Kuba / Politik

Auch in Kuba wird protestiert

Die große Herausforderung für die kubanische Regierung besteht darin, den vielen Stimmen, die sich auf der Insel erheben, zuzuhören und konkrete Antworten zu finden

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Am 11. Juli gab es in mehreren kubanischen Städten teils gewaltsame Proteste gegen die Regierung
Am 11. Juli gab es in mehreren kubanischen Städten teils gewaltsame Proteste gegen die Regierung

Pedro Brieger, Direktor unseres Partnerportals Noticias de América Latina (Nodal)

Jedes Mal, wenn es in Kuba zu Straßenprotesten kommt, scheint es, als ob ein apokalyptisches Szenario eines massiven Aufstandes zum Sturz der kommunistischen Regierung und zum "Öffnen der Schleusen der Freiheit" beginnt. Da Kuba so widersprüchliche Emotionen hervorruft, ist es wichtig, die vielfältigen Faktoren zu analysieren, die die Situation auf der Insel bestimmen.

Es ist klar, dass viele Menschen auf die Straße gegangen sind, um zu protestieren, weil es Unzufriedenheit gibt, die durch die Pandemie noch verstärkt wird. Kein Wunder, dass sie protestieren, schließlich leben in Kuba keine Marsmenschen. Fast überall auf der Welt kam es zu teils massiver Kritik und Protesten gegen Regierungen der Linken oder Rechten wegen ihres fehlerhaften Umgangs mit der Pandemie. In mehreren Ländern gab es Korruptionsskandale bei Impfstoffen, ein Hin und Her von Schließungen und Öffnungen, es gab Leichen auf den Straßen, fehlende Masken und Versorgungsgüter in den Krankenhäusern, es kam zur Bildung von Gruppen von "Impfgegnern", zu Verzögerungen bei Beschaffung und Verteilung. Als ob das nicht genug wäre, mussten zahlreiche Gesundheitsminister zurücktreten. Nicht einmal die Länder, die angeblich am besten auf eine Pandemie vorbereitet waren (die USA und Großbritannien), blieben vom Tod zehntausender Menschen verschont.

Im Vergleich hat die kubanische Regierung die Pandemie viel besser bewältigt als die meisten anderen Länder. In Lateinamerika liegt der Beweis auf der Hand: in der Stadt Rio de Janeiro leben rund sieben Millionen Menschen und 55.000 sind gestorben. In Kuba leben elf Millionen Menschen und 1.500 [Stand 16. Juli. Aktualisiert am 30. Juli: 2.628] sind gestorben. Die Zahlen sind überwältigend. Diejenigen, die auf der Insel Familienmitglieder durch die Pandemie verloren haben, werden durch Zahlenvergleiche natürlich nicht getröstet.

Niemand wünscht sich Todesfälle durch das Virus, und obwohl nach mehr als einem Jahr Pandemie ein wachsendes Bewusstsein darüber besteht, dass es sich um ein globales Problem handelt, richten sich die Proteste gegen die Regierenden. Auch in Kuba. Es nützt wenig zu wissen, dass es in anderen Ländern in der Region schlechter steht, wenn man immer stolz auf das eigene Gesundheitssystem gewesen ist. Die Pandemie ist unerbittlich.

Andererseits wurde die Zunahme von Ansteckungen und Todesfällen in den letzten Wochen durch seit langem bestehende soziale Probleme verschärft. Es gibt Schwierigkeiten mit der Stromversorgung und Stromausfälle, Mängel in der Infrastruktur und beim Wohnraum, Komplikationen bei der Nahrungsmittelproduktion und -verteilung, Klagen über den Einbruch des Tourismus als wichtige Einnahmequelle von Devisen und einen Mangel an medizinischem Bedarfsmaterial, auch für die Herstellung von Impfstoffen.

Aber Kuba ist nicht irgendein Land. Seit fast dreißig Jahren stimmt die Generalversammlung der Vereinten Nationen jährlich mit großer Mehrheit für die Resolution zur "Beendigung der von den Vereinigten Staaten gegen Kuba verhängten Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade", die in diesem Jahr gegen den Widerstand der USA und des Staates Israel bestätigt wurde. Auch wenn es Leute gibt, die sich bemühen zu beweisen, dass Kuba nicht blockiert ist, weil es mit vielen Ländern in Verbindung steht, ist es dumm, die Blockade zu leugnen. Oder glaubt jemand, dass die 184 Regierungen, die dieses Jahr in der UNO gegen die Blockade gestimmt haben, eine Affinität zum kubanischen Sozialismus haben?

Es muss noch einmal gesagt werden: Kuba ist nicht irgendein Land. Deshalb wird, wie bei früheren Gelegenheiten, sobald es einen Protest gibt, ein gigantischer Medienapparat in Gang gesetzt ‒ heutzutage mit zahlreichen gefälschten Accounts in den Netzwerken, wie der Wissenschaftler Julián Macías Tovar belegt ‒, der den "Sturz des castristischen Regimes" verkündet. Hinzu kommt, dass wichtige US-Funktionäre der USA, wie der Bürgermeister von Miami, erneut eine Militärintervention fordern.

Es ist nicht das erste Mal, dass das Ende der Revolution angekündigt wird. 1993 schrieb der Journalist Andrés Oppenheimer das Buch "Castros letzte Stunde - Die geheime Geschichte hinter dem bevorstehenden Fall des Kommunismus in Kuba". Er irrte sich. Sein großer Fehler, wie der vieler anderer, war und ist, dass sie nicht verstehen, dass es 1959 eine echte Volksrevolution gab und sie immer noch die Unterstützung eines großen Teils der Bevölkerung hat.

Sicher sind viele Kubanerinnen und Kubaner gegen den Sozialismus, sie sind nicht mit der Revolution einverstanden und ziehen es vor, in einer kapitalistischen Gesellschaft zu leben, oder in dem Überfluss, der ihrer Vorstellung nach im Kapitalismus für die großen Mehrheiten existiert. Es gibt auch zahlreiche Gruppen junger Menschen, die nach 1959 geboren wurden und sich mit Forderungen organisieren, die typisch für diese Zeit sind, sie sind sehr kritisch und wollen Veränderungen innerhalb der Revolution; und bei vielen Gelegenheiten fühlen sie sich von den Anführern des Landes nicht angehört.

In diesem komplexen und vielschichtigen Szenario besteht die große Herausforderung für die Regierung darin, den vielen Stimmen, die sich auf der Insel erheben, einschließlich denen der Opposition, zuzuhören und konkrete Antworten zu finden. Im Allgemeinen neigen Regierungen dazu, sich angesichts von Protesten zu verschließen und die daraus resultierenden Forderungen zu disqualifizieren. Präsident Miguel Diaz Canel sagte, dass viele davon gerechtfertigt waren. Jetzt ist er am Zug.

https://www.nodal.am/2021/07/la-columna-de-pedro-brieger-en-cuba-tambien-protestan/


Schulterschluss mit Kuba, ohne es zu romantisieren

Gerardo Szalkowicz, Herausgeber von Nodal

Kuba befindet sich erneut im Auge des Hurrikans, wie zyklisch schon seit 62 Jahren. Und die globale Medienmaschinerie, begleitet von einem Mega-Engineering von Bots, hat alle ihre Geschütze aufgefahren, überflutet die Bildschirme und stiftet Verwirrung. Auf dieser Seite der Zündschnur herrscht die automatische Reaktion der unkritischen Verteidigung der Revolution vor, die nicht nur ungenau, sondern in der inhaltlichen Auseinandersetzung auch ineffektiv ist. Gibt es in diesem unkonventionellen Krieg Raum für die Verteidigung Kubas, ohne in binäres Denken und lineare Schlussfolgerungen zu verfallen?

Jeder Blick auf die Insel, der aufrichtig sein will, muss von der allgegenwärtigen Blockade ausgehen, die 1962 von John F. Kennedy verhängt, von allen Amtsinhabern des Weißen Hauses aufrechterhalten und von Trump mit 243 neuen Sanktionen mitten in der Pandemie ausgeweitet wurde. Mit Joe Biden gibt es im Moment nichts Neues unter der Sonne. Die Blockade ist weder abstrakt noch theoretisch: Sie schränkt beispielsweise die Einfuhr von Lebensmitteln und Grundversorgungsgütern wie Medikamenten, Spritzen oder Beatmungsgeräten ein. Der in sechs Jahrzehnten entstandene Schaden beläuft sich auf 144 Milliarden Dollar.

Seit 1992 hat die UN-Vollversammlung jedes Jahr eine fast einstimmige Resolution verabschiedet, in der die Blockade verurteilt wird. Im vergangenen Juni forderten 184 Länder ein Ende der Blockade, und auch diesmal waren nur die USA und Israel dagegen. Sehen wir dies in seiner ganzen Dimension: Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat eine wirtschaftliche und militärische Supermacht ein kleines Land so lange und mit solcher Heftigkeit angegriffen.

Nur eine Handvoll führender Politiker in der Region hat diese unausweichliche Bedingtheit der kubanischen Realität in den Vordergrund gerückt: Lula, Alberto Fernández, Maduro, der neue peruanische Präsident Pedro Castillo (er nannte sie "menschenfeindlich und unmoralisch") und Mexikos López Obrador, der die Heuchelei der USA entlarvte: "Wenn sie Kuba helfen wollten, müssten sie als erstes die Blockade aufheben".

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Beispiellos – und verdächtig – war das Ausmaß der Gewalt einiger Demonstrantengruppen
Beispiellos – und verdächtig – war das Ausmaß der Gewalt einiger Demonstrantengruppen

Kommen wir nun also dem zu, was am 11. Juli explodierte. Die Proteste, die in San Antonio de los Baños begannen und sich dann auf andere Städte ausbreiteten, richteten sich gegen die Unterversorgung, die Lebensmittelpreise, die fehlenden Medikamente und die Stromausfälle. Das Medienszenario war aus dem Ausland mit einer Armee von Trollen und Bots vorbereitet worden, denen es gelang, die #SOSCuba-Kampagne in Stellung zu bringen. So entstand ein beispielloser Tag, vergleichbar nur mit dem "Maleconazo" von 1994, dem Fidel Castro persönlich Einhalt gebot. Beispiellos – und verdächtig – war das Ausmaß der Gewalt einiger Demonstrantengruppen, die Geschäfte plünderten und Streifenwagen angriffen, und ebenso die gewaltsame Reaktion der Polizei, die willkürlichen Verhaftungen und der digitale Blackout.

Die Heterogenität der mobilisierten Sektoren macht es schwierig, sie aus 6.900 Kilometern Entfernung zu charakterisieren. Wir berufen uns auf den Leitartikel der kubanischen Digitalzeitschrift La Tizza: "Diejenigen, die auf die Straße gegangen sind, um zu protestieren, kamen aus dem Volk, dem Teil des Volkes, der durch die unvermeidliche Zunahme der sozialen Ungleichheit am meisten benachteiligt wurde. Dieser Sektor wurde durch die politische Agenda der Konterrevolution aktiviert. Es gab Spontaneität, aber es war auch eine politische und nachrichtendienstliche Operation, die von Akteuren durchgeführt wurde, die sehr wohl die Agenda, um die es geht, genau verstehen."

Wurzeln des 11. Juli

Die Voraussetzungen dafür, das so etwas geschehen würde, waren schon seit einiger Zeit herangereift. Der 2011 eingeleitete wirtschaftliche Reformprozess verlief zu langsam und ineffizient, und während der Pandemie wurde die Verschlechterung der Wirtschaft durch den Einbruch des Tourismus und die Verschärfung der Blockade noch verschlimmert. Die in diesem Jahr durchgeführte Währungsunion führte zu einer Abwertung/Inflation, die dies noch verstärkte und ein ähnliches Szenario erzeugte, wie in der "Sonderperiode" der 1990er Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

In den letzten Jahren sind einige Oppositionsgruppen entstanden, wie die San Isidro-Bewegung, Künstler und Youtuber, die seit der Verbreitung des mobilen Internets im Jahr 2018 eine gewisse Präsenz zeigen. Es besteht kein Zweifel daran, dass es einen Nährboden gibt, der von Washington und Miami aus geschürt und finanziert wurde. Genauso wenig kann man leugnen, dass es einen Teil der Bevölkerung gibt, vor allem unter den Jugendlichen, der auf die Straße gegangen ist, um aufrichtig eine angestaute Unzufriedenheit zum Ausdruck zu bringen. Das offizielle Narrativ "das sind alles Pro-Yankee-Söldner", welches das staatsbürgerliche Unwohlsein unterschätzt, ist daher schwach; der "sanfte Staatsstreich" ist real, erklärt aber nicht den ganzen Film.

Das Problem wird durch die enorme Überdimensionierung und Verzerrung der Tatsachen in der internationalen Presse noch verkompliziert, mit einem Wirbelsturm von Fake News und manipulierten Fotos, von Bildern aus Ägypten, als ob sie aus Kuba kämen, bis hin zu Fotos von Demonstrationen zur Unterstützung der Revolution und der Regierung, die als Oppositionsmärsche dargestellt werden. Und mit der gesamten Rechten der Welt, die versucht, mit der üblichen Doppelmoral davon zu profitieren. Der Gipfel waren Figuren wie Mauricio Macri, der von "Freiheit und Demokratie" predigte, nur wenige Tage nachdem aufgedeckt wurde, dass er den Staatsstreich in Bolivien mit Waffen unterstützt hatte, oder Kommuniqués wie dem der kolumbianischen Regierung, in dem sie zur "Achtung des Rechts auf Protest in Kuba" aufrief, während ihre repressiven Kräfte gerade in zwei Monaten 74 Demonstranten getötet haben.

Freies Kuba oder Rekolonisierung

Das Szenario vom 11. Juli zeigt, dass eine tiefgreifende Überprüfung notwendig ist. Der kubanische Schriftsteller Leonardo Padura analysiert die Ereignisse als "einen Schrei, der aus der Verzweiflung einer langen Wirtschafts- und Gesundheitskrise, aber auch aus einer Vertrauenskrise und dem Verlust von Perspektiven resultiert. Eine Krise, die nicht nur materielle, sondern auch politische Antworten erfordert".

Es ist eine große Herausforderung für die Leitung der Revolution, angesichts so vieler Gegenwinde unmittelbare Lösungen zu finden, aber vor allem längerfristig gesehen das Spiel in Richtung einer vielfältigeren politischen Erneuerung zu öffnen, die ihren Anachronismus korrigiert. Ein Gespür für den historischen Moment zu haben, um, wie Fidel es ausdrückte, "zu ändern, was geändert werden muss".

Kuba ruft immer konträre Leidenschaften hervor. Weil es einen Weg der Souveränität gewählt hat. Und weil es eine Bastion des Widerstands und eine Alternative zum Kapitalismus ist. Aus diesem Grund sind die USA seit 62 Jahren davon besessen, Kuba zu ersticken und seine Revolution zu zerstören. Eine Revolution, die sich transformieren muss, aber auf der Grundlage des Kurses, den die Kubanerinnen und Kubaner bestimmen, ohne kriminelle Blockaden und ausländische Einmischung.

https://www.nodal.am/2021/07/cerrar-filas-con-cuba-sin-romantizarla-por-gerardo-szalkowicz/