Krise der Linken in Lateinamerika und Wahlen in Nicaragua

Es ist im Interesse der Menschen zu hoffen, dass dem Land eine weitere Polarisierung und Zuspitzung von Konflikten erspart bleibt

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In Nicaragua gibt es eine der größten Kooperativenbewegungen weltweit. Hier die Kaffekooperative Guardobaranco in den Bergen von Las Segovias
In Nicaragua gibt es eine der größten Kooperativenbewegungen weltweit. Hier die Kaffekooperative Guardobaranco in den Bergen von Las Segovias

15 Jahre lang hatten linke Regierungen einen wesentlichen Einfluss auf die Politik in Lateinamerika ausgeübt, hatten eine gerechtere Verteilung der Einkommen, ein besseres Bildungssystem und mehr Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben. Inzwischen hat sich einiges geändert. Aus verschiedenen Gründen erreichen diese Regierungen weniger Zustimmung, sind mit wirtschaftlichen Krisen und Protesten konfrontiert. Argentinien, Brasilien und Venezuela sind Beispiele dafür, wie Verteilungs- und Handlungsmöglichkeiten der Regierungen enger wurden und medienwirksame Proteste das politische Klima bis zu einem (teilweisen) Machtwechsel verändern konnten.

Am 6. November werden auch in Nicaragua Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden. Wir wollen deshalb im folgenden einen Blick auf den Stimmungswandel in Lateinamerika werfen und fragen, ob sich die politischen Entwicklungen auf dem Subkontinent auch in Nicaragua auswirken werden.

In den Schlagzeilen deutscher Presseorgane klingt alles ziemlich einfach: Sie schreiben von "Ein erschöpfter Kontinent" (Taz), "Lateinamerika: Der Sozialismus verliert seine Kinder" (Zeit) oder "Südamerika - Warum die linke Vorherrschaft in Lateinamerika zu Ende ist" (Süddeutsche). Hinter diesen Überschriften wird das allgemeine Vorurteil gepflegt, dass eine gerechtere Verteilung nicht dauerhaft gelingt und die Menschen dann wieder zu Neoliberalismus und US-Abhängigkeit zurückwollen. Die Hintergründe der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in den verschiedenen Ländern Lateinamerikas mit solchen Stereotypen erklären zu wollen ist sicher wenig hilfreich. Auch wenn die lateinamerikanischen Linksregierungen ähnliche politische Ziele benannt hatten, die inneren Widersprüche und die teilweise Abkehr der Bevölkerung von der Regierungspolitik in den jeweiligen Ländern hat nicht überall die gleichen Gründe.

Dieter Boris und Achim Wahl schreiben in ihrer differenzierten Zusammenfassung zu dem Thema1 , dass die Linksregierungen bis etwa 2013 mehrheitlich große Zustimmungswerte seitens der Bevölkerungen ihrer Länder erzielten konnten, sich aber zu diesem Zeitpunkt schon einiger Unmut angesammelt hatte. Sie beschreiben die wachsende Unzufriedenheit in Teilen der sozialen Basis und Wählerschaft und das offensivere Auftreten der nationalen Rechten als einen wechselseitigen, sich aufschaukelnden Prozess, der letztlich zu einer deutlichen Veränderung der Kräfteverhältnisse zuungunsten der Linksregierungen führte.

Die wichtigsten Ereignisse, die für die Veränderungen des politischen Klimas in Lateinamerika in den letzten Jahren stehen, waren sicher die Massenproteste von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Juni und Juli 2013 in Brasilien (für bessere Bildungschancen, gegen Fahrpreiserhöhung, gegen den Fußball-WM-Gigantismus und die Ausgaben dafür, gegen Polizeigewalt, für und gegen Sozialprogramme….). Der Tod des venezolanischen Staatschefs Hugo Chávez im März 2013 und die darauf folgenden gewalttätigen Ausschreitungen der rechten Opposition waren weitere einschneidende Ereignisse.

In den letzten Monaten folgten nun der Wahlsieg des neoliberalen Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen in Argentinien 2015, der deutliche Verlust der Parlaments-Mehrheit für die Regierung Maduro in Venezuela und die Ablehnung einer vierten Amtszeit für den bolivianischen Präsidenten Evo Morales im Februar 2016. Der institutionelle Putsch des neoliberalen Michel Temer gegen Brasiliens kürzlich gewählte Präsidentin Dilma Rousseff ist der bisherige Schlusspunkt der aktuellen politischen Richtungskämpfe.

Politische Erfolge 2000 bis 2010

Die anfänglichen und prägenden Erfolge der Linksregierungen in Lateinamerika hatten vor allem mit der Abkehr von den neoliberalen Vorgaben, der Allmacht des Marktes und den fortschreitenden Privatisierungen zu tun. Eine Wiederherstellung der staatlichen Entscheidungsfähigkeit gehörte zu den wichtigsten Zielen der Linksregierungen. Zudem wurde an einem besseren Schutz für indigene Bevölkerungsgruppen und teilweise an mehr Umweltschutz gearbeitet. Die anfänglich begonnene Diskussion über die Gesellschafts- und Staatsziele erreichte das anvisierte Ziel eines neuen gesellschaftlichen Konsens leider nirgends und versandete in den meisten Ländern.

Die Bildungspolitik als wichtiger Ansatz für neue Chancen der ärmeren Menschen wurde in verschiedenen Ländern klar erkannt und finanziell stark gefördert (z.B. in Brasilien vor allem der Sekundarschulbereich). Allerdings kam es dadurch nicht zu einem wesentlichen Wandel des Schulsystems, so dass strukturelle Probleme wie der große Anteil von Privatschulen mit besseren Angeboten die Ungleichheit verfestigten. Das erhoffte gesellschaftsverändernde Potential konnte die Bildungspolitik dadurch leider nicht entfalten.

Die Stärkung der staatlichen Strukturen geriet auch durch die von den früheren neoliberalen Regierungen übernommenen regressiven Steuersysteme (je höher das Einkommen, desto geringer der Steuersatz) an seine Grenzen. Eine Änderung dieser unsozialen Steuersysteme gelang nur in wenigen Ländern, wobei auch in diesen Fällen nur eine sehr begrenzte Wirkung erzielt werden konnte. Die anfänglich sehr positive wirtschaftliche Entwicklung und die hohen Rohstoffpreise ermöglichten zwar eine Steigerung der Staatseinnahmen, aber in der Phase des Preisverfalls seit 2008/09 fehlte die Grundlage für notwendige Verbesserungen der staatlichen Dienstleistungen.

Ab 2012/13 befanden sich die meisten Länder Lateinamerikas in einer wirtschaftlichen Rezession, die Widersprüche zwischen langfristigen großen Infrastrukturprojekten (oft nicht für die soziale Gemeinschaft, z.B. Fußball-WM Brasilien) und die fehlenden wirtschaftlichen Grundlagen wurde immer offensichtlicher. Laut Boris/Wahl zerbrach in den letzten Jahren die Solidarität in den Gesellschaften aus den Jahren des Aufbaus an solchen Widersprüchen. Die Autoren beschreiben Entpolitisierung und individualisiertes Konkurrenzverhalten an der sozialen Basis der Linksregierungen als Folge. Die in den Aufbaujahren erreichten wirtschaftlichen Verbesserungen für ärmere Schichten der Bevölkerung haben inzwischen auch Auswirkungen auf deren politisches Handeln. Eine in der früheren neoliberalen Zeit an den Rand gedrängte untere Mittelschicht von Angestellten, Handwerkern und kleinen Händlern hat nach einer gewissen Stärkung aktuell nur wenige Gründe, weiter auf die bisherige Linksregierung zu setzen.

Wahlen in Nicaragua

Am 6. November werden in Nicaragua der Präsident und die Abgeordneten für die Nationalversammlung und das mittelamerikanische Parlament (Parlacen) gewählt. Seit 2012 regiert die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) hier mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit (63 Prozent). Da die Regierung von Daniel Ortega während ihrer ersten Amtszeit 2007 bis 2011 mit verschiedenen Sozialprogrammen eine wichtige Verbesserung der Lebenssituation für die Mehrheit der armen Bevölkerungsgruppen erreichen konnte, war diese hohe Zustimmungsrate bei den letzten Wahlen möglich geworden. Und auch in der aktuellen Amtszeit konnten die Sandinisten weiter wirtschaftlich positiven Akzente setzen, Sozialprogramme und Hilfen in Notsituationen wurden fortgesetzt.

Nicaragua ist statistisch gesehen immer noch das zweitärmste Land Lateinamerikas und die Mehrheit der Bevölkerung legt in dieser Situation bisher noch mehr Wert auf wirtschaftliche und soziale Sicherheit als auf differenzierte Partizipationsprozesse. Die erreichte Sicherheit vor der in vielen anderen Ländern um sich greifenden Kriminalität ist nicht nur den Menschen in Nicaragua wichtig, sie gilt neben den relativ niedrigen Arbeitskosten und dem Dialog zwischen Privatwirtschaft, Regierung und Gewerkschaften auch als Grund für mehr ausländische Investitionen in Nicaragua. Entgegen dem lateinamerikanischen Trend hat Nicaragua laut der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Cepal) weiter gute Wachstumschancen, 4,6 Prozent wurden für 2016 prognostiziert. Von den Internationalen Finanzinstitutionen (IWF, Interamerikanische Entwicklungsbank u.a.) erhielt das mittelamerikanische Land trotz des relativ sozialen Modells sehr positive Beurteilungen.

Ungeachtet der schwierigen Situation in Venezuela erhielt Nicaragua 2015 von dort immer noch wichtige Unterstützungsleistungen, wie Kredite über 381 Millionen US-Dollar. Der größte Teil davon (306,8 Millionen Dollar) war der Darlehensanteil von 50 Prozent aus dem Kauf von Erdöl der venezolanischen Ölgesellschaft PDVSA. Finanziert wurden daraus unter anderem Projekte zur Energieunabhängigkeit, Stärkung des Handels und der Landwirtschaft, der Ernährungssicherheit und -souveränität, Subvention des Nahverkehrs. Inzwischen arbeitet die Regierung daran, einen wachsenden Anteil dieser Ausgaben aus normalen Haushaltsmitteln zu finanzieren, um einem Ausbleiben der venezolanischen Kredite vorzubeugen.

Konfliktfeld Kanal

Der geplante Atlantik-Pazifik-Kanal in Kooperation mit chinesischen Unternehmen sorgt zwar für einige Auseinandersetzungen entlang der Kanalroute und unter Umweltschützern. Aber tendenziell wird das „Hoffnungsprojekt“ von einer Mehrheit im Land unterstützt. Ob es in den nächsten Jahren realisiert werden kann, ist aktuell noch nicht absehbar. Deshalb ist der Kanal wohl auch nur für wenige ein wahlentscheidendes Element.

Derzeit sind 17 Parteien im Land registriert, die das Recht haben, alleine oder in Bündnissen mit anderen bei den Wahlen anzutreten. In dieser großen Parteienvielfalt steckt auch ein wesentlicher Grund für die Stärke der Sandinisten: die Opposition ist heillos zerstritten und liebt parteiinterne Machtspielchen. Um im Vorfeld der Wahlen Aufmerksamkeit zu erreichen, führten einige Parteien Vorwahlen nach US-Vorbild durch, um ihre Vertreter bekannter zu machen. Allerdings konnten sie damit kaum Resonanz erzielen.

In den aktuellen Umfragen erhält die FSLN eine Unterstützung zwischen 55 und 64 Prozent der Wähler und je nach Umfrage gelten nicht wenige Wähler noch als unentschieden. Insgesamt glauben 90 Prozent der Menschen an einen Sieg der Sandinisten. Als Präsidentschaftskandidat hat die FSLN am 4. Juni wieder Daniel Ortega nominiert. Die Parteien hatten bis Anfang August Zeit, um ihre Kandidaten einzutragen. Als Zeitraum für den Wahlkampf sind vom Obersten Wahlrat (CSE) 75 Tage ab dem 20. August vorgesehen. Zur Wahlbegleitung hat der CSE 15 Experten aus elf lateinamerikanischen Ländern eingeladen, um den Wahlprozess zu beobachten und zu begleiten. Oppositionsparteien fordern stattdessen die Einladung von internationalen Wahlbeobachtern mit freiem Zugang zu allen Wahlstellen, wobei die Sandinisten kontern, dass dies auch in den USA nicht ermöglicht werde.

Offen ist noch die Frage, wie "schmutzig" der Wahlkampf werden wird. Im Mai hatten Oppositionspolitiker versucht, mit gefälschten Fotos der Regierung die Ermordung von Bauern durch die Armee anzudichten. Immer mal wieder werden von wirtschaftlich gut gestellten Vertretern der Opposition Zahlen von sinkendem Einkommen der Armen veröffentlicht, die mit keiner Statistik übereinstimmen. Es ist im Interesse der Menschen zu hoffen, dass dem Land eine weitere Polarisierung und Zuspitzung von Konflikten erspart bleibt. Die Verbesserungen der Lebenssituation für unter prekären Bedingungen lebenden Menschen sollte weiter im Mittelpunkt der Anstrengungen stehen.

Rudi Kurz, Nicaragua-Forum Heidelberg

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