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Brasilien: Mit "Bum Bum Tam Tam" für die Impfung

Immer mehr kritische Stimmen bezeichnen Bolsonaros Vorgehen als "Genozid" und den Präsidenten selbst als "Nekropolitiker"

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MC Fiotis Remix seines Megahits "Bum Bum Tam Tam" ist als "Vacina Butantan" zur Hymne der Impfkampagne geworden
MC Fiotis Remix seines Megahits "Bum Bum Tam Tam" ist als "Vacina Butantan" zur Hymne der Impfkampagne geworden

Gouverneure, Wissenschaftler:innen und ein berühmter Rapper – sie alle kämpfen in Brasilien gegen die Pandemie. Doch während die zweite Infektionswelle Brasilien erreicht hat, macht Präsident Jair Bolsonaro weiter wie bisher: ideologische Kämpfe und Desinformation statt Impfstoffbeschaffung und einem Plan für die finanzielle Grundabsicherung der Bevölkerung.

Am 1. Januar jährte sich der Amtsantritt von Brasiliens ultrarechtem Präsidenten Jair Bolsonaro zum zweiten Mal. Seine Bilanz ist katastrophal: Mit fast neun Millionen Covid-19-Infizierten steht Brasilien direkt hinter den USA und Indien an dritter Stelle in der weltweiten Rangliste. Trotz eines vergleichsweise guten öffentlichen Gesundheitssystems starben bis Ende Januar nach offiziellen Zahlen rund 220.000 Menschen an dem Virus. Die hohen Infektionszahlen der ersten Welle der Pandemie im August 2020 sind in Brasilien längst wieder erreicht. In fast allen Bundesstaaten steigt die Zahl der Infizierten und Toten steil an. Gleichzeitig sind die Betten in den Intensivstationen in den meisten Bundesstaaten zu fast 100 Prozent ausgelastet. Auf die Planung einer Impfkampagne für die mehr als 210 Millionen Brasilianer:innen verzichteten Bolsonaro und sein Gesundheitsminister General Eduardo Pazuello bisher, auch auf dem internationalen Markt wurden keine Impfstoffe bestellt.

Doch die Regierung Bolsonaro versagt nicht nur bei der Bekämpfung der Pandemie, sondern auch bei der ihrer Folgen. 13 Millionen Menschen leiden Hunger, 14 Millionen sind arbeitslos, die Anzahl der informell Beschäftigten ist auf fast 50 Prozent aller Erwerbstätigen gestiegen. Die Steuereinnahmen sanken 2020 um 6,9 Prozent – und erreichten damit den niedrigsten Wert in zehn Jahren. Der neoliberale Wirtschaftsminister Paulo Guedes bewertete dies als "milden" Rückgang und "angesichts der Pandemie exzellentes Ergebnis". Inmitten all dieser Notwendigkeiten staatlichen Handelns bekräftigte Bolsonaro am 26. Januar noch einmal, dass die Deckelung der staatlichen Ausgaben nach dem seit 2016 gültigen Verfassungszusatz Nr. 95 unbedingt einzuhalten sei.

Es ist also nicht verwunderlich, dass inzwischen 68 Anträge auf Amtsenthebung von Präsident Bolsonaro gestellt worden sind. Rodrigo Maia, bis Ende Januar Präsident der Abgeordnetenkammer, behandelte diese bisher nicht im Parlament, da man „nicht gleichzeitig eine Pandemie bekämpfen und den Präsidenten absetzen“ könne. Es ist zu befürchten, dass sich bei der Neuwahl der Präsident:innen beider Parlamentskammern zumindest einer der beiden Kandidaten von Bolsonaro durchsetzen wird – im Senat mit Unterstützung der Arbeiterpartei PT.

In den vergangen zwei Wochen haben Zivilgesellschaft und parlamentarische Opposition intensive Anstrengungen unternommen, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro in Gang zu setzen. Der weiterhin bestehende Mangel an medizinischem Sauerstoff in der Millionenstadt Manaus, durch den mindestens 31 Patient:innen erstickten, scheint langsam auch bei der bürgerlichen Opposition zu der Erkenntnis zu führen, dass sich Brasilien in einem nationalen Notstand befindet. Inzwischen wurde bekannt, dass die Regierung seit Anfang Januar darüber informiert war, dass sich die Sauerstoffreserven in Manaus ihrem Ende näherten, und dennoch nicht reagierte. Damit hat der Vorwurf des crime de responsablidade (etwa: Verletzung der ordnungsgemäßen Amtsführung), der direkt zu einem Amtsenthebungsverfahren führen könnte, weitere Beweiskraft erhalten. Maia stellte angesichts der Situation in Manaus Mitte Januar zumindest in Aussicht, die Anträge auf Amtsenthebung an die zuständige parlamentarische Kommission zu überstellen – allerdings erst nach den Parlamentsferien und damit nach Ablauf seines Mandats. Am 26. Januar wurde ein weiterer Antrag auf Amtsenthebung eingereicht, der dafür spricht, dass die Opposition gegen Bolsonaro wächst: 370 religiöse Amtsträger:innen der katholischen, lutherischen, presbyterianischen, baptistischen und weiterer Kirchen forderten ein sofortiges Impeachment.

Auch auf den Straßen wurde der Protest gegen Bolsonaro wieder aufgenommen. Am Wochenende vom 15. Januar protestierten Brasilianer:innen in vielen Städten lautstark mit panelaços (öffentliches Topfschlagen aus dem Fenster). In São Paulo hieß es dabei in meterhohen Bildprojektionen an Hochhäusern "Ohne Sauerstoff – Ohne Impfstoff – Ohne Regierung" oder "Sofortige Amtsenthebung". Am 23. Januar protestierten – je nach Stadt und berichtendem Medium – Hunderte oder Tausende in Fahrzeugkonvois gegen die Regierung. Mobilisiert hatten viele zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter der Gewerkschaftsdachverband CUT und die linke Partei PSOL, aber auch rechte bürgerliche Bewegungen wie das Movimento Brasil Livre (MBL) und Vem pra Rua.

Es wird erwartet, dass die Proteste im Februar zunehmen werden, wenn die staatliche Nothilfe von 600 Reais (rund 100 Euro) ausläuft. Eine Entscheidung über die Fortsetzung der Hilfszahlungen wurde bisher nicht gefällt. Bolsonaro sprach sich jedoch dagegen aus und begründete seine Haltung damit, dass „ein Notfall kein Dauerzustand“ sei. Wirtschaftsminister Guedes zeigte sich hingegen gesprächsbereit, wenn an anderer Stelle – zum Beispiel in der Bildung – die geplanten Mehrausgaben gestrichen würden. Im Februar sind im öffentlichen Nahverkehr und anderen Bereichen gleichzeitig die regelmäßigen Anpassungen an die Inflationsrate zu erwarten, was Geringverdienende ohnehin hart trifft.

Wenigstens das wochenlange Tauziehen um die Lieferungen von Impfdosen und Grundstoffen für deren Produktion aus Indien und China wurde Ende Januar beendet. Die Regierung des Bundesstaates São Paulo und das biomedizinische Forschungszentrum Instituto Butantan kündigten an, dass das chinesische Unternehmen Sinovac am 3. Februar 5.400 Liter "aktiver pharmazeutischer Stoffe" liefern werde. Damit kann das Instituto Butantan rund 8,6 Millionen Dosen des Impfstoffes CoronaVac produzieren, die ab dem 23. Februar zur Verfügung stehen sollen. Auch die Stiftung Osvaldo Cruz (Fiocruz) in Rio de Janeiro, neben dem Instituto Butantan das wichtigste Zentrum für medizinische Forschung und Impfstoffproduktion, soll Grundstoffe aus China erhalten, um den Impfstoff Oxford/AstraZeneca herzustellen. Die Einrichtungen sollen außerdem zwei Millionen gebrauchsfertige Impfdosen Oxford/AstraZeneca aus Indien und eine noch unbekannte Menge CoronaVac aus China erhalten. Beide Impfstoffe haben eine Notfallzulassung der zuständigen brasilianischen Behörde Anvisa erhalten. Weitere Zulassungen erteilte Anvisa bisher nicht.

Auch wenn diese Aussichten seit langer Zeit die ersten positiven Meldungen zum Thema Covid-19 aus Brasilien sind, gleicht die Menge der voraussichtlich im Februar verfügbaren Impfdosen bei einer Bevölkerung von mehr als 210 Millionen Menschen dem berühmten Tropfen auf den heißen Stein. Fachleute schätzen, dass damit nicht einmal das gesamte medizinische Personal und die besonders gefährdete Bevölkerung geimpft werden könne.

Zu dieser gehört auch die indigene Bevölkerung in Amazonien. Dort sind die Infektions- und Todeszahlen besonders hoch und medizinische Versorgung schwer erreichbar. Die einzigen Intensivstationen für die 62 Gemeinden des Bundesstaates, der 4,5-mal größer als Deutschland ist, befinden sich in Manaus, oft hunderte Kilometer entfernt und nur per Boot oder Flugzeug zu erreichen. Tragischerweise wurden die Impfungen in Amazonien bereits kurz nach Beginn wieder eingestellt, da es zu "Unregelmäßigkeiten" gekommen sei. Quellen aus dem Gesundheitssektor sprechen von 65.000 Impfdosen, die in Manaus verschwunden seien. Zusätzlich wird berichtet, dass zahlreiche Menschen geimpft wurden, die nicht zu den priorisierten Gruppen der Impfliste gehört hätten. Während die gefährliche Amazonas-Mutation des Virus bereits in anderen Bundesstaaten nachgewiesen wurde, prüft man in Manaus nun erst einmal die bisherige Impfpraxis.

Der Gouverneur von São Paulo, João Doria von der wirtschaftsnahen, rechtsliberalen PSDB, bestätigte jüngst öffentlichkeitswirksam die Impflieferung aus China: vor dem Regierungspalast und mit einer Live-Videobotschaft des chinesischen Botschafters in Brasilien, Yang Wanming. Doria, der für die nächsten Präsidentschaftswahlen 2022 als einer der möglichen und gefährlichsten Konkurrenten für Bolsonaro gilt, hat seit Monaten im Alleingang mit China über mögliche Lieferungen von Impfstoff verhandelt. Bolsonaro machte sich über den chinesischen Impfstoff immer wieder öffentlich lustig. Erst im Dezember sagte er bei einer Veranstaltung im Bundesstaat Bahia, dass er bei CoronaVac für nichts garantieren könne: "Wenn sie sich in ein Krokodil verwandeln, ist das ihr Problem!"

Wurde Gesundheitsminister Pazuello im Dezember noch untersagt, einen Vertrag mit dem Instituto Butantan über den Kauf von CoronaVac zu unterzeichnen, änderte Bolsonaro nach der medizinischen Krise in Manaus seine Strategie. Als nach einer Bestellung durch Doria am 15. Januar sechs Millionen Dosen CoronaVac für den Bundesstaat São Paulo aus China eintrafen, versuchte Pazuello diese in die Hauptstadt Brasília umzuleiten. Nach mühsamen Verhandlungen erreichte Doria den Verbleib von 1,5 Millionen Impfdosen in São Paulo. Die übrigen 4,5 Millionen Dosen wurden an andere Bundesstaaten verteilt. Auch die chinesische Zusage der Lieferung für den 3. Februar deklarierte Bolsonaro via Twitter umgehend als Verhandlungserfolg seiner Regierung. Doria konterte, ebenfalls über Twitter: "Ohne die Anstrengungen von São Paulo und die exzellenten Beziehungen, die wir mit China als dem wichtigsten Handelspartner Brasiliens unterhalten, hätten wir mit der Impfung der brasilianischen Bevölkerung nicht einmal begonnen."

Anders als auf bundesstaatlicher Ebene ist die Beziehung zwischen der Regierung Bolsonaro und China angespannt. Laut The Intercept Brasil herrscht zwischen Außenminister Ernesto Araújo, neben Familienministerin Damares Alves und Bildungsminister Abraham Weintraub das ideologisch fanatischste Kabinettsmitglied, und seinem chinesischen Gegenüber Wang Yi seit März 2020 Funkstille. Zu Beginn der Pandemie hatte Präsidentensohn Eduardo Bolsonaro eine diplomatische Krise ausgelöst, indem er China die Schuld für die globale Ausbreitung des Virus zuwies. Ende November legte er nach und beschuldigte die Kommunistische Partei Chinas, den Ausbau der 5G-Technologie nutzen zu wollen, um Brasilien auszuspionieren. Damit unterstützte er Donald Trumps Feldzug gegen das chinesische Unternehmen Huawei. Mit der offenen Parteinahme Bolsonaros und seiner Mitstreiter für Donald Trump hat sich Brasilien außenpolitisch isoliert.

Inmitten all dieser Krisen setzen sich sowohl die gezielte Desinformationspolitik der Bolsonaristas als auch die Androhungen eines Militärputsches weiter fort. Seit Beginn der Pandemie wirbt Bolsonaro für das Malariamedikament Chloroquin. Obwohl wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass Chloroquin kein geeignetes Mittel gegen eine Infektion mit dem Coronavirus ist, bewarb das Gesundheitsministerium noch im Januar die "präventive Behandlung" mit einem "Covid-Set", das verschiedene Medikamente aus (Hydro-) Chloroquin enthielt. Chloroquin wird in Brasilien vom chemisch-pharmazeutischen Labor des Heeres (LQFEx) produziert, das allein von Ende Februar bis Mitte Mai 2020 über eine Million Tabletten und damit das 80-Fache der bisherigen Produktionsmenge herstellte. Bei einem Stückpreis von umgerechnet drei Cent pro Tablette potenziell ein gutes Geschäft. Auch die USA schickten Ende Mai zwei Millionen Dosen Hydrochloroquin nach Brasilien.

Nun untersucht der brasilianische Rechnungshof Ausgaben des Gesundheitsministeriums von mehr als 100 Millionen Reais (rund 15 Millionen Euro) für Hydrochloroquin und andere Medikamente, die von der zuständigen Behörde Anvisa für unwirksam erklärt wurden. Eine Ausgabe der Medikamente über das nationale Gesundheitssystems SUS ist ohne Freigabe der Anvisa jedoch unzulässig.

Angesichts der Untätigkeit der Regierung überrascht es nicht, dass Bolsonaro sich öffentlich gegen Impfungen ausspricht. Er selbst werde "sich keinesfalls impfen lassen" und auch bei seiner Mutter würde er "sehr überlegen", wie jetzt aus einem Videomitschnitt bekannt wurde. Immer mehr kritische Stimmen in Brasilien bezeichnen Bolsonaros Vorgehen deshalb als "Genozid" und den Präsidenten selbst als "Nekropolitiker". Also als einen Politiker, der soziale und politische Macht nutzt, um zu bestimmen, wie manche Menschen leben und manche sterben müssen. Das passt zu einem Präsidenten, dessen Markenzeichen während des Wahlkampfs die aus Daumen und Zeigefinger geformte Waffe war.

Die Wissenschaft jedenfalls organisiert sich immer besser, um in der Gesellschaft Gehör zu finden. Unter dem Slogan Todos pelas Vacinas (Alle für Impfungen) haben sich 14 medizinische Forschungseinrichtungen zusammengeschlossen und am 21. Januar gemeinsam mit Influencer:innen eine interaktive Kampagne gestartet.

Der bekannteste Unterstützer ist der Rapper MC Fioti, der mit "Bum Bum Tam Tam" und 1,5 Milliarden Aufrufen auf Youtube 2017 einen Megahit landete. Jetzt hat er mit "Vacina Butantan" (Impfstoff Butantan) einen Remix gemacht, der bereits zur Hymne der Impfkampagne erklärt wurde und auf Youtube sieben Millionen Klicks in einer Woche erhielt. Das ist mehr als Bolsonaro Follower auf Twitter hat.

Dieser Beitrag ist in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 560 erschienen