Peru

Peru, der Aufschrei der ewig Unterdrückten

Das Parlament ist zum größten Feind des demokratischen Lebens geworden. Erst hat es Castillo nicht regieren lassen, jetzt verhindert es eine friedliche Lösung der Situation

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Eine Hauptforderung der Proteste in Peru ist die Schließung des Kongresses
Eine Hauptforderung der Proteste in Peru ist die Schließung des Kongresses

Worum es in Peru geht, ist etwas viel tiefer Gehendes als die Wut angesichts von Pedro Castillos Ungeschicklichkeit und der Reaktion der Ultrarechten und der herrschenden Klassen: Es ist die ewige Wiederkehr der Unterdrückten, der Demütigung und Verachtung von Jahrhunderten, der Zusammenbruch des gesamten politischen Systems, vom Kongress, der von Korrupten und Folterern bevölkert ist, bis hin zum Justizapparat, der an allen nur denkbaren Untaten beteiligt ist.

Deshalb wiederholen die Proteste in Andahuaylas, Ayacucho, Cuzco, Apurímac, Puno, aber auch in Lima den Ruf "sie sollen alle abhauen", selbst ohne zu wissen, was die Zukunft für sie bereithält, die nicht nur von der Oligarchie an der Macht, sondern auch von der Organisation Amerikanischer Staaten, dem Southern Command und Washington beeinflusst wird.

In einer Nation der Armen, in der Wahlpflicht besteht, hatten die Leute zum ersten Mal einen Kandidaten des Volkes gewählt, einen Grundschullehrer bäuerlicher Herkunft, der geltend machte, ihre Interessen zu vertreten. Diejenigen, die protestieren, werden von der Rechten als Terroristen gebrandmarkt. Und Dina Boluarte hat sich auf dieses Spiel eingelassen und die Armee auf die Straße geschickt.

Dies verdeutlicht einen weiteren Bruch, nämlich den zwischen dem hauptstädtischen Zentralismus, der für Keiko Fujimori gestimmt hat, und den Provinzen mit einem hohen bäuerlichen und indigenen Anteil, die Castillo gewählt haben.

Die akute peruanische Krise löste auch eine wichtige geopolitische Auseinandersetzung aus. Die USA und Chile unterstützen Boluarte, aber ein breiter lateinamerikanischer Block ‒ Mexiko, Kolumbien, Argentinien, Bolivien und Honduras ‒ fordert die Wiedereinsetzung Castillos.

Kolumbiens Präsident Gustavo Petro betonte, dass die peruanische Justiz einen Rechtsverstoß begeht, indem sie Castillo in Haft hält, was die Möglichkeit dieses Landes beeinträchtigt, an der ersten Konferenz der lateinamerikanischen Präsidenten teilzunehmen, um eine neue Antidrogenpolitik zu entwerfen; ein Treffen, das er zusammen mit dem mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador geplant hatte.

Unterdessen prangerte der Vorsitzende der Konföderation der indigenen Nationalitäten Ecuadors (Conaie), Leonidas Iza, die brutale Repression und den übermäßigen Einsatz von Gewalt gegen die Bevölkerung in Peru an und forderte die Behörden des Landes dazu auf, die Gewalt zu beenden und Räume für einen Dialog mit den mobilisierten Sektoren zu öffnen.

¿Dejá vu?

Castillos Persönlichkeit, seine Unerfahrenheit, spielten eine zentrale Rolle bei den Ereignissen. Bei mehr Erfahrung hätte die peruanische Reaktion nicht die gleichen Resultate erzielt.

Etwas aus den den blutigen 1980er Jahre scheint sich zu wiederholen: die Anden gegen die Küste, die Aymara- und Quechua-Gemeinschaften und Völker im Kampf gegen einen völkermordenden Staat, die Armen des Hochlandes gegen fünf Jahrhunderte der Unterdrückung. Was heute geschieht, ist die gewalttätigste und umfassendste Repression seit dem Sturz der Diktatur von Alberto Fujimori (1992-2000).

Um die Krise noch zu verschärfen, lehnte der Kongress eine Verfassungsreform ab, mit der die für 2026 vorgesehenen Parlamentswahlen auf Ende 2023 vorgezogen werden sollten, und schloss damit eines der wenigen zur Verfügung stehenden Ventile, um das Chaos abzuwenden, in das das Land stürzte, als die Legislative selbst den demokratisch gewählten Präsidenten Pedro Castillo absetzte und Dina Boluarte an seine Stelle setzte.

Mit ihren Entscheidungen macht diese parlamentarische Diktatur deutlich, dass sie lediglich die korrupte und rassistische Oligarchie vertritt, die bereit ist, alles zu tun, um jede Veränderung zu verhindern, die ihre eiserne Kontrolle bedroht oder die darauf abzielt, die Gewinne aus der Ausbeutung der enormen natürlichen Ressourcen des Landes auf die gesellschaftlichen Mehrheiten zu verteilen. Es sollte nicht vergessen werden, dass diese Oligarchie über die uneingeschränkte Unterstützung der Massenmedien und der Militärs verfügt.

Rassismus, Kaltschnäuzigkeit, Zynismus, die Unverfrorenheit von Interessengruppen, die es gewohnt sind, straflos zu agieren, haben schließlich dazu geführt, dass ‒ wieder einmal ‒ Menschen in ganz Peru in Aufruhr geraten sind. Politik aus Verachtung heraus zu machen, hat schwerwiegende Folgen.

Aus dem Gefängnis heraus ist Castillo zu einem Symbol oder zu einer Projektion geworden: Er gehört zu uns, für ihn haben wir gestimmt, ihn haben wir gewählt, er ist einer wie wir, ist "cholo", ist arm, ist indianisch, ist ausgegrenzt, er ist ein Bauer, er ist ein "Niemand", betonen die, die ihn verteidigen und dabei ihr Leben aufs Spiel setzen; und sie verteidigen damit – vielleicht ohne sich dessen bewusst zu sein – ihr Votum, den popularen Willen (das, was man Demokratie nennt), trotz aller Schmähungen, gegen die großen Machtgruppen zu kämpfen, gegen die Verleumdung und Verhöhnung.

Da sie die wachsenden Demonstrationen nicht einzudämmen vermochte, bei denen bereits mehr als zwei Dutzend Menschen ums Leben kamen und mehr als 500 verhaftet wurden, verhängte die neue Regierung in 15 Provinzen eine Ausgangssperre. Der Druck wird auf den Straßen und mit Blockaden auf mehr als hundert Landstraßen in mindestens 13 der 24 Departamentos des Landes aufrecht erhalten. Im Süden blieben fünf Flughäfen in den Provinzen Andahuaylas, Arequipa, Puno, Cuzco und Ayacucho geschlossen.

Das Handeln des Kongresses schmälert nicht die Verantwortung von Boluarte, die beim Ablauf der Ereignisse eine Komplizenrolle spielte ‒ ohne Legitimität, durch ihre autoritäre Reaktion auf den Volksaufstand in Verruf geraten und für die Toten und Verletzten verantwortlich.

Der Staatsstreich "der Herrschaften", der in Lima vollzogen wurde, enthüllt einmal mehr den trügerischen Charakter der "Demokratie" made in USA. Seit die Demokratie auf einen fetischistischen Institutionalismus reduziert wurde, wird die Demokratie selbst als diskursive Garantie für die Verteidigung der bestehenden Ordnung missbraucht, mit anderen Worten, die Demokratie hört auf, Demokratie zu sein, um gerade mal ein politisches Abkommen der Machthaber zu sein, wie [der bolivianische Dichter und Philosoph] Rafael Bautista erklärt.

Das Volk interessiert nicht, das Subjekt der Demokratie wird verdrängt und die Macht entledigt sich der Legitimität, die Politik wird zu einem Markt, der der Gnade der Spekulanten ausgeliefert ist. Die Anwesenheit des Volkes stört seine Herren, weil sie die Geschäfte verzögert, denn die Zeitplanungen des Kapitals erlauben keinen Aufschub und kein Zögern.

Für Washington gerät die Demokratie seit einem halben Jahrhundert dann in die Krise, wenn das Volk zum Protagonisten wird; deshalb ist die Regierbarkeit seither zum einzigen demokratischen Dilemma geworden.

Die Analyse von Béjar

"Wir haben in Peru eine Diktatur, es ist eine Militär- und Polizeidiktatur, sie sind es, die regieren, nicht die Präsidentin: Wir befinden uns in einem revolutionären Moment, aber ohne Revolutionäre", sagt Héctor Béjar, der 19 Tage lang, vom 29. Juli bis zum 17. August 2021, Außenminister seines Landes war, als der inzwischen abgesetzte Präsident Pedro Castillo sein Amt antrat.

Das Traurige ist, dass diejenigen, die heute an der Regierung sind, mit einer ähnlichen Naivität wie Castillo glauben, dass sich die Menschen beruhigen und der Wirbelsturm vorbeigehen wird, wenn man nur die Zeit verstreichen lässt. Dies ist die Rache der korrupten Eliten, der Techno-Bürokratien, die auch den Kongress und die Judikative beherrschen, gegen Peru als Ganzes. "Wir sind in den Händen einer Dame, die eine Art Lenín Moreno (der ehemalige ecuadorianische Präsident) mit Röcken ist, denn anstatt auf den gerechten Protest des Volkes mit Dialog zu antworten, hat sie die Armee geschickt", fügte er hinzu.

Die Regierung hat behauptet, die Proteste würden organisiert und angeführt von Profis und von Extremisten, die mit den terroristischen und/oder aufständischen Gruppen Sendero Luminoso und Túpac Amaru verbunden sind. Trotz der Bemühungen der Rechten, des Staates und der hegemonialen Medien, die Demonstranten als linke Subversive abzustempeln, zeigt die Realität, dass diejenigen, die auf die Straße gehen, Teil des Volkes sind, das die Nase voll hat von so viel Korruption und Hunger. Die "Niemande".

Es ist nicht die Linke, auch wenn es viele Linke in den sozialen Volksorganisationen gibt, denn diese Rebellion wird spontan von einem Teil des Volkes aus eigener Entscheidung heraus durchgeführt. Die traditionelle peruanische Linke ist immer noch mehr daran interessiert, innerhalb des politischen Systems zu bleiben, das von ganz Peru abgelehnt wird.

"Castillo ist ein einfacher Mann, der aus den am weitesten nördlich gelegenen Departamentos kommt, er ist Landlehrer; er ist kein Linker, er ist ein evangelischer Bürger mit seiner ganzen Familie, er ist weder Marxist-Leninist noch Terrorist; sein Verhalten ist unerklärlich, denn er ist ein nationaler Gewerkschaftsführer und hat zwei sehr wichtige Lehrerstreiks angeführt, es ist also nicht so, dass er überhaupt keine Erfahrung hätte", sagt Béjar.

Fakt ist, dass die Rechte ihn nie hat regieren lassen: "Sie haben ihn nicht atmen lassen, die Staatsanwaltschaft ist sogar in sein Schlafzimmer eingedrungen, und er hat während seiner kurzen Amtszeit 'juristische Staatsstreiche' erlebt, wenn man diesen Ausdruck verwenden kann".

Welchen Ausweg gibt es?

Um aus dieser Krise herauszukommen, sind wirklich demokratische Wahlen nötig, die der derzeitige Rechtsapparat jedoch nicht zulässt. Wenn man die Gesamtheit der derzeitigen Bestimmungen beibehält, wird sich dieselbe Geschichte wiederholen. Es gibt keinen Ausweg im Rahmen der aktuellen rechtlichen Situation, alles muss komplett erneuert werden, aber das braucht Zeit.

Der einzige erkennbare Ausweg aus einer Krise, die sich von Stunde zu Stunde verschlimmert, führt über die Forderung nach sofortigen allgemeinen Wahlen und einer verfassungsgebenden Versammlung, die in der Lage ist, eine Magna Carta auszuarbeiten, die der Nation ein funktionierendes, lebensfähiges und den sozialen Erfordernissen entsprechendes politisch-institutionelles Konzept gibt.

Die Abhaltung der verfassunggebenden Versammlung ist keine Laune oder ein Zufall: Sie ist unter den Wahlversprechen des abgesetzten Präsidenten Castillo zu finden und somit Teil des politischen Programms, für das das peruanische Volk bei den Wahlen gestimmt hat.

Für politische Analysten ist das Abstimmungsverhalten der 33 Abgeordneten, die gegen vorgezogene Neuwahlen gestimmt haben, und der 25, die sich der Stimme enthalten haben, Folge einer kriminellen Verantwortungslosigkeit in einer Situation, in der die Zahl der Toten und Verwundeten in die Dutzende und Hunderte geht – Folge der Repression, die das Marionettenregime von Boluarte entfesselt hat, um die Opposition des Volkes gegen ihre Regierung zu brechen.

Das peruanische Parlament ist zum größten Feind des demokratischen Lebens geworden.

Erst hat es die Regierungsarbeit von Castillo systematisch behindert, indem sie ihn unablässig beschimpft und ständig damit gedroht hat, ihn aus dem Amt zu entfernen. Der erste Versuch der Amtsenthebung geht auf den Dezember 2021 zurück, als er gerade einmal vier Monate an der Regierung war. Dann vollzog es – wie man jetzt weiß, mit Wissen und Rückendeckung Washingtons – den Staatsstreich vom 7. diesen Monats. Und eben dieser Kongress verweigert nun eine friedliche Lösung für die tragische Situation, die er durch seine eigene Unvernunft geschaffen hat.

Es ist kein Zufall: Die US-Botschafterin in Lima, Lisa Kenna, hat für die CIA und das Pentagon, das Verteidigungsministerium ihres Landes gearbeitet. Es war kein Zufall, dass Kenna einen Tag vor dem Staatsstreich gegen Castillo mit dem Verteidigungsminister von Peru, einem Brigadegeneral im Ruhestand, zusammengetroffen ist, der dann dem Militär befohlen hat, sich gegen Castillo zu wenden.