Unverständnis in deutscher Presse für soziale Bewegung in Bolivien

Indigene werden oft als rückständig, unzivilisiert und primitiv dargestellt. Evo Morales wird als politischer Akteur nicht ernstgenommen und offen diffamiert

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Indigene Zeremonie zur Einführung von Evo Morales in das Präsidentenamt im Januar 2015
Indigene Zeremonie zur Einführung von Evo Morales in das Präsidentenamt im Januar 2015

Die Autorin hat in ihrer Bachelorarbeit im Studienfach Journalistik mit dem Titel "Soziale Bewegungen in Lateinamerika in der deutschen Presse am Beispiel der indigenen Bewegung in Bolivien - Eine qualitative Inhaltsanalyse ausgewählter deutscher Tageszeitungen" die Berichterstattung über die indigene Bewegung in Bolivien in den vier deutschen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Welt und Taz zwischen 1999 und 2009 untersucht. Dieser Beitrag für ameria21 ist ein Auszug aus der Arbeit.


Die indigene Bewegung in Bolivien

In Lateinamerika finden zurzeit viele wichtige soziale, gesellschaftliche und politische Veränderungen statt. Die sozialen Bewegungen kritisieren das aktuell praktizierte Wirtschaftssystem, die wachsende Ungleichheit und Ressourcen-Ausbeutung und fordern einen sozialen Wandel. Immer mehr Länder wollen sich aus der immer noch vorhandenen kolonialen Abhängigkeit lösen. Indigene Bewegungen sind zu einem wichtigen politischen Akteur geworden. Sie haben sich in ein Sprachrohr der gesellschaftlich Benachteiligten und Unzufriedenen verwandelt. In Bolivien hat die indigene Bevölkerung, die eine Mehrheit in der Gesamtbevölkerung darstellt, einen Prozess sozialen Wandels in Gang gesetzt, der 2003 mit der Wahl des ersten indigenen Präsidenten in der Geschichte Boliviens, Evo Morales, gipfelte. Bolivien verfügt über einen großen Reichtum an Bodenschätzen, doch seit Jahrhunderten haben die Bolivianer die Erfahrung gemacht, dass der Ressourcenreichtum das Land nicht zum Wohlstand geführt hat. Nicht die Bolivianer profitieren von ihren Bodenschätzen, sondern multinationale Unternehmen. Die Armutsraten in Bolivien sind die höchsten in Lateinamerika. Evo Morales hat bei seinem Amtsantritt versprochen, die Rohstoffe zur Bekämpfung der Armut einzusetzen und gleichzeitig die Rechte der Umwelt und der indigenen Völker zu wahren.

Lateinamerika-Berichterstattung in deutschen Medien

Die Lateinamerika-Berichterstattung in den deutschen Medien konzentriert sich auf wenige Länder, bevorzugt die Krisenregionen sowie die Länder mit guten ökonomischen Beziehungen zu Deutschland, informiert insbesondere über Elitepersonen aus Hauptstädten, richtet sich auf aktuelle negative Ereignisse aus und bietet kaum Hintergrundinformationen1. Häufig findet eine Verzerrung der Realität statt. Die Berichterstattung ist geprägt von Eurozentrismus und Sensationalismus2.

Ein Grund für die oberflächliche Berichterstattung ist die geringe Zahl von Auslandskorrespondenten in Lateinamerika. Nur 5,7 Prozent der deutschen Auslandskorrespondenten sind in Lateinamerika tätig3. In vielen Fällen müssen sie über ein politisch, wirtschaftlich, kulturell und sozial heterogenes Gebiet berichten, was eine hinreichende Vorbereitung von vornherein unmöglich macht.

Leider werden die Prozesse sozialen Wandels wie der in Bolivien von den deutschen Medien nur sehr selten wahrgenommen oder in einem falschen Deutungsrahmen interpretiert. Die Berichterstattung in den deutschen Medien über die indigene Bewegung in Bolivien ist stark eingefärbt und einseitig. Das wurde in der Untersuchung deutlich. Die politischen Akteure und initiierten Veränderungen werden nicht ernstgenommen und überwiegend negativ bewertet. Die Berichterstattung unterscheidet sich außerdem sehr offensichtlich je nach politischer Ausrichtung des Mediums.

Eurozentrismus und Unverständnis für die lateinamerikanische Linke

In Lateinamerika ist ein starker, alternativer, anti-neoliberaler Prozess entstanden, der eine starke Ressource für weltweite sozialen Bewegungen darstellt und auch Auswirkungen auf Europa hat, das jetzt selbst die Konsequenzen der Krise des Kapitalismus erlebt4. Aktuelle Diskussionen werden von der Annahme dominiert, dass die einzige Option, um dem Neoliberalismus zu entgegnen, die Entwicklung eines verteilungsgerechten und menschenfreundlichen Kapitalismus ist5. Aber in Lateinamerika ist eine alternative Vision entstanden: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts6. Allein schon der Erwähnung des Begriffs wurde in den letzten Jahren in der westlichen Presse mit Verachtung, Zensur und Diffamierung begegnet7.

In Bolivien wird zum Beispiel die Bedeutung eines indianischen und kommunitären Sozialismus diskutiert. Der bolivianische Sozialismus lehnt sich weniger an altmarxistische Ideale an, sondern ist durch den Indianismus geprägt8. Im Marxismus existieren ökonomische Identitäten, aber keine sozialen. Die Diversität der Identitäten der Gesellschaft oder die Existenz indigener Völker finden darin keinen Platz, weshalb der klassische Marxismus als Interpretation der bolivianischen Realität nicht funktioniert9.

Die europäischen Definitionen von "links" und "rechts" haben sich weltweit verbreitet. Der Nationalismus wird als rechte Ideologie klassifiziert10. In anderen Kontinenten, vor allem in Lateinamerika, ist diese Klassifizierung unpassend. In Europa ist die bürgerliche Ideologie der Liberalismus, aber in anderen Teilen der Welt haben Nationalismus und Liberalismus eine ganz andere Bedeutung als in Europa. In Lateinamerika repräsentiert der Liberalismus die Interessen der Oligarchie in Verbindung mit der Rechten. Der Nationalismus, ganz im Gegenteil zur europäischen Auffassung, hat eine antiimperialistische Komponente.

Prozesse wie die kubanische Revolution konnten von der traditionellen europäischen Linken nur schwer eingeschätzt werden. Das gleiche geschieht in gewisser Weise mit der lateinamerikanischen Linken des 21. Jahrhunderts. Lateinamerikanische Führer werden als Populisten bezeichnet und kritisiert, ohne dass die sozialen Prozesse und Bewegungen verstanden werden. Die Kritik geht dabei oft aus von eben dieser europäischen Linken, die ihre eigenen Fehler nicht einsieht und nicht offen ist, um von den neuen Erfahrungen in Lateinamerika zu lernen und an der Konstruktion von Alternativen teilzunehmen.

Der Eurozentrismus hat zu einem Missverständnis der politischen Wandlungen in Lateinamerika geführt11.Die europäische Bewertung der politischen Prozesse in Lateinamerika beachtet oft nicht, dass die neuen Regierungen zum ersten Mal in der Geschichte die Macht zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verteilt haben12.

Pablo Quintero geht auf die Sichtweise der Europäer gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern ein. Sie würden als "unterlegen gegenüber den Vorbildern der europäischen Modernität" betrachtet werden und seien im Verlauf der "modernen Identitätshomogenisierung" alle unter dem Terminus "indio" zusammengefasst worden13. Anibal Quijano entwickelte das Konzept der "Kolonialität der Macht" (colonialidad de poder). Darunter versteht er ein spezifisches strukturelles Machtmuster aus Beherrschung und sozialer Ausbeutung, das ausgehend von der Eroberung Amerikas und der darauffolgenden weltweiten Hegemonie Europas entstand14. Die Kolonialität sei damit eines der konstitutiven Elemente des globalen kapitalistischen Machtmusters15.

Evo Morales als Kokabauer und Drogenhändler

Evo Morales wird in den untersuchten Printmedien häufig als primitiver Kokabauer dargestellt. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heißt es am 8. November 2009: "Der scheinbar sanftmütige und etwas einfältige frühere Lamahirte, Kokabauer und Fußballnarr, der sich noch immer darüber wundert, dass es ihn in die Politik verschlagen hat”. Sein politischer Einsatz gegen die von den US-Amerikanern vorangetriebene Zerstörung der Kokapflanze wird oft als Unterstützung illegalen Rauschgifthandels bezeichnet. Dabei nimmt die Kokapflanze in der indigenen Kultur eine sehr wichtige Rolle ein, die in Deutschland selten verstanden wird. Die Kokapflanze galt schon hunderte Jahre vor der Erfindung von Kokain als heilige Pflanze und wird in der traditionellen Medizin verwendet. In den konservativen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung und Welt wird Morales indigene Identität als eine Art Selbstinszenierung dargestellt, um mehr politischen Erfolg zu erreichen. Die Welt schreibt am 20. Januar 2006: "Sein Spanisch hat einen kastillanischen Slang, seine Zurückhaltung ist virtuos inszeniert, seine einstudierte Ambivalenz verweist auf einen genuin lateinamerikanischen 'criollo' (Weißen)”. Morales wird als politischer Akteur nicht ernstgenommen und offen diffamiert.

Die Indigenen als unzivilisierte Wilde

Die indigene Bewegung in Bolivien entstand aus der Frustration der indigenen Völker, die lange Zeit sozial und politisch kaum beachtet wurden, obwohl sie eine Mehrheit in der Bevölkerung darstellen. Die indigene Kultur nimmt einen hohen Stellenwert in der bolivianischen Bevölkerung ein. Traditionen und kulturelle Eigenheiten sind über hunderte Jahre lang erhalten geblieben, haben die spanische Eroberung überdauert und erhalten nun endlich mehr nationale und internationale Beachtung. In den deutschen Printmedien werden die Indigenen, oder auch "Indianer" oder "Urvölker" oft als rückständig, unzivilisiert und primitiv dargestellt. Vor allem in den konservativen Medien ist das der Fall. Die indigene Bewegung wird als Rückfall in die vormoderne Gesellschaft bezeichnet. Nach der Wahl von Evo Morales titelt die Welt am 20. Januar 2006: "Eine Frage der Hautfarbe: Mit dem Indio-Kult von Boliviens Präsident Evo Morales erlebt Lateinamerika einen Rückfall in die Ideologie der Abstammung". Das Ziel der indigenen Bewegung, so scheint es in der Welt, sei die Rückkehr zu den Zeiten vor der Eroberung durch die Spanier in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es wird nicht differenziert zwischen der gesamten Bewegung, die große Teile der Bevölkerung erfasste und für mehr Rechte der Indigenen und soziale Gerechtigkeit in Bolivien kämpfte, und den radikalen indigenen Gruppen. Durch die Formulierung wird impliziert, dass die Bewegung rückständig sei, obwohl sie eigentlich das Land aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit befreien und sich auf die kulturellen Traditionen zurückbesinnen will. Die Grausamkeiten, die die Spanier den indigenen Völkern antaten und die Folgen der kolonialen Abhängigkeit werden nicht beachtet.

Der Westen als Helfer

Die westlichen Länder werden im Zusammenhang mit Bolivien und Lateinamerika oft in einer überlegenen und machtvollen Position dargestellt. Das ist vor allem bei den USA der Fall, die einen starken Einfluss auf den Verlauf der Politik in Bolivien und Lateinamerika genommen haben. Häufiges Thema sind die Förderkredite und die Entwicklungshilfe, da Bolivien ein Schwerpunktland der deutschen Entwicklungshilfe ist. Hildegard Stausberg schreibt am 3. Mai 2006 in einem Kommentar für die Welt "Dies sollte man schleunigst ändern, schließlich braucht der deutsche Steuerzahler ein Land nicht zu finanzieren, das reich genug ist, um sich selbst zu helfen". Die westlichen Unternehmen werden als Opfer der wirtschaftlichen Reformen Boliviens dargestellt. "Unternehmer warteten ängstlich ab, ob Morales nach einem Wahlsieg ähnliche sozialistische Grausamkeiten begehe wie sein Vorbild Hugo Chávez in Venezuela", schreibt die Süddeutsche Zeitung am 24. November 2009.

Maßnahmen der Regierung

Die Maßnahmen der neuen bolivianischen Regierung, wie zum Beispiel die Nationalisierung der Erdgas-Ressourcen, werden häufig als radikal, rückständig und irrational dargestellt und die Konsequenzen werden negativ eingeschätzt. Hildegard Stausberg schreibt am 3. Mai 2006 für die Welt, die Nationalisierung der Ressourcen sei "ein probates Mittel der Volksverarmung". Lediglich die Taz berichtet positiv über das Projekt. Das Gas solle über Investitionen im Sozialbereich den Armen zugute kommen. Am 8. Dezember 2009, kurz nach der Wiederwahl von Evo Morales, schreibt die Taz, die Nationalisierung sei ein "Quantensprung" für Bolivien gewesen, da sich nun endlich ausländische Firmen den staatlichen Rahmenbedingungen unterordnen müssten. Der Prozess bis hin zur neuen Verfassung Boliviens wird in den untersuchten Medien oft als undemokratisch bezeichnet, da eine neue Verfassung mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen werden sollte, Morales im Parlament aber nur die einfache Mehrheit besaß. Anstatt auf die politischen Reformen und den eigentlichen Inhalt der neuen Verfassung einzugehen, werden fast ausschließlich Mängel thematisiert.

Zeitenwende oder Rückfall in die Barbarei?

Stark aufgefallen sind bei der Untersuchung die unterschiedlichen Berichterstattungstendenzen der Welt und der Taz. Dazu wurden zwei Artikel verglichen, die die Amtseinführung von Evo Morales im Januar 2006 thematisieren. Der Artikel aus der Taz trägt den Titel: "Symbolik der Zeitenwende", stammt von Gerhard Dilger und wurde am 24. Januar 2006 gedruckt, während der Artikel der Welt vom 20. Januar 2006 "Eine Frage der Hautfarbe" heißt und vom peruanischen Autor Mario Vargas Llosa verfasst wurde. In der Welt wird der von Morales angestoßene Veränderungsprozess als "Rückfall in die Ideologie der Abstammung" bezeichnet, in der Taz hingegen als "Anbruch einer neuen Epoche für die Urvölker der Welt". In der einen Zeitung wird der Prozess also rückwärtsgewandt und in der anderen als vorwärtsgewandt dargestellt. Häufig wird in der Taz Morales selbst zitiert, der eine "kulturelle und demokratische Revolution" verfolge und nach "500 Jahre(n) Widerstand der indigenen Völker Amerikas gegen den internen Kolonialismus" den Anbruch einer"neuen Epoche für die Urvölker der Welt" ausrufe. Llosa kommentiert genau diese Aussage von Morales als "flagranter historischer Irrtum", da es viele bolivianische Präsidenten einfacher Herkunft gegeben habe.

Llosa spricht in der Welt von einer Rückkehr des Rassismus in Bolivien, der von „einem unverantwortlichen Teil der Linken“ unterstützt werde: "mit Personen wie Hugo Chávez in Venezuela, Evo Morales in Bolivien und der Humala-Familie in Peru kehrt solcher Rassismus ins Rampenlicht der Ehrbarkeit zurück". Er bezieht das Phänomen auf ganz Lateinamerika: "Lateinamerikas Probleme in Raster von Ethnie und Hautfarbe zu pressen, wie es diese Demagogen tun, ist absolut unverantwortlich". Rassismus, Militarismus und Nationalismus seien auf dem Vormarsch und hätten den Kontinent so ruiniert wie keinen anderen.

In der Taz wird genau auf diese Aussagen von Llosa Bezug genommen und zwar mit einem Zitat von Morales: "Wir Aymaras und Quechuas hegen keinen Groll. Wenn wir gewinnen, ist es nicht, um uns zu rächen." In der Taz wird eine Verbindung hergestellt zwischen dem Zitat von Morales und den Aussagen von Mario Vargas Llosa, der Morales einen neuen Rassismus von Indianern gegen Weiße vorwirft. Als weitere Gegenmeinung zitiert die Taz den uruguayischen Autor Eduardo Galeano, der ebenfalls an der Feier teilnahm: "Vargas Llosa hole 'einen der Lieblingsmythen der Herren der Macht in Lateinamerika' aus der Mottenkiste, den Mythos von Zivilisation und Barbarei. In Bolivien komme hingegen gerade die Vielfalt, der 'Regenbogen', zur Geltung, meinte Galeano, das Gegenteil also von Rassismus, Elitedenken und Militarismus".

Die lateinamerikanische Linke

Der politische Prozess in Bolivien wird in den untersuchten Artikeln dem sogenannten "Linksruck" oder der "Latino-Linken" zugeordnet. In der Welt spricht man am 28. Januar 2006 von der "revolutionären Achse Caracas, La Paz, Havanna". Dadurch erscheint der Zusammenschluss der Länder Venezuela, Bolivien und Kuba bedrohlich. Bolivien wird besonders häufig mit Venezuela in Verbindung gebracht. Dabei wird das Land als abhängig von Venezuela dargestellt und Morales als eine Art politischer Zögling von Hugo Chávez. In diesem Zusammenhang zeigt Welt-Autorin Hildegard Stausberg sich am 20. Januar 2006 in ihrem Artikel empört darüber, dass linksdenkende Menschen sich positiv gegenüber der Politik in Bolivien und Venezuela aussprechen: "Es ist bemerkenswert, dass man darüber heute noch Worte verlieren muss und besonders an all jene sich selbst als fortschrittliche Linke begreifenden Leute, die Figuren wie Chávez und Morales aufwerten und damit der Mesallianz aus 'Rassismus, Stiefeln und Nationalismus' die Weihen der Glaubwürdigkeit verleihen“.

Indio-Sozialismus in Bolivien

In einigen Artikeln wird hervorgehoben, dass sich in Bolivien eine neue Form des Sozialismus herausgebildet hat. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 16. Januar 2006 sagt der bolivianische Vizepräsident Álvaro García Linera: "Die indianische Linke der MAS sucht ihren eigenen Weg, um sich in einen andin-amazonischen Sozialismus zu verwandeln, der niemand und nichts nachahmt und der kein Vorbild hat, weder Venezuela noch Kuba, noch Rußland oder China". In einem Artikel der Taz vom 24. Januar 2006 wird der politische Prozess in Bolivien gelobt: "So könnte es die Linke sein, die das vielfach gespaltene Bolivien in ruhigere Fahrwasser steuert. Eine Überwindung der sozialen Apartheid durch echte Teilhabe der Bevölkerung: Das Projekt des Evo Morales und seiner Basis hat jede Unterstützung verdient." In der Welt wird der politische Prozess in Bolivien hingegen als vollkommen absurd dargestellt. Evo Morales wolle das Land zu "vorkolonialen Lebensformen" zurückführen, die "angeblich sozialistischen Idealen nahe gewesen sein sollen" heißt es am 13. Januar 2007. Der Indigenismus sei eine "Utopie", ebenso wie der Marxismus, der gemischt mit "Militarismus und einer damit einhergehende Rechtfertigung der Gewalt" ein politisches Gefüge ergebe, an dem "wie bei unbekömmlichen Drinks" die Mischung das Schlimmste sei. Hier wird das Unverständnis gegenüber der bolivianischen Linken und der Mangel an Hintergrundwissen deutlich.

Politische Ausrichtung der Zeitungen und Autoren

Die politischen Ausrichtungen der vier untersuchten Zeitungen werden in der Analyse sehr deutlich. Auf einer Skala könnte man nach dieser Analyse die Welt ganz rechts einordnen, die Frankfurter Allgemeine Zeitung mitte-rechts, die Süddeutsche Zeitung mitte-links und die Taz ganz links. In der Welt wird fast durchgehend negativ berichtet über alles, was mit der sozialen Bewegung in Bolivien zu tun hat. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird auch eher kritisch berichtet und, aber es finden sich auch hintergründige und analysierende Artikel, die die Bewegung ernstnehmen. Die Süddeutsche Zeitung schwankt etwas, je nach Autor und Darstellungsform, berichtet aber auch eher wohlwollend über die indigene Bewegung und nimmt häufig Bezug auf soziale Aspekte. Die Taz berichtet hingegen fast ausschließlich positiv und fordert Unterstützung der Bewegung. Die eurozentrischen Sichtweisen und Muster, zum Beispiel der herablassende Blick auf die indigenen Völker und das Unverständnis gegenüber ihrer Kultur, findet sich jedoch in allen Medien.

Bei den Autoren fiel auf, dass die Welt als einzige Zeitung lateinamerikanische Autoren beauftragt hat: José Antonio Aruquipa, Mario Vargas Llosa und Carlos Alberto Montaner. Dazu muss aber bemerkt werden, dass es sich bei Aruquipa um Mitglied und Sprecher der bolivianischen Oppositionspartei Poder Democrático Social (Podemos) handelt. Llosa ist ein konservativ-liberal orientierter politischer Schriftsteller, der auch bereits bei der peruanischen Präsidentschaftswahl antrat und Montaner ist ein im Exil lebender, aus Kuba ausgewiesener Schriftsteller. Die drei Autoren sind also keineswegs politisch unabhängig, sondern stützen die konservative Sichtweise der Welt.

Außerdem fiel auf, dass die Zeitungen jeweils nur einen Korrespondenten für Lateinamerika haben. Das verhindert Meinungsvielfalt. Die Autoren verfärben Berichterstattung und es wird dem Leser eigentlich keine Chance gelassen, sich selbst eine Meinung über die Geschehnisse zu bilden. Auslandskorrespondenten haben eine sehr große Macht im Bezug auf die Meinungsbildung der Leser, da die wenigsten von sich selbst ein Bild von den Geschehnissen in Bolivien machen konnten.

Ein anderer Blickwinkel ist notwendig

In der Arbeit wurde ein starker Eurozentrismus in der Berichterstattung über Lateinamerika festgestellt, was vor allem mit den europäisch geprägten politischen Schemata und dem intellektuellen Neokolonialismus zusammenhängt. Die Arbeit soll ein Ansatz sein, die Berichterstattung in Deutschland und Europa über Lateinamerikas soziale Bewegungen und politische Veränderungsprozesse stärker zu verfolgen. Sie ist außerdem eine Aufforderung an die untersuchten Medien und auch andere, sich stärker mit dem Thema auseinanderzusetzen. Denn auch in Deutschland und Europa wird die Krise des Kapitalismus und des auf endloses Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystem immer sichtbarer. Auf der Suche nach alternativen Modellen kann es ratsam sein, einen unvoreingenommen Blick auf andere Teile der Welt zu werfen.

  • 1. vgl. Rodríguez, Malvina Eugenia (2009): Immerwährende Ungleichheiten? Lateinamerikanische Integration, internationaler Kommunikationsfluss und die Berichterstattung in der deutschen Qualitätspresse. Dissertation an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, S. 35
  • 2. vgl. ebd., S. 128
  • 3. Junghanns, Kathrin / Hanitzsch, Thomas (2006): Deutsche Auslandskorrespondenten im Profil. In: Hans-Bredow-Institut (Hrsg.): Medien & Kommunikationswissenschaft. 54. Jg. (S. 412-429). Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft
  • 4. vgl. Katz, Claudio (2012): The singularities of Latin America. In: Vol. 48: Social Register 2012: The Crisis and the Left. London: Merlin Press, S. 214
  • 5. vgl. ebd., S. 215
  • 6. vgl. Ebd.
  • 7. vgl. Ebd.
  • 8. vgl. García Linera, Álvaro (2007): El desencuentro de dos razones revolucionarias. Indianismo y Marxismo. En publicación: Cuadernos del Pensamiento Crítico Latinoamericano no. 3. Buenos Aires: CLACSO, Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales. Disponible en: http://bibliotecavirtual.clacso.org.ar/ar/libros/secret/cuadernos/garcia/garcia.pdf
  • 9. vgl. Ebd.
  • 10. vgl. Sader, Emil (2015): El neocolonialismo intelectual. Disponible en: http://www.jornada.unam.mx/2015/04/12/opinion/018a1mun
  • 11. vgl. Rodriguez (2009): 103
  • 12. vgl. ebd.
  • 13. vgl. Quintero Pablo / Garbe, Sebastian (Hrsg.) (2013): Kolonialität der Macht. Münster: Unrast- Verlag, S. 97
  • 14. vgl. Quijano, Aníbal: Colonialidad del poder, eurocentrismo y América Latina (2000). In: Edgardo Lander (Hrsg.): La colonialidad del saber: eurocentrismo y ciencias sociales. Perspectivas Latinoamericanas. Buenos Aires, Argentina : CLACSO, Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales
  • 15. vgl.ebd.