Fünf Jahrhunderte und unsere Adern bleiben offen

Über die Bedeutung des Buches von Eduardo Galeano "Die offenen Adern Lateinamerikas"

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"Die Adern bleiben offen" (Stencil in Bogotá, Kolumbien, 2013)
"Die Adern bleiben offen" (Stencil in Bogotá, Kolumbien, 2013)

Ich war gerade mitten im Corona-Lockdown, als ich das Lied von León Gieco "Fünf Jahrhunderte das Gleiche" hörte. Dabei erinnerte ich mich daran, dass vor einem halben Jahrhundert ein Buch erschien, das zuerst in "América Lapobre" 1 und dann in der ganzen Welt die Runde machte. Ein Text, der vielleicht seiner Zeit voraus war, uns aber mit dem Virus infizierte, viel mehr über uns selbst, über unsere Geschichte zu erfahren.

Für viele von uns, die damals um die 20 waren, war es eines der wenigen Male, dass wir Lateinamerika wie mit unseren eigenen Augen gesehen haben.

Eduardo Hughes Galeano war 27 Jahre alt, als er mit der mühsamen Arbeit begann, Daten, Geschichten, Erlebnisse zu sammeln. Er beendete sie vier Jahre später, nachdem er die realen Menschen interviewt und sich ihre Geschichten und die ihrer Eltern und Großeltern angehört hatte, nachdem er durch Gebiete gereist war, die nicht für Schreibtisch-Intellektuelle geignet sind, und nachdem er sich drei Monate zurückgezogen hatte, um all das aufschreiben zu können.

Für viele war schon der Anfang ein Schlag ins Gesicht:

"Die internationale Arbeitsteilung besteht darin, dass sich einige Länder aufs Gewinnen und andere aufs Verlieren spezialisieren."

Und unser Uruguay, das von der Revolution träumte, sollte von diesem Jahr an eine seiner dunkelsten Stunden beginnen, die der Notstandsbefugnisse, der Einmischung der CIA, ihrer Folterhandbücher, der Verfolgung und Inhaftierung von Aktivisten, der Repression. Als hätten die Mächtigen Die Adern gelesen: "Das Imperium, unfähig, die Brote zu vermehren, setzt alles dran, die Esser zu unterdrücken."

Es war nicht ungewöhnlich, dass die größte Publicity für das Buch nicht von der Literaturkritik kam, sondern von unseren Diktatoren, die es verboten. Und während einige meinten, dass es sich um ein medizinisches Buch handele, sagten andere sogar, es sei ein Instrument zur Verderbnis der Jugend. Und Galeano verließ das Land und ließ seine Freunde zurück, von denen im Übrigen viele in den folgenden Jahren ebenfalls gingen.

Aber es wäre ziemlich dürftig, die Geschichte im Jahr 1970 oder 1971 beginnen zu lassen. Kehren wir zurück zum Ende der 50er Jahre, als ein Kind, ein kleiner hübscher Junge die Casa del Pueblo und die Wochenzeitung El Sol aufsuchte, Hochburgen der Sozialistischen Partei. Als sie ihn fragten, was er denn wolle, sagte er, er wolle der Partei beitreten und mit der Wochenzeitung zusammenarbeiten.

Und er weckte die Neugierde von Führungsfiguren wie Don Emilio Frugoni, Vivián Trías, Raúl (Bebe) Sendic, Guillermo "Yuyo" Chifflet, José Díaz, Reinaldo Gargano. Eine Chronik jener Jahre, El botija Gius, von Garabed Arakelián, erzählt davon, dass Bebe Sendic – später der Anführer der Guerillabewegung Movimiento de Liberación Nacional –Tupamaros  – ihn davon überzeugte, sich zunächst der Juventud Socialista anzuschließen, und auch, dass Don Emilio "sich um ihn kümmerte, viel mit ihm sprach und ihn oft einlud, ins Kino zu gehen und einen Kaffee zu trinken".

Eduardo trat in die Redaktion von El Sol ein, arbeitete mit seinen Zeichnungen, die er mit Gius (das ist Hughes auf Uruguayisch, erklärte er mir eines Nachmittages) und seinen Notizen signierte; er besuchte die Schulungen bei Enrique Broquen sowie die Vorträge und Diskussionen mit Vivián Trías, für den er Zuneigung und Respekt empfand.

Auch Arakelián erinnert sich an die langen "Sitzungen" in Don Alfredos Café, an der Ecke Soriano und Yí, mit den Brüdern Dubra, den Gebrüdern Brando, Gloria Dalesandro, Carlitos Machado, den Díaz Maynards und vielen anderen, in denen er Antworten auf die vielen Fragen suchte, die sich dieser "Sentipensante"2 bereits stellte. Ausgezeichnete Lehrer – Don Emilio, Trías, Bebe Sendic, Chifflet – um Lateinamerika mit eigenen Augen zu sehen.

Als er begann, die ersten Entwürfe von Las Venas zu notieren, hatte er mit dem Journalismus schon seit einiger Zeit aufgehört. Er leitete [die linke Tageszeitung] Época nicht mehr und arbeitete nur noch bei [der in Montevideo erscheinenden Wochenzeitung] Marcha mit dem alten Quijano zusammen. Er widmete sich dem Reisen und dem Schreiben. Einmal fragte ich ihn, was er von dem Mexikaner Juan Rulfo halte, einem Schriftsteller, der mich überrascht und nachdenklich gemacht hatte.

"Rulfo war mein Lehrer. Er hat mich gelehrt, sowohl mit der Axt als auch mit der Feder zu schreiben, und ich würde sagen, dass das Schreiben für mich eine Jagd ist, eine Art Jagd nach dem Wort, das flieht, und wenn es mir scheint, dass ich es gefangen habe, stelle ich fest, dass es sehr eingekleidet ist, und dann muss man es ausziehen." Eine Art, mir zu erklären, dass der ursprüngliche Text, den man schreibt, nie der endgültige ist: Man muss ihn tausendmal lesen und alle trockenen Äste, die abweichenden, die hässlichen, die überflüssigen, abschneiden, bis der nackte Text übrig ist, um ihn den Lesern anzubieten.

Nachdem sie Montevideo verlassen hatten, ging er nach Argentinien, wo er Helena Villagra abholte, die bis zuletzt seine Lebensgefährtin war, um mit ihr nach Spanien zu flüchten. Bis zu seiner Rückkehr in sein kleines Land, das man auf der Landkarte kaum sieht.

Im Jahr 1978, so erinnern sich seine Herausgeber, stellte er fest, dass "seit der ersten Ausgabe ... das System den Hunger und die Angst vervielfacht hat. Der Reichtum konzentriert sich weiter und die Armut breitet sich weiter aus. Als ich das Buch 1970 schrieb, duldete das System mehr Schiffbrüchige als Seeleute. Heute sehe ich mit Erstaunen, dass der Anteil der Schiffbrüchigen noch viel höher ist."

Kaum hatte er Las Venas fertig, legte Galeano seine detailliert dokumentierten und dramatischen Erinnerungen an die Plünderungen zum Literaturpreis des Casa de las Americas in Havanna vor. "Ich verlor. Das Buch sei laut der Jury nicht seriös", obwohl die ungeheuren Folgen der Handlungen "der Zuhälter des Elends", die er in der Einleitung und den beiden Teilen von Las venas anprangert, immer noch Gültigkeit besaßen (und besitzen): Arbeitslosigkeit, Analphabetismus, Elend, Krankheit, Gewalt, Ausgrenzung, Kolonisierung, Ausbeutung, Abhängigkeit, unerträgliche Ungleichheiten.

Vielleicht haben diese Juroren kollektiv Selbstmord begangen, als sie erfuhren, dass ein Universitätsverlag in Uruguay und ein transnationaler Konzern mit Büros in Mexiko das Werk veröffentlichen würden. Vielleicht gab es ein begründetes Vorurteil: Galeano war als Journalist bekannt, aber weder als Akademiker noch als Barockschriftsteller. Eduardo blieb dem Casa de la Américas dennoch immer sehr verbunden.

Las Venas war der Basistext für mehrere Generationen, um die Geschichte Unseres Amerikas zu erlernen. Und es heißt, dass Lula da Silva, Hugo Chávez und Evo Morales sich daran "nährten". Ich weiß es von Chávez, der so beeindruckt war, dass er das Buch dem US-Präsidenten Barack Obama schenkte. "Es ist unglaublich, Chávez schenkte ihm eine raubkopierte kolumbianische Ausgabe des Buches, anstatt ihm eine englische Ausgabe zu geben", sagte Galeano mir, als ich ihm am Telefon gratulierte.

Innerhalb weniger Tage gab es Tausende Bestellungen und es wurde zu einem der fünf am häufigsten georderten Bücher der Welt.

Einige nahmen es als Selbstkritik: In Brasília hat er, ich glaube 2014, während der Buch- und Lesebiennal gesagt: "Ich würde Die offenen Adern Lateinamerikas nicht noch einmal lesen, denn wenn ich es täte, würde ich in Ohnmacht fallen." Andere legten dies so aus, dass das wiederholte Lesen all dieser Geschichten ihm Schaden zufügen würde. Und später sagte er etwas, womit er sicher Recht hatte: "Ich verfügte nicht über ausreichend Wissen über Wirtschaft oder Politik, als ich das geschrieben habe." Er war noch keine 30, als er es schrieb.

"Ich habe Las Venas geschrieben", sagte er, "um Ideen anderer und eigene Erfahrungen zu verbreiten, die vielleicht ein wenig dazu beitragen, die Fragen zu klären, die uns seit jeher umtreiben: Ist Lateinamerika eine Region der Welt, die zu Erniedrigung und Armut verurteilt ist? Verurteilt von wem? Ist es die Schuld Gottes, die Schuld der Natur? Ist das Unglück nicht ein Produkt der Geschichte, das von Menschen gemacht wurde und deshalb auch von Menschen geändert werden kann?”

Er sagte, dass seine Absicht war, bestimmte Tatsachen bekannt zu machen, welche die offizielle Geschichte, die von den Siegern erzählte Geschichte, verschweigt oder darüber lügt. "Ich weiß, dass es als Sakrileg erscheinen konnte, dass dieses populärwissenschaftliche Handbuch im Stil eines Liebes- oder eines Piratenromans von politischer Ökonomie sprach. Ich glaube, es ist keine Eitelkeit, wenn man nach einer gewissen Zeit erfreut feststellt, dass Die Adern kein sprachloses Buch gewesen ist."

Ach was! Es war vielmehr die wahre Bibel für diejenigen, die wir gerade unseren Aktivismus begannen, unser wahrer Text der amerikanischen Geschichte, ganz anders als das, was wir im Gymnasium und in den Vorbereitungskursen für die Universität zu lesen und zu studieren gezwungen wurden. Es war die atheistische Initiationsbibel, der Reisepass, um endgültig in América Lapobre einzutreten – und wir liehen uns das Buch gegenseitig aus, um es schnell zu lesen, weil sie es sehr wahrscheinlich verbieten würden.

Das Einzige, was ich mir heute kaum vorstellen kann, ist, dass schon 50 Jahre vergangen sind, dass Las Venas quer durch Generationen, Putsche, Folter, Revolutionen, Exil und Verschwundene gegangen ist... Ich kann nicht fassen, dass Eduardo gestorben ist und dass wir nicht mehr einen Kaffee, ein Bier, einen Rum, ein paar Gläschen Wein trinken, in irgendeinem Café im Zentrum von Montevideo, in seinem Haus in der Straße Dalmiro Costa im Staddteil Malvín, in den Wirtshäusern von Buenos Aires, in Porto Alegre oder auf der Terrasse meiner Wohnung in Caracas.

Galeano war es lästig, ständig von Las Venas zu sprechen, als ob keine Zeit vergangen wäre und als ob er nicht unter anderem auch El libro de los abrazos3 geschrieben hätte.

"Ich habe Uruguay verlassen, weil ich kein Gefangener sein will, und Argentinien, weil ich nicht tot sein will", sagte er mit ernster Miene. Joan Manuel Serrat, einer seiner vielen Freunde, beschreibt ihn am besten: "Galeano liebte es zu lachen. Er praktizierte das Lachen als Verteidigung gegen die täglichen Nöte."

Eduardo blieb am 13. April 2015 am Wegesrand zurück, schon vor mehr als sechs Jahren. Die wirklichen lateinamerikanischen Adern sind noch immer offen. Im 15. und den folgenden Jahrhunderten bestanden die wahren Adern, die es an sich zu reißen galt, aus Zucker, Kaffee, Bananen, Gold, Silber und Kautschuk. Jetzt sind sie aus Soja, Lithium, Erdöl, Wasser, Technologien oder Anti-Covid-Impfstoffen, die, wie wir bereits wissen und erleiden, nicht für alle da sein werden. Seit fünf Jahrhunderten das Gleiche.

  • 1. América Lapobre: "Amerika, das Arme", ein von Galeano geschaffener Begriff
  • 2. Sentipensantes sind laut Galeano Menschen, die "denkend fühlen und fühlend denken können"
  • 3. Das Buch der Umarmungen. Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1991