Wachsende Arbeitslosigkeit, ein Anstieg der Armut, immer mehr Menschen, die auf der Straße enden, weil sie die Miete nicht mehr bezahlen können; Eltern, die entscheiden müssen, ob sie ihren Kindern den Bus zur Schule oder Essen bezahlen; Häuser ohne Strom und Gas – Situationen, die in dem immer tiefer in die Krise rutschenden Argentinien inzwischen zum Alltag gehören.
"Wenn ich weniger als 18 Stunden am Tag arbeite, dann komme ich nicht über die Runden", berichtet Javier. Er ist Taxifahrer in einem Außenbezirk von Buenos Aires. "Heute endet mein Arbeitstag gegen 24 Uhr und morgen muss ich schon wieder um sechs Uhr früh raus. Es gibt kaum noch Arbeit. Die Leute können sich ein Taxi nicht mehr leisten." Das liegt an dem starken Kaufkraftverlust aufgrund der Inflation und zudem ist der Benzinpreis seit Beginn des Jahres von 25 auf fast 40 Pesos (etwa 1 Euro) pro Liter angestiegen.
Tatsächlich musste sogar der argentinische Präsident Mauricio Macri in seiner Fernsehansprache vom 3. September eingestehen, dass sich die Lebensbedingungen vieler Argentinier in diesem Jahr verschlechtert haben. Auch wenn er dafür äußere Bedingungen und natürlich das "schwere Erbe der Ära Kirchner" verantwortlich macht. Damit meint er das Erbe von Néstor (Präsident von 2003–2007, 2010 verstorben) und dessen Frau Cristina Fernández de Kirchner (Präsidentin von 2007–2015), die einen staatsinterventionistischen Wirtschaftskurs pflegten.
Macris Verweis auf das Erbe der Kirchners ist wohlfeil, denn das zentrale Problem liegt vielmehr darin, dass die rechtskonservative Regierungskoalition Cambiemos die argentinische Wirtschaft in eine massive Abhängigkeit vom US-Dollar und den internationalen Finanzmärkten getrieben hat. Die mehr als 100-prozentige Abwertung des Peso in diesem Jahr hat die Inflation in die Höhe getrieben. Bereits im September lag diese bei über 32 Prozent. Die ohnehin schon mageren Gehälter wurden nicht entsprechend angepasst, weshalb der Konsum dramatisch eingebrochen ist. Dazu kommt die Verteuerung von Strom, Gas und Wasser. Das trifft vor allem die armen Haushalte und geht zu Lasten der Grundbedürfnisbefriedigung.
"Ich bekomme eine Sozialhilfe vom Staat von 5.750 Pesos (etwa 133 Euro) und ein wenig Geld für die Kinder, aber das reicht hinten und vorne nicht. Und Arbeit kriege ich nicht, nicht mit den Kindern und ohne Schulabschluss“, erzählt Rocio. Rocio ist 23 Jahre alt, Mutter von drei Kindern und besucht jeden Abend eine Volkshochschule im Armenstadtteil Villa 31, um die Oberstufe abzuschließen. Um heute in Argentinien nicht als arm zu gelten, muss eine Familie im Monat mehr als 22.000 Pesos (etwa 510 Euro) verdienen. Für mehr als ein Drittel der Bevölkerung des Landes liegt das außer Reichweite. "Bis Anfang dieses Jahres konnte ich meinen Kindern wenigstens noch jeden Tag ein vernünftiges Essen auf den Tisch stellen, aber jetzt haben wir nicht mal mehr Geld, um das Gas zum Kochen zu bezahlen. Zum Glück gibt es die Gemeinschaftszentren, wo ich die Kleinen hinschicken kann. Dort bekommen sie auch etwas zu essen, aber wenn du da nicht früh hingehst, kommst du nicht mehr rein. Zu viele Leute haben Hunger", berichtet Rocio weiter.
Doch es sind nicht nur die Lebensmittel, die fehlen. "In unser Viertel kommt nicht mal der Krankenwagen, weil die Straßen nicht asphaltiert sind. Kindertagesstätten oder eine Schule gibt es nicht und jedes Mal, wenn es regnet, steht mein Haus unter Wasser, weil die Regierung die versprochenen Abwasserkanäle nicht baut", erzählt Ana. Sie lebt im sogenannten zweiten Gürtel, in der Stadt La Matanza, nur etwa 30 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Buenos Aires. Hier ist die Situation besonders prekär. Etwa 45 Prozent der Menschen können die Nebenkosten nicht mehr bezahlen. Nicht selten muss in Schulen der Unterricht nach zwei Stunden abgebrochen werden muss, weil es kein Wasser gibt. Die Provinzgouverneurin und Parteigenossin Macris, Maria Eugenia Vidal, investiert aber lieber in mehr Polizei auf den Straßen.
Die sozialen Bewegungen im Land, vor allem jene, die in den ärmsten Stadt- und Landesteilen mit den Menschen arbeiten, sind besorgt. Gonzalo vom Bündnis Vamos berichtet: "Seit Juni, als der Peso dermaßen an Wert verloren hat, ist es für uns noch schwerer geworden, den sozialen Unmut in den Vierteln einzudämmen. Die Menschen sind wütend auf Macri. Sie fühlen sich betrogen. Er hat eine Reduzierung der Armut und mehr Arbeit versprochen, aber genau das Gegenteil ist eingetroffen. Außerdem hat er den Internationalen Währungsfonds wieder ins Land geholt, der am Zusammenbruch der Wirtschaft im Jahr 2001 beteiligt war. Das sind alles Faktoren, die dazu führen, dass sich die Stimmung immer mehr aufheizt."
Bereits im Dezember 2017 kam es während der Parlamentsdebatte zur Rentenreform zu massiven Ausschreitungen vor dem Kongressgebäude. Auch dieses Jahr könnte es wieder heikel werden für die Regierung, denn mehr als 50 Prozent aller Unternehmen haben für den Dezember Entlassungen angekündigt. Die Regierung kürzt indes weiter im Sozialbereich: Erst kürzlich wurde per Dekret mehr Geld für die Polizei zur Verfügung gestellt, das aus dem Bildungs- und Gesundheitshaushalt abgezogen wurde. Die nun noch besser ausgerüstete Polizei wird vom 30. November bis 1. Dezember Schwerstarbeit zu leisten haben, wenn in Buenos Aires der G-20-Gipfel stattfindet – eine riesige PR-Show für Mauricio Macri. Die Nachricht, die von diesem Gipfel in alle Welt dringen soll, steht fest: Wenn die 20 wichtigsten politischen Repräsentanten der Welt sagen, Argentinien sei auf dem richtigen Weg, dann ist das so. Das argentinische Volk irrt also, wenn es gegen den vom IWF diktierten Haushalt 2019, der auch "Armut per Dekret" genannt werden kann, auf die Straßen geht. Es irrt auch, wenn es an seinem Präsidenten zweifelt, der, während tausende argentinischer Kinder hungrig ins Bett gehen, seine illustren Gäste am 30. November im Colón-Theater bei einem festlichen Abendessen verköstigen wird. Aber wofür hat das Land den Milliardenkredit des IWF, wenn nicht dafür?
Der Text erscheint in der Ausgabe Nr. 534 der Lateinamerika Nachrichten