weil sie dort sein müssen, obwohl viele ins Ausland gegangen sind, weil sie es vorziehen, ihre Ressourcen von anderen Breiten aus zu steuern. Ich kann nicht erkennen, wie dieser von dir erwähnte Kapitalmarkt wird funktionieren können. In Brasilien weiß man jedenfalls nicht viel darüber.

Es ist gut möglich, dass ein harter Wettbewerb mit Brasilien in Vorbereitung ist. Das kann sein. Aber ich sehe da kein großes Potential, ich glaube nicht, dass sie die Mittel dazu haben. Man wird das alles genauer betrachten müssen. Ich hatte wirklich nicht gedacht, dass diese Regierungen [der Pazifischen Allianz] in einen derartig großen Rausch würden geraten können. Sie nehmen sich Dinge vor, die sie einfach nicht umsetzen können.

Was haben diese Länder für ein Bündnis? Normalerweise das, was ihnen die lateinamerikanische Integration ganz allgemein bietet. Aber was werden sie selbst zur Region beitragen? Als Gruppierung gibt es da nicht viel, bisher haben die Integrationsinitiativen ihre Stimme erhoben, die ein positiveres Bewusstsein haben. Auf dem vergangenen Amerikagipfel hatte die Gemeinschaft lateinamerikanischer und karibischer Staaten (Celac) gefordert, dass Kuba anwesend sein müsse und es andernfalls keinen Gipfel gäbe. Die Länder der Pazifikallianz vermochten keine von der Celac unabhängige Linie durchzusetzen.

Die Vereinigten Staaten benutzt sie dazu, eine antichinesische Politik zu befördern. Was wollen sie? Eine Unterlassung des Exports nach China? Dahinter steht wie im Mittleren Osten der Wille, jede Kraft zu zerstören, die sich den politischen Strategien der Vereinigten Staaten entgegen stellt, eines Landes, das in der Tat vermittels dieser Art von Bündnissen immer noch eine sehr große Macht besitzt, dem ich aber als konstruktive Kraft, als gestaltender Faktor einer neuen Ökonomie keinerlei Einfluss beimesse.

Ariel Noyola Rodríguez ist als Ökonom an der Autonomen Nationaluniversität vom Mexiko (Universidad Nacional Autónoma de México - UNAM) tätig

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