Kolumbien: Linkskandidat Gustavo Petro hat Chancen, Präsident zu werden

Petros Regierungsprojekt könnte eine Wende in der neoliberalen Ausrichtung des Landes bedeuten. Amerika21 sprach mit seinem Mitstreiter Hollman Morris

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Die Vorsätze von Menschliches Kolumbien könnten neue Organisationsmöglichkeiten für die Bevölkerung bedeuten
Die Vorsätze von Menschliches Kolumbien könnten neue Organisationsmöglichkeiten für die Bevölkerung bedeuten

Es ist recht ungewöhnlich, dass ein linker Kandidat wie Gustavo Petro in einem Land wie Kolumbien mit traditionell konservativen, neoliberalen Regierungen bei den Präsidentschaftswahlen alle Umfragen anführt. Dies macht einem großen Teil der städtischen Linken Hoffnung auf Veränderung. Bei kaum einem anderen Redner füllen derzeit solch enorme Menschenmengen die Plätze. Auch in den sozialen Netzwerken ist der 57-jährige ehemalige Angehörige der in den achtziger Jahren aktiven M19-Guerilla der populärste Kandidat. Zum Beispiel übertrumpft er mit 2,9 Millionen Followern beim Kurznachrichtendienst Twitter seine Konkurrenten bei weitem. Er gelangte sogar auf das Cover des Popkultur-Magazins Rolling Stone unter dem Titel "Petro fordert die Geschichte heraus" und 59 Prozent der Teilnehmer einer Twitter-Umfrage, die die Deutsche Welle zu den Präsidentschaftswahlen veröffentlicht hat, sprachen sich für ihn aus.

Amerika21 sprach mit Hollman Morris, Menschenrechtler, Dokumentarfilmer und Stadtrat der Bewegung der Progressiven (Movimiento Progresistas) über das Regierungsprojekt von Menschliches Kolumbien (Colombia Humana), das Petro vertritt. In den vergangenen Monaten stand Petro in den Umfragen unter den drei stärksten Kandidaten, im Februar führte er sie mit 23,5 Prozent an. Seit Anfang März teilt er allerdings den ersten Platz mit dem Kandidaten der ultrarechten Partei Centro Democrático, Iván Duque.

Was bedeutet der Erfolg Petros bei den Umfragen? Zum Beispiel war der grüne neoliberale, unabhängige Kandidat Antanas Mockus Favorit in den Umfragen zur Wahl 2010. Gewonnen hat allerdings der Sohn der mächtigen Santos-Familie, nämlich der aktuelle Präsident Juan Manuel Santos. Laut Morris gehörte Mockus zu einer Art grünen Welle. Das Petro-Phänomen sei hingegen keine Mode sondern Folge der Empörung, die nach vielen Korruptionsskandalen in breiten Teilen der Bevölkerung herrsche. "Die Leute wollen das alles nicht mehr ertragen", versichert der Ex-Journalist. Sie sähen in Petro die beste Option, dem korrupten Establishment entgegenzutreten.

Die Identifizierung der Leute mit Petro hätte viele in Bewegung gebracht. Im Unterschied zu den anderen Kandidaten, die auch vorne liegen, würde er, der auch Bürgermeister von Bogotá war, von keiner politischen Maschine gestützt, sondern "nur von den Leuten", versichert Morris.

Bashing eines sozialdemokratischen Projekts

Gleichzeitig findet in den letzten Wochen in den Leitmedien und den sozialen Netzwerken verstärkt ein Bashing gegen den Linkskandidaten statt. Im Instant-Messaging-Dienst WhatsApp verbreiten sich Kettenbriefe mit der Meldung, dass das Menschliche Kolumbien alle Eigentümer enteignen werde. Petro wird häufig als "Castrochavist", Guerillero, kolumbianischer Maduro, Populist oder Kandidat der Ex- Guerilla Farc bezeichnet. Die Angriffe kommen nicht nur aus der ultrarechten Ecke des früheren Präsidenten Álvaro Uribe sondern auch aus der politischen Mitte. So deuten angesehene Kolumnisten wie Daniel Coronell oder Daniel Samper an, die einst Opfer ultrarechter Verfolgung gewesen sind, dass Petro eine abzulehnende Affinität zum venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro habe. Sogar der Charakter von Petro wird zum Thema der Kritik: er sei eitel und autoritär, verkünden Coronell, Samper und viele andere. "Es läuft eine Hasskampagne", erklärt Morris. Tatsächlich wurde der Wagen von Petro letzte Woche vermutlich mit Schusswaffen angegriffen.

Dabei ist das politische Programm von Menschliches Kolumbien grundsätzlich sozialdemokratisch. Nirgendwo hat Petro über die Abschaffung des Kapitalismus oder der parlamentarischen Demokratie gesprochen. Der Ex-Bürgermeister erklärt sich zum Verteidiger des Privateigentums, strebt nach wirtschaftlichem Wachstum in der Landwirtschaft und der Industrie, bezeichnet die Farc-Partei als anachronistisch und die Regierung Venezuelas als gescheitert. Und obwohl sich Menschliches Kolumbien den endgültigen Ausstieg aus der Erdöl- und Kohlewirtschaft auf die Fahne geschrieben hat, heißt das nicht, dass Petros Regierung die multinationalen Erdöl- und Bergbaukonzerne á la Bewegung des 26. Juli in Kuba per Dekret aus dem Land werfen würde. Auf die Frage, was mit den Verträgen mit solchen Unternehmen passieren würde, antwortet Morris: "Was bereits unterschrieben worden ist, wird respektiert. Wir sind ein Staat und ein Staat muss respektieren, was er unterzeichnet hat".

Ähnlich verhält es sich mit dem Militär: "Wir glauben beziehungsweise haben allmählich gemerkt, dass es ein neues Offizierskorps gibt, das vor allem bei den Kapitänen und Majoren demokratischer ist", sagt der progressive Stadtrat. "Ich glaube, wir müssen einen ehrlichen und demokratischen Dialog mit den Sicherheitskräften aufnehmen". Dass es einen militärischen Putsch geben würde, falls Petro Präsident wird, könne er jedoch nicht ausschließen. Ebenso bestreitet er nicht die Anschuldigungen von Menschenrechtsorganisationen wegen der strukturellen Beziehungen des Militärs zu paramilitärischen Gruppen. Trotzdem betont Morris die Notwendigkeit eines "ehrlichen und demokratischen Dialogs mit den Sicherheitskräften". Aus den Statements der Vertreter von Menschliches Kolumbien hört man auch nicht heraus, dass sie es auf Konfliktel mit mächtigen Ländern wie den USA abgesehen haben. Bezüglich der internationalen Beziehungen würde man sich an den Richtlinien der Organisation Amerikanischer Staaten orientieren, sagt Morris.

Menschliches Kolumbien bedroht das Establishment

Petro wird trotzdem stark attackiert, weil das Projekt von Menschliches Kolumbien Interessen des Großunternehmertums, des Finanzkapitals und der Mafias gefährdet. Großunternehmer von öffentlichen Dienstleistungen sind Petro-Gegner, weil seine Bewegung die seit den 1990er Jahren in Kolumbien herrschende Privatisierungspolitik nicht aufrechterhalten will. "Wir geben alles für die Stärkung der Gemeingüter", sagt Morris gegenüber amerika21. Kommunale Verwaltung der Wasserversorgung, die das für die Existenz nötige Minimum an Wasser kostenlos garantiert, und die autonome Produktion von Solarenergie durch vernetzte Bürger gehören unter anderem zu Petros Programm. Nicht nur den Großunternehmen würde das Ende ihrer Monopole über Wasser- und Energieversorgung sowie über die Müllabfuhr und die öffentlichen Verkehrsmittel drohen. Erdöl- und Bergbaukonzerne, die auf neue Konzessionen und Lizenzen auch für Fracking hoffen, dürften bei Petros Regierung mit geschlossen Türen rechnen. "So wie wir die unterzeichneten Erdöl- und Bergbauverträge respektieren, respektieren wir auch die Volksabstimmungen", versichert Morris. Es geht dabei um die Abstimmungen, die Landkreisgemeinden seit letztem Jahr verfassungsgemäß und erfolgreich durchführen, um den Bergbau oder die Erdölförderung in ihren Gebieten zu verbieten. Die Regierung und die rechten Parteien erkennen allerdings die Ergebnisse nicht an.

Ebenso strebt Petro an, das Finanzkapital aus dem Gesundheits- und Rentensystem zu vertreiben. Er will die sogenannten "Gesundheitsfördernden Unternehmen" (EPS) abschaffen. Aktuell kassieren die EPS Aufpreise für die unnötige Vermittlung zwischen Patienten und Ärzten und seine Eigentümer haben enorme Summen an Gesundheitsgeldern unterschlagen. Auch das Rentensystem will Menschliches Kolumbien reformieren. Nicht die privaten Rentenfonds sollen den größten Teil der Rentenbeiträge der Kolumbianer verwalten, von denen man schließlich keine existenzsichernde Rente bekommt, wie es jetzt der Fall ist, sondern eine für alle verpflichtende solidarische Rentenversicherung. Das Milliardengeschäft der Banken mit den Beiträgen der Besserverdiener wäre somit ausgehöhlt. Anstelle des aktuellen Bildungssystems, bei dem die Studierenden Zwangskunden des Finanzkapitals werden, um ihr Studium finanzieren zu können, soll eine gebührenfreie Hochschulbildung für alle eingerichtet werden.

Bei einer Regierung von Petro hätten auch Großgrundbesitzer und Drogenmafias, in deren Händen enorme unproduktive Ländereien konzentriert sind, viel zu verlieren. Zwar hat der Ex-Bürgermeister mehrmals dementiert, er werde Landbesitzer enteignen, doch Land umverteilen will er schon. Ziel sei, eine produktive Mittelschicht von Farmern zu bilden, die den Binnenmarkt stärken sowie der Ausbau des agroindustriellen Produktionsapparats. Auf diese Art soll das südamerikanische Land aus der Rohstoffwirtschaft herauskommen. Die Umverteilungsmethode wäre, unproduktiven Landbesitz ab 1.000 Hektar maximal zu besteuern und so die Großgrundbesitzer zu zwingen, entweder produktiv zu werden oder ihre Grundstücke an den Staat zu verkaufen. Die gekauften Ländereien würde der Staat dann Kleinbauern zuteilen.

Das Thema Venezuela und der Extraktivismus

Außerdem ist Petro in den Leitmedien unbeliebt, weil er trotz seiner Kritiken am Extraktivismus, der Währungspolitik und der Korruption in Venezuela der einzige unter den führenden Kandidaten ist, der sich der verbreiteten Meinung, es herrsche eine Diktatur im Nachbarland, nicht angeschlossen hat. Das verzeihen ihm die Medien nicht. Tatsächlich soll Petro zur Zeit der Präsidentschaft von Hugo Chávez dessen Sozialpolitik gelobt haben. "Ich glaube, dass das Venezuela von 2006 und das, was wir heute erleben, völlig unterschiedliche Realitäten sind. Wir sprechen dabei über zwei völlig unterschiedliche Führungsarten", sagt Morris.

Seiner Meinung nach könne man erkennen, dass etwas Gravierendes in Venezuela passiert, wenn man beispielsweise venezolanische Prostituierte in den Straßen Bogotás sähe. Wie Petro glaubt Morris, dass die Probleme dort mit der Fokussierung auf die Erdölwirtschaft zusammenhängen. Venezuela habe seine Chance versäumt, eine Agrarindustrie aufzubauen. Allerdings mache Kolumbien seit einigen Regierungen genau das Gleiche. Morris nennt das östliche Departament Arauca als Beispiel. "Arauca war eine Vorratskammer für Reis und Vieh und heute, nach dem Erdölboom, gibt es nur Handel und Hotels. Man lebt dort nur von der Erdölökonomie. Die Leute haben die Landwirtschaft völlig vergessen. Was wir sagen ist, dass wir uns Venezuela immer mehr ähneln". Morris kritisiert ebenso die in der Öffentlichkeit geschürte Angst, wie Venezuela zu werden, sollte jemand wie Petro an die Regierung kommen. "Uns erschreckt eher die Vorstellung, wie Haiti zu werden, das ärmste und ungleichste Land des Kontinents", erklärt er. Kolumbien ist momentan das zweitungleichste Land des Kontinents. "Jedenfalls lehnen wir das Wirtschaftsmodell des Extraktivismus komplett ab", resümiert der 49-Jährige.

Verknüpfung mit Basisbewegungen?

In einem Interview hatte Petro gesagt, dass ein Fehler seiner Regierung als Bürgermeister von Bogotá die mangelnde Basisbewegung war. "Wir versäumten, Organisationsstrukturen aufzubauen", bestätigt Morris. "Wir irrten darin zu denken – und ich glaube die Ecuadorianer erleben etwas Ähnliches –, dass die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen vor allem den unteren Schichten genügen würde, damit sie die Stadtregierung an den Wahlurnen stützen." Schließlich haben die Bogotaner den konservativen Neoliberalen Enrique Peñalosa als Nachfolger von Petro gewählt. Dem Menschlichen Kolumbien fehle heute immer noch die Kapazität, eine landesweite Basisbewegung aufzubauen. Dazu trage unter anderem ein Mangel an Ressourcen bei. Da die Bewegung der Progressiven keine Partei sei, bekäme sie auch keine staatliche Förderung.

Mit den kolumbianischen Kleinbauern-, Opfer- und Gemeindeorganisationen hat Menschliches Kolumbien vorerst keine organisatorischen Verknüpfungen, eher "gegenseitige Zuneigung und Übereinstimmungen", räumt Morris ein. Nichtsdestotrotz könne man beobachten, dass unzählige unbezahlte Freiwillige die Wahlkampagne Petros mit vollem Engagement unterstützen. Es sind viele Jugendliche dabei. Für sie gilt das gleiche wie für die Zuhörer bei den Wahlreden Petros, die oft Plakate mit dem Text: "Ich kam, weil ich es wollte, nicht weil sie mich bezahlt haben" hochhalten. Ziel sei, so Morris, dass sich "Knotenpunkte" in den Städten und Dörfern bilden. "Wir glauben an die partizipative Demokratie", versichert der Dokumentarfilmer.

Die Vorsätze des Menschlichen Kolumbiens könnten jedenfalls neue Organisationsmöglichkeiten bedeuten; zum Beispiel bei den Solarenergieerzeugenden Netzwerken und den agrarindustriellen Projekten, die in basisdemokratischen Kooperationsformen entwickelt werden sollen oder bei der kommunalen Verwaltung öffentlicher Dienstleistungen sowie bei der lokalen Diskussionen für die verfassunggebende Versammlung, die Petros Regierung einberufen würde.

Die Wahlen

Vorerst steht offen, ob sich die Erfolge von Menschliches Kolumbien in den Umfragen in Erfolge an den Wahlurnen verwandeln werden. Auf der einen Seite stehen die Gegner des Friedensvertrags, nämlich die ultrarechten Parteien Centro Democrático (CD) mit Álvaro Uribe im Hintergrund, Radikale Veränderung (Cambio Radical, CR) mit Germán Vargas Lleras und die Konservative Partei. Sie verfügen über eine mächtige politische Maschinerie.  Der fundamentalistische Katholik Alejandro Ordóñez, der Ex-Verteidigungsminister Juan Carlos Pinzón und die frühere Verteidigungsministerin Marta Lucía Ramírez gehören auch zu diesem Block. Auf der anderen Seite stehen als Befürworter des Friedensabkommens der damalige Chef der Friedensdelegation der Regierung, Humberto de La Calle, der neoliberale Sergio Fajardo, Kandidat der Koalition zwischen den Grünen und dem linksgerichteten Polo Democrático, die Aktivistin Piedad Córdoba und Gustavo Petro. Für die Parlamentswahlen hat sich die Bewegung Menschliches Kolumbien mit der kleinen Mitte-Links-Partei Asi und der indigenen Partei Mais in der gemeinsamen Wahlliste "Anstand" (Decencia“) zusammengeschlossen.

Offiziell wird Gustavo Petro nach den Parlamentswahlen Präsidentschaftskandidat. An dem Tag entscheiden die Wähler auf einem getrennten Wahlzettel, ob er der Kandidat der Koalition zwischen den Bewegungen Menschliches Kolumbien und Bürgerkraft (Fuerza Ciudadana) wird. Sein Konkurrent ist der linke Ex-Bürgermeister von Santa Marta, Carlos Eduardo Caicedo. Das eigentliche Ziel dieser Wahl ist ein Kräftemessen mit den Ultrarechten der CD. Denn diese Partei führt am selben Tag eine Kandidatenwahl durch und der mögliche Gewinner ist der Schützling von Álvaro Uribe, Iván Duque. Es geht also darum zu sehen, wie viele Wähler sich bei welchen der beiden Kandidatenwahlen beteiligen. Dies sei im Hinblick auf den plötzlichen Aufstieg von Duque in den letzten Umfragen auf den ersten Platz neben Petro, sowie auf die Voraussagen, dass die CD die großen Gewinner bei den Parlamentswahlen sein könnten, nicht unwichtig, erklärte der 57-Jährige in einem Interview.