Chile / Politik

Acht Millionen zeigen es uns

Analyse zur Wahlverweigerung bei den Kommunalwahlen in Chile. Die Zeitschrift Punto Final beschreibt die politische Situation vor den Präsidentschaftswahlen 2013 und fordert eine neue Verfassung

concertacion_0.jpg

"Concertación. Stellt euch nicht blöd. Ihr habt auch die Bildung verkauft" – Parole gegen das Mitte-Rechts-Bündnis bei den Schüler- und Studierendenprotesten im Juni 2011
"Concertación. Stellt euch nicht blöd. Ihr habt auch die Bildung verkauft" – Parole gegen das Mitte-Rechts-Bündnis bei den Schüler- und Studierendenprotesten im Juni 2011

Der erstaunlich hohe Anteil von Nichtwählern bei den Kommunalwahlen als der markanteste Aspekt jenes 28. Oktober hatte eine unvorhersehbare Konsequenz. Die politische Klasse, die zu 60 Prozent selber durch Abwesenheit glänzte, hat auf ihre orientierende Rolle verzichtet. Wie ein gerupfter Vogel Strauß hat sie den Kopf aus Scham vor ihrer Niederlage in den Sand gesteckt. Sie ist und bleibt taub und unsensibel gegenüber einem politisch-sozialen Phänomen, das die Grundfesten der Institutionalität in Frage stellt. Sie tut so, als ob sie die Strafe ignorieren könne, die sie für ihre Fahrlässigkeit im letzten Viertel Jahrhundert erhalten hat. Sie hat es nicht einmal gewagt, die dringenden Reformen auch nur anzureißen, die eine von der Diktatur ererbte Institutionalität braucht, welche in oligarchischen Parteistrukturen erstickt.

Der Wachturm der herrschenden Klassen, die Tageszeitung El Mercurio, hat es dagegen ganz klar und sofort erkannt. Schon am folgenden Tag bezeichnete sie die Nichtbeteiligung an den Wahlen als eine "Tatsache von großer politischer Bedeutung, die nicht nur die politische Klasse in Alarm versetzen sollte, sondern alle Sektoren des Landes."

Diese Diagnose, die der Präsident der Republik schon in der Nacht der Stimmenauszählung vorbrachte, und die auch die Soziologin Marta Lagos vergeblich versuchte, als Thema im TV-Kanal 13 zu platzieren, zerplatzte wie eine Seifenblase. Einige oppositionelle Führer erwähnten sie nicht einmal. Die Stimmenthaltung wurde zu einem ungebetenen Gast in der Politik. Alle tun so, als ob sie ihn nicht sähen. Nicht einmal 48 Stunden nach dem Desaster legten die politischen Vorstände alles zu den Akten und wandten sich – mit einem Enthusiasmus, der einen besseren Grund verdient hätte – der Vorbereitung der Wahlen im kommenden Jahr zu. Die Kandidaten für den Präsidentenpalast La Moneda und das Parlament, die Bündnisse und Allianzen, die Sitze für die Abgeordneten und Senatoren, die Programme, die um die Wähler buhlen sollen, alle ignorierten die monumentale Stimmenthaltung, die vielleicht sogar das wichtigste politische Ereignis der letzten beiden Jahrzehnte ist.

Die politische Klasse hat sich von der Außenwelt abgeschottet, um zu verhindern, dass auch nur ein winziger Funke von Zweifel aufkommt. Führende Vertreter von Rechts, Mitte und denen, die sich Links nennen – inzwischen jedoch zu treuen Wegbegleitern der Concertación1 geworden sind – haben sich im Kreis ihrer politischen Akteure eingeschlossen. Wenn sich die Parteien vor ihrer Pflicht drücken, die Wahlenthaltung zu analysieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, werden die sozialen Kollektive und Organisationen diese Aufgabe zweifellos wahrnehmen – und letzten Endes – jeder einzelne Bürger.

Nicht zur Wahl zu gehen ist ein Zeichen der mehrheitlichen Ablehnung der politischen Klasse, die Enthaltung zeigt aber auch, dass eine Alternative fehlt. Diese Feststellung führt zu der notwendigen Schlussfolgerung, klar und unbeirrt den Weg zu einer partizipativen Demokratie und zu sozialer Gerechtigkeit aufzuzeigen. Um zu einem Regierungssystem zu kommen, das zur politischen Aktivität und zur ständigen Einbeziehung der Bürger aufruft. Der Weg zu diesen Zielen führt über eine verfassunggebende Versammlung, die eine demokratische Verfassung erarbeiten und dem Volk vorschlagen muss. Um dieses Ziel zu erreichen, ist es jedoch erforderlich, in der Zwischenzeit die Herausbildung einer starken politischen und sozialen Kraft voranzutreiben, die fähig ist, die Rolle der Politik als eine tägliche Aufgabe der ständigen Verbesserung der Gesellschaft gegenüber dem Volk wieder zu übernehmen.

Was die acht Millionen nicht wählenden Bürger zeigen ist keine Politikmüdigkeit. Im Gegenteil, ihre Stimmenthaltung zeigt vielmehr, dass Chile mehr Politik und mehr Beteiligung des Volkes braucht, um die politisch manövrierenden Praktiken zu begraben. Die künftige Führung des Landes als Ergebnis einer wirklich demokratischen politischen Verfassung muss sich großen Herausforderungen stellen wollen. Nur so wird man das Volk zusammenführen und soziale Mehrheiten bilden können, einschließlich einer Politik, die die gesamte reaktionäre Verschwörung überwinden kann.

Auf jeden Fall haben die Kommunalwahlen Elemente beleuchtet, die für ein alternatives Projekt in Betracht zu ziehen sind. Die Zahlen sind inspirierend. Die automatische Wahlregistrierung ließ die Anzahl der Wahlberechtigten um 5,3 Millionen Bürger ansteigen, vorwiegend Jugendliche, die sich der Registrierung bisher verweigert hatten und die auch jetzt nicht zur Wahl gegangen sind. Im Melderegister stehen nunmehr 13.143.639 Bürger, aber nur 5.261.069 – fast genauso viel wie neu registrierte Wahlberechtigte – wählten die Bürgermeister der 345 Kommunen des Landes. Es gab eine Nichtbeteiligung von 60,8 Prozent, wobei man noch 250.000 ungültige und leere Stimmzettel dazu zählen muss. Es gingen sogar noch 825.826 Bürger weniger zur Wahl als bei den Kommunalwahlen am 26. Oktober 2008, als die Nichtbeteiligung trotz damals herrschender Wahlpflicht bereits 17,4 Prozent erreichte.

Massiv ist die Nichtwahlbeteiligung in den urbanen Zentren und bei den Jugendlichen. Vor allem in den Kommunen mit hohem und mittlerem sozio-ökonomischem Niveau. Der politische Hintergrund ist vielfältig: Zu den Nichtwählern gehören bedeutende konservative Kreise genauso wie Teile der Linken, was alles auf eine Erschöpfung des Systems hinweist. Mit den halbleeren Wahllokalen und welchen, in denen während des ganzen Tages keine einzige Wahlstimme abgegeben wurde, erreichte die Wahlenthaltung in einigen Kommunen 78 Prozent. Die Presse-, Radio- und TV-Kampagne, die zur Wahl aufgerufen hatte, ist knallhart gescheitert. Die Mehrheit der Bürgermeister der urbanen Kommunen wurde durch eine Minderheit gewählt. In Santiago vertritt die neue Bürgermeisterin nur 15 Prozent der Wahlberechtigten der Gemeinde. Andernorts ist es noch schlimmer. Im durch kommunale Korruption in Verruf geratenen Arica betrug die Wahlbeteiligung nicht einmal elf Prozent und in Recoleta, Puerto Montt oder La Reina lag sie etwas über dreizehn Prozent.

Diese Zahlen wirken wie ein Begräbnis für die politische Klasse. Vor allem für die erweiterte Concertación, die sich selbst betrügt, da sie dieses Mal prozentual höhere Stimmenanteile für die Bürgermeister und Stadträte bekommen hat. Die Concertación und ihr Begleiter legten zwei Listen vor – die Kommunistische Partei war auf beiden Listen vertreten und gewann ihre traditionellen sechs Prozent. So gelang es, die rechte Coalición por el Cambio zu überflügeln und die Niederlage von 2008 umzukehren. In diesem routinemäßigen Panorama vermisste man die Diskussion über Ideen und die Auseinandersetzung mit Projekten.

Hervorzuheben sind Ausnahmen in den Kommunen Providencia, Ñuñoa und Santiago, wo drei Frauen – Josefa Errázuriz, Maya Fernández Allende und Carolina Tohá – Bürgermeister der extremen Rechten ablösten. Providencia fiel besonders auf, weil die Kandidatur von Errázuriz von den Nachbarschaftsorganisationen getragen wurde, die bereits zu Beginn die Kandidaten der Concertación und des liberalen Sektors ausgeschaltet hatten. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe war der Sieg von Maya Fernández Allende, Enkelin des Präsidenten Salvador Allende, in Ñuñoa noch nicht sicher.

Die Gründe der Nichtwahl sind vielfältig und niemand kann sie mit vollständiger Sicherheit benennen. Es ist ein sehr gründliches Studium notwendig, um Schlussfolgerungen zu ziehen, die auch Bestand haben. Zumindest kann lässt sich feststellen, dass sich darin die Unzufriedenheit des Volkes mit dem regierenden System widerspiegelt. Ein bedeutender Anteil der Nichtwähler – unmöglich jetzt hier zu quantifizieren – entspricht einem Sektor, der das System bewusst ablehnt und der Wege zu einer Alternative sucht. Es sind vor allem Jugendliche gewesen, wie die, die in der Asamblea Coordinadora de Estudiantes Secundarios (ACES) vertreten sind, die zum Nichtwählen aufgerufen hatten. Es ist der Aufruf zu grundlegenden institutionellen, politischen und sozio-ökonomischen Veränderungen. Gerade diese großen Themen wurden im Wahlkampf nicht angesprochen.

Der Enthusiasmus der Jugendlichen, sich an den Wahlen zu beteiligen und zur Vertiefung der Demokratie beizutragen und soziale Gerechtigkeit zu befördern ging immer mehr in dem Maße zurück, wie die Concertación im Sumpf ihrer eigenen Inkonsequenz versank. Die Wahl von Ricardo Lagos (1999) läutet die "beiden Umkehrungen" bei den Präsidentenwahlen ein. Sowohl Lagos als auch Michelle Bachelet zogen dank der sechs Prozent der KP in den Präsidentenpalast Moneda ein. Aber selbst diese Rettungsaktion brachte nicht die erhofften Ergebnisse beim zweiten Anlauf des Christdemokraten Frei Ruiz-Tagle im Jahre 2009. Und es wird wahrscheinlich auch nicht zur Wiederwahl von Michele Bachelet im Jahre 2013 reichen. Umso notwendiger wird es für sie, und hier sehen sich vor allem die Christdemokraten und die Sozialistische Partei in der Pflicht, die Concertación in Richtung Mitte zu erweitern und die KP sowie "Heckenschützen"-Parteien wie die PRI – die mit der anderen Rechten im Gespräch ist – aber auch die PRO und die MAS2 einzubeziehen.

Die Taktik, die die von den Christdemokraten und der Sozialistischen Partei geführte Concertación verfolgt, hat die linksgerichteten Tendenzen (PPD und PRSD) bereits zerstört und damit verfügt sie über viele Möglichkeiten wieder an die Regierung zu kommen. Ihre zentristische Linie ging aus den Kommunalwahlen gestärkt hervor. Die Liste von PPD, PRSD und KP erreichte nur 13,7 Prozent, während die Christdemokraten und die Sozialistische Partei auf 29,4 Prozent kamen. Andererseits gibt die ökonomische Rechte zu verstehen, dass sie ihren Einsatz (und ihre finanzielle Unterstützung) auf die Concertación umverlagern will. In einem tränenreichen Leitartikel vom 29. Oktober schreibt El Mercurio, dass das Unternehmertum der rechtsgerichteten Koalition die wirtschaftliche Unterstützung entzogen hat: "Der private Sektor hat die bitteren Erfahrungen der 1970er Jahre vergessen. Diese Finanzquelle der Politik ist heute virtuell nicht vorhanden …"

Die politische Rechte hat sich nicht in der Lage gezeigt, so zu regieren, wie es das Unternehmertum dieses Landes fordert. Es geht um eine Unternehmerklasse, die während der Diktatur entstanden ist, in einem neoliberalen Umfeld, und deren Interessen unter den Regierungen der Concertación bevorzugt bedient wurden und die schwindelerregende Gewinne gemacht hat. Die Regierung von Piñera – die sich in nichts von jener der Concertación unterscheidet –, hat das Land jedoch an den Rand der Unregierbarkeit gebracht, indem sie die Interessen der herrschenden Klasse gefährdet hat. Der soziale Protest hat die für gute Geschäfte notwendige Ordnung hochgradig in Gefahr gebracht. Aus dieser Perspektive sieht man, dass die traditionelle Rechte als Opposition viel besser ist als an der Regierung. Demgegenüber würde eine Richtung Mitte erweiterte Concertación mit der KP an Bord den sozialen Frieden garantieren, was die Hauptforderung der Unternehmer ist.

Obgleich die Nichtbeteiligung eine harte Strafe für die politische Klasse war, erfreut sie sich trotzdem noch guter Gesundheit, da keine Alternative vorhanden ist, die notwendigerweise aus der Linken kommen muss, da das concertistische Mitte-Links-Bündnis das Gleiche darstellt wie das Mitte-Rechts-Bündnis. Somit regieren die beiden rechten Flügel weiter, weil bisher keine patriotische und demokratische Volksalternative entstanden ist, die in der Lage ist, die Macht zu übernehmen. Es handelt sich um einen schwierigen Prozess, der seine Zeit braucht. Die gekünstelten Anstrengungen diesen Prozess zu beschleunigen, haben sich als unnütz erwiesen, wenn nicht sogar als kontraproduktiv. Trotzdem muss man sich jetzt so schnell wie möglich an die Arbeit machen. Das heißt, die sozialen Proteste unterstützen, organisieren, bewusst machen, Widerstand leisten und koordinieren. Es ist der Weg zum Aufbau einer unabhängigen antikapitalistischen Mehrheit. Acht Millionen Bürger haben gesagt, dass sie ein anderes Land möchten. Das glauben auch viele, die für Kandidaten gestimmt haben, die einen anderen Vorschlag verkörperten.

Eine beeindruckende Mehrheit ist für Veränderungen. Hier muss man den Samen für eine Volksalternative legen.


Der Text erschien als Editorial der Zeitschrift Punto Final Ausgabe Nr. 770 am 9. November 2012.

  • 1. Das Bündnis "Koalition der Parteien für die Demokratie" (Concertación de Partidos por la Democracia) ist ein Zusammenschluss aus Christ- und Sozialdemokraten. Christlich-Demokratische Partei Chiles (PDC) und Sozialistische Partei Chiles (PS), sowie zwei sozialistischen Parteien, Partei für Demokratie (PPD) und Radikale Sozialdemokratische Partei (PRSD). Christ- und Sozialdemokraten stellten von 1990 bis 2010 die Präsidenten des Landes.
  • 2. Die Regionalistische Partei der Unabhängigen (PRI) ist eine Abspaltung der Christdemokraten. Sie erreichte 7,64 Prozent der Stimmen bei den Kommunalwahlen. Sie ist für ein Bündnis mit der rechten Allianz im Gespräch. Die Fortschrittliche Partei (PRO) ist die Wahlplattform des ehemaligen sozialistischen Politikers Marco Enríquez-Ominami. Sie erlangte 4,51 Prozent. Die Breite Soziale Bewegung (MAS), eine Wahlplattform des Senators Alejandro Navarro erlangte 1,19 Prozent.