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Hugo Chávez und der "Caracazo"

Amerika21.de-Kolumnist Ignacio Ramonet im Gespräch mit dem ehemaligen venezolanischen Präsidenten

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Hugo Chávez und Amerika21.de-Kolumnist Ignacio Ramonet im Interview
Hugo Chávez und amerika21-Kolumnist Ignacio Ramonet im Interview

Nur wenige Persönlichkeiten der neueren Geschichte haben so entscheidende Spuren hinterlassen wie Hugo Chávez (1954-2013).1998 zum Präsidenten von Venezuela gewählt, haben seine Botschaft und sein Beispiel der Bolivarischen Revolution ganz Lateinamerika verändert. Am 28. Juli erschien in Venezuela anlässlich des 59. Geburtstag von Hugo Chávez ein Buch, in dem Ignacio Ramonet den am 5. März dieses Jahres verstorbenen Präsidenten nach fünf Jahren Arbeit und mehr als 200 Gesprächsstunden portraitiert. ("Hugo Chávez: Mi primera vida. Conversaciones con Ignacio Ramonet." Debate, Barcelona, 2013.)

Das Buch erscheint in Spanien und Lateinamerika am 17. Oktober. In dem kurzen Auszug, den amerika21 hier veröffentlicht, schildert Chávez die Bedeutung der sozialen Aufstände am 27. Februar 1989, die als "Caracazo" in die Geschichte eingingen. Der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez ließ die Sozialrebellion mit unglaublicher Gewalt niederschlagen, tausende Tote waren die Folge.


Ignacio Ramonet: Gerade wieder gewählt, hatte Carlos Andrés Pérez seinen Kurs geändert.

Hugo Chávez: Total. Fast von einem auf den anderen Tag hat er die "große Wende" vollzogen. Er übernahm das Präsidentenamt am 4. Februar 1989. Und am 16. Februar erklärte er vor der erstaunten Menge seiner eigenen Anhänger, dass er das Land sofort und ohne Narkose einer neoliberalen "Schocktherapie" unterwerfen werde, wie vom Internationalen Währungsfonds (IWF) gefordert. Er bekam Unterstützung von den Ministern Moisés Naím und Miguel Rodríguez Fandeo und wurde von Jeffrey Sachs beraten, einem der damaligen großen Fanatiker des Ultraliberalismus. An diesem Tag verkündete Carlos Andrés seine ominösen Maßnahmen des "neoliberalen Pakets": Liberalisierung des Handels, Abschaffung der Geldwechselkontrollen, massive Privatisierung öffentlicher Unternehmen, drastische Kürzungen in der Sozialhilfe, große Preiserhöhungen bei lebenswichtigen Produkten und Dienstleistungen ... Von all diesen Entscheidungen waren zwei am härtesten für die Bevölkerung: der Preisanstieg bei Produkten mit Erdölherstellung und der darauf folgende – hundertprozentige! – Anstieg des Benzinpreises, dazu die 30-prozentige Erhöhung der Tarife im öffentlichen Personenverkehr. Für die Menschen, die drei Monate vorher noch den Sozialdemokraten Carlos Andrés gewählt hatten, war dieser Kahlschlag, diese "Strukturanpassung" wie ein Todesstoß.

IR: Wann fingen die Proteste an?

HC: Als die Regierung diese Maßnahmen durchführte, also ein paar Tage danach. Am Sonntag, den 26. Februar, kündigte das Kohle- und Energieministerium an, dass der Preisanstieg beim Benzin und die Tariferhöhungen im öffentlichen Personenverkehr am nächsten Tag in Kraft treten würden: am Montag, den 27. Februar. Ein schönes Monatsende, wenn die Arbeiter sowieso keinen Cent mehr haben. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. An diesem Montag um sechs Uhr morgens wollten die ersten Arbeiter mit dem Bus von Guarenas am Rand von Caracas in die Stadt zur Arbeit fahren. Sie akzeptierten die Preiserhöhungen nicht, rebellierten und widersetzen sich den Transportunternehmern. Da begann alles. Die Leute sagten: "Basta!" Das war der Ausbruch und der Beginn der Revolte: "Nein zum IWF!" Die Bewohner der Nachbargemeinde Menca de Leoni (heute "27. Februar") wurden von dem Aufruhr angesteckt und schlossen sich dem Aufstand der Reisenden an. Die Wut des Volkes kam zum Vorschein. Einige Autobusse brannten. Die wenigen Polizisten waren überfordert. Die Unruhen breiteten sich wie ein Lauffeuer auf den Hügeln und Ortschaften wie El Valle, Catia, Antímano und Coche aus. Viele Lebensmittelgeschäfte wurden vom Volk geplündert, das hungerte. Am frühen Nachmittag erreichte der Aufstand das Zentrum von Caracas und einige Städte im Landesinneren. Das war nicht nur ein "Caracazo", das war ein "Venezolanazo", denn es breitete sich bald im ganzen Land aus. Das Zentrum war sicherlich in Caracas, aber der Aufstand breitete sich nach Barquisimeto, Cagua, Ciudad Guayana, La Guaira, Maracay, Valencia, Los Andes aus. Panisch erklärte die Regierung den Ausnahmezustand und setzte den "Plan Avila" in Aktion, der die Hauptstadt unter Kriegsrecht und Bewachung durch das Militär stellte. Dieser Plan erlaubte, dass die Militärs mit Kriegswaffen das Feuer auf zivile Demonstranten eröffnen konnten. Man hat diesen Aufstand also mit brutaler Gewalt niedergeschlagen, wahre Massaker in den Armenvierteln angerichtet. Man ging nach der Losung von (dem vormaligen Präsidenten) Rómulo Betancourt vor: "Zuerst schießen, danach gucken."

IR: Wo waren Sie bei Ausbruch des "Caracazo"?

HC: Ich hatte die Nacht in Seconasede im Weißen Palast verbracht und wie ich Ihnen schon erzählt habe, bin ich mit Fieber und Übelkeit wach geworden und hatte starke Gelenkschmerzen. Meine Kinder hatten Windpocken und ich hatte mich angesteckt. Der Arzt bestätigte, dass es sich um eine sehr ansteckende Infektion handelte und dass ich nicht dort bleiben konnte. Er schickte mich nach Hause. Ich befehligte keine Truppe und wusste auch nicht, dass der Aufstand schon ausgebrochen war. So fuhr ich zuerst zur Universität, sah, dass alle Kurse abgesagt wurden und ging daraufhin nach Hause. Ich wohnte damals mit Nancy und unseren drei Kindern Rosita, María und Huguito in San Joaquín (im Staat Carabobo, rund 100 Kilometer von Caracas entfernt). Wir hatten uns gerade ein kleines Häuschen dort gekauft. Einer meiner Nachbarn und Genosse vom MBR-200 (Movimiento Bolivariano Revolucionario-200, eine politisch linksgerichtete Bewegung innerhalb des Militärs), Major Wilmar Castro Soteldo, benachrichtigte mich und fragte: "Was sollen wir machen?" Der Aufstand erwischte uns unvorbereitet. Wir konnten nichts tun.

IR: Hatten Sie das nicht vorausgesehen?

HC: Natürlich. Aber wie hatten keinen Plan, es schien hoffnungslos. Der Augenblick war gekommen, den wir uns so erhofft hatten, und wir waren nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Ich erinnere mich, dass ich mit Arias Cárdenas telefonierte und ihm sagte: "Das Volk hat uns überholt. Sie haben den ersten Schritt gemacht." Dieses Aufwachen des Volkes traf uns völlig unvorbereitet. Wir verfügten über kein Kommunikationssystem, um mit den übrigen Mitgliedern des MBR-200 in Kontakt zu treten. Nur einigen gelang es, vereinzelte Aktionen zu starten. Sie versuchten, das Massaker zu stoppen. Einige Offiziere, die den Befehl hatten, das Feuer gegen das Volk zu eröffnen, weigerten sich und befahlen ihren Truppen, nicht auf die Bevölkerung zu schießen. Aber das war eine Minderheit.

IR: Wie viele Opfer gab es?

HC: Das hat man nie erfahren. Es floss viel Blut an diesem Tag. Die offizielle Zahl lautet auf ungefähr dreihundert Tote, aber wahrscheinlich waren es einige Tausend, die anschließend in Massengräbern verscharrt wurden. Und nicht durch eine ausländische Armee, sondern von unseren eigenen Polizei- und Militärkräften. Ich sah Kinder, die von Kugeln unserer Soldaten zerfetzt wurden. Sie haben sogar Patienten in einer Klinik für geistig Behinderte beschossen. Die Regierung hat befohlen, Truppen aus dem Inneren des Landes zusammenzuziehen und hat sie wie eine Invasionsarmee benutzt, als ob unsere Armee die bewaffneten Streitkräfte des Internationalen Währungsfonds wäre. Viele Offiziere, die an der Unterdrückung teilgenommen hatten, hatten nachher Gewissensbisse und schämten sich. Sie machten sich Vorwürfe. In einer Versammlung mit Offizieren einige Wochen später erinnerte ich sie an den bekannten Satz von Bolívar: "Verflucht sei der Soldat, der seine Waffe gegen das eigene Volk richtet." Ich konnte mich nicht zurück halten und ergänzte: "Der Fluch von Bolívar hat uns eingeholt. Wir sind verflucht!"

IR: War der Eindruck auf die bewaffneten Kräfte stark?

HC: Das hat uns sehr geschmerzt. Es hat unsere Generation geprägt und unauslöschbare Spuren hinterlassen. Mitten in unseren Streitkräften hat das auf lange Sicht die größten Spuren hinterlassen. Ich erinnere mich daran, dass Monate später eines Abends beim Betreten des Weißen Palastes ein Offizier auf mich zukam und sagte: "Major, Sie sind anscheinend in einer Gruppe aktiv, und ich möchte auch daran teilnehmen." Aus Sicherheitsgründen verneinte ich dies, aber ich fragte ihn, warum er daran teilnehmen wolle. Der Leutnant erzählte mir folgendes: "Am 27. Februar 1989 war ich in der Gegend von Miraflores auf Wache und entdeckte einige Jugendliche, die eine Bäckerei geplündert hatten. Es waren ungefähr zwölf, fast alle minderjährig. Ich nahm sie fest. Ich ließ zu, dass sie das gestohlene Brot aßen, denn sie gestanden mir, dass sie Hunger hatten. Ich gab ihnen Wasser. Ich unterhielt mich einige Stunden mit ihnen. Sie erzählten mir, wie elendig sie in den Vororten lebten, arm, arbeitslos, hungrig. Sie baten mich: "Leutnant, lassen Sie uns frei!" Das konnte ich nicht machen, ich musste auf einen Befehl warten. Es kam eine Brigade der (Geheimpolizei) Disip und befragte sie. Ich übergab ihnen die Jugendlichen. Sie verfrachteten sie in einen LKW und brachten sie weg. Ein paar Stunden später ging ich eine benachbarte Straße entlang und sah sie alle wieder: erschossen, exekutiert."

Dieser Offizier war am Boden zerstört. Er verfasste einen Bericht. Seine Vorgesetzten befahlen ihm, Schweigen zu bewahren, das sei nicht sein Problem, es handele sich um reine Verbrecher und er habe die Demokratie zu retten. Dieser Offizier gehörte zur Präsidentengarde, das heißt, er war ein Militär mit vollem Vertrauen zum Apparat. Aber von diesem Tag an war er uns näher als der Regierung. Das Regime nutzte den "Caracazo" aus, um die Armen zu terrorisieren und ihnen einen Denkzettel zu verpassen. Sie sollten nicht noch einmal meutern. An diesem Tag begingen sie das größte Massaker in der Geschichte Venezuelas im 20. Jahrhundert. An diesem Tag verlor die Demokratie in Venezuela ihre Maske und enthüllte ihr verhasstes Unterdrückergesicht. Denn, nachdem der Aufstand in den ersten Märztagen niedergeschlagen war, machte die Regierung weiter mit ihrem systematischen und kriminellen Staatsterrorismus. Das dürfen wir niemals vergessen. Es war eine als Demokratie verkleidete Diktatur. Deshalb sage ich immer wieder, dass wir das nicht vergessen dürfen.

IR: Gab es auch Opfer unter ihren Freunden beim Militär?

HC: Ja, leider gab es auch Opfer unter unseren Genossen. Unter ihnen war auch Felipe Acosta Cárlez, einer der Gründer der bolivarischen Bewegung, ein treuer Genosse und großer Freund. Am ersten März erhielt ich die Nachricht; "Sie haben Felipe Acosta Cárlez getötet!" Es ist nicht klar, wie er starb. Ich bin überzeugt, dass das Oberkommando und die Disip wussten, dass er einer der Führer unserer Bewegung war und die herrschende Verwirrung ausnutzten, um ihm eine Falle zu stellen und ihn zu liquidieren. Wenn ich in jener Woche nicht krank gewesen wäre, wäre ich vielleicht auch von der politischen Polizei liquidiert worden.

IR: Deshalb haben Sie ihm ein Gedicht gewidmet?

HC: Ja, an diesem ersten März habe ich ein Gedicht für ihn geschrieben. Diese Tragödie hatte sich schwer auf meine Seele gelegt und mein Schmerz hat sich auf ein Blatt Papier ergossen. Obwohl ich es ihm gewidmet habe, habe ich an alle Opfer gedacht. Dieser Schmerz wirkte aber auch wie ein Initialzünder. Die Explosion des "Caracazo" zerbrach die Platte, die auf Venezuela wie auf einem Massengrab lag. Denn wenn wir diesen Aufstand aus internationaler Sicht betrachten, war er bewundernswert.

IR: In welcher Hinsicht?

HC: Der "Caracazo" ist meiner Meinung nach das bedeutendste politische Ereignis des 20. Jahrhunderts in Venezuela. Und in diesem Sinne bedeutet er auch das Wiedererstehen der Bolivarischen Revolution. Bedenken Sie, in diesem Jahr fiel auch die Mauer in Berlin. Und Caracas erhob sich gegen den IWF! Als die Intellektuellen auf der ganzen Welt vom "Ende der Geschichte" sprachen und jeder nicht nur politisch, sondern auch finanziell und ökonomisch, vor dem IWF und der Politik Washingtons aufgegeben hatte, erhob sich hier eine Stadt und ein ganzes Land. Mit dieser Rebellion der Armen, mit diesem Aufstand der Opfer der Ungleichheit und der Exklusion, mit diesem heldenhaften Blut des Volkes begann eine neue Geschichte in Venezuela. Denn fast zehn Jahre später schlug unsere Bolivarische Regierung alternative Formeln vor. Venezuela widersetzte sich dem Strom des Neoliberalismus. Und wir in der Armee begriffen, dass wir keinen Schritt mehr zurück gehen dürfen.

Persönlich sagte ich mir: "Jetzt verlasse ich die Armee nicht, auch wenn wir nur fünf sind, die eines Nachts mit Schüssen in Miraflores einziehen, wir gehen hier nicht schweigend weg." Die anderen sagten mir das gleiche. Unsere Bewegung wurde wiederbelebt, wuchs, ging in die Offensive, festigte sich. Wir nahmen unsere Versammlungen wieder auf. Von da an begann die Regierung, uns hart anzugreifen, denn wir wurden zu einer offensichtlichen und herausfordernden Bedrohung.