Venezuela: Die (un)gewollte Privatisierung

Über die schleichende Privatisierung in der Wirtschaft und im Bewusstsein der Bevölkerung

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Verspätungen, Pannen, Kurzschlüsse, Entgleisungen und andere Überraschungen: die Metro von Caracas
Verspätungen, Pannen, Kurzschlüsse, Entgleisungen und andere Überraschungen: die Metro von Caracas

Vor einigen Jahren schrieb ich für einen Wirtschaftsblog, und meine Kollegen sprachen immer wieder von einer bevorstehenden Privatisierungswelle, die alles oder fast alles erfassen würde: Verkehr, Dienstleistungen, Produktionsunternehmen usw.

Früher habe ich das einfach abgetan. Wie können sie das denken? Wir, das Volk, würden das niemals zulassen, unter absolut gar keinen Umständen. Wir sprachen schließlich davon, eine Schlüsselpolitik der Bolivarischen Revolution rückgängig zu machen.

Sie argumentierten immer, dass wir das gar nicht bemerken würden. Tatsächlich würde alles so perfekt geregelt (oder zusammengebrochen) sein, dass wir sogar nach der Dynamik des Marktes verlangen würden. "Als wären wir Idioten!", dachte ich bei mir. An diese Diskussion erinnerte ich mich wieder vor ein paar Wochen, als ich gestrandet war. Die Steuerkette in meinem Auto hatte ihren letzten Atemzug getan und ich musste es in der Werkstatt lassen, während ich mich fragte, wie ich die Reparatur bezahlen sollte.

Dann wurde mir klar, dass ich nicht wusste, wie ich wieder nach Hause kommen soll.

Als ich das letzte Mal mit der Metro in Caracas gefahren bin, war der ganze Zug ein Ofen, er knallte gegen die Schienen und sprühte nach allen Seiten Funken. Es klang wie eine Explosion. An diesem Tag schwor ich mir, sie nie wieder zu benutzen, selbst wenn das bedeutete, durch die halbe Stadt zu laufen.

Millionen von Einwohnern von Caracas haben sich bestimmt das Gleiche geschworen, aber ihre Tagesabläufe oder der Mangel an Alternativen zwingen sie dazu, weiterhin den Verspätungen, Pannen, Kurzschlüssen, Entgleisungen und anderen Überraschungen unserer Achterbahn von Metro zu trotzen.

Inzwischen sind die städtischen Verkehrsmittel (Busse) knapper und in schlechterem Zustand als je zuvor. "Wenn ich einen davon nehme, bekomme ich im besten Fall Covid", dachte ich, als ich sie total voll mit Menschen vorbeifahren sah.

Da mir die Möglichkeiten ausgingen, lud ich mir in einem Geschäft eine App für privaten Transport herunter. Eine von denen, von denen alle immer reden, die ich aber noch nie ausprobiert hatte. Die Fahrt von da, wo ich war, bis zu meiner Wohnung kostete 2,40 US-Dollar. Im Vergleich dazu hätte mich eine Busfahrt 50 Cent und eine U-Bahnfahrt vielleicht 5 Cent gekostet.

Also, " Fahrt bestätigen?", fragte das Handy-Display. Bestätigt, meine Liebe. Während ich auf den Fahrer wartete, schickte ich meine "Live-Location" an drei Freunde. Denn wenn in der U-Bahn oder im Bus etwas Schlimmes passiert, trifft es schließlich alle. Das jetzt war anders.

Zu meiner Überraschung war das Auto ziemlich schick. Die Klimaanlage funktionierte, sogar die Musik war gut. Der Fahrer war sehr freundlich und in weniger als 15 Minuten war ich zu Hause.

Während der Fahrt fand ich heraus, dass es auch private Busse mit ihrer eigenen App gibt. "Wir sind die mobile Alternative für Menschen, die Bargeldknappheit, Schlangen an Tankstellen und stark heruntergekommene Busse satt haben", heißt es in der Anzeige des Dienstes. Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele Unternehmen diesen Dienst für ihre Mitarbeiter nutzen.

Hier war ich also, ging voller Freude in meine Wohnung, nachdem ich mehrere Möglichkeiten gefunden hatte, die öffentlichen Verkehrsmittel zu umgehen. "Es ist mir egal, ob sie zehnmal so teuer sind. Ich werde einen Weg finden, dafür zu bezahlen, wenn ich so das Chaos vermeiden kann, das im öffentlichen Nahverkeht in Caracas ausgebrochen ist", dachte ich mir.

In diesem Moment erinnerte ich mich an die Gespräche mit meinen früheren Arbeitskollegen, und das positive Gefühl verschwand. Ich wollte sie anrufen und zugeben: Verflucht, ihr hattet recht. Selbst ich erwischte mich dabei, dass ich Privatisierungen begrüßte, ohne es zu merken.

Tatsächlich fluche ich jedes Mal innerlich, wenn die Internetverbindung an meinem Wohnort zusammenbricht: "Verdammt noch mal, gebt dieses Telekommunikationsunternehmen Mendoza1, Cisneros2, den Chinesen, den Russen, wem auch immer, Hauptsache, es funktioniert!" Ich werde jetzt nicht meine Gedanken mitteilen, wenn es Stromausfälle gibt. Und ich bin sicher, dass unzählige andere das auch durchmachen.

Schließlich hat sich die Prophezeiung erfüllt. Durch die Sanktionen und den Cocktail aus Korruption und Ineffizienz in Staatsbetrieben ist alles in einem so miserablen Zustand, dass wir nach jeder Lösung rufen, auch wenn sie bedeutet, dass wir gegen das angehen, was wir jahrelang verteidigt haben.

Ich für meinen Fall habe leidenschaftlich für gute öffentliche Verkehrsmittel gekämpft, jetzt vermeide ich sie um jeden Preis und freue mich sogar über jede Uber-ähnliche Alternative.

Es gibt noch eine andere Geschichte, die mich zum Nachdenken gebracht hat. Vor einigen Monaten protestierte eine Gruppe von Bauern in einer stillstehenden Zuckermühle im Bundesstaat Portuguesa (amerika21 berichtete). Die Anlage war im Rahmen einer "strategischen Allianz" an einen privaten Geschäftsmann übergeben worden, funktionierte aber nicht, und die Ernten der Bauern drohten zu verderben.

In einem Video, das in sozialen Netzwerken verbreitet wurde, verlangte die Sprecherin der Gruppe Antworten von der Regierung und dem Gouverneur und forderte sie auf, "einen anderen privaten Investor für die Mühle zu finden". Mit anderen Worten, sie schlug nicht vor, dass der Staat die Mühle erneut verwaltet, und noch weniger, dass die Arbeiter und Bauern die Kontrolle übernehmen.

Mag sein, dass die US-Blockade letztlich nicht zum Sturz der Regierung führen wird. Aber wenn wir uns den Launen des Marktes ausliefern und wieder glauben, dass nur der Privatsektor die Dinge richtig machen kann, ist das dann nicht eine Niederlage?

Nicht alles kann von Apps und Investoren gelöst werden. Der öffentliche Verkehr und Zuckermühlen erfordern staatlich geleitete, kollektive Lösungen, die für die Mehrheit funktionieren. In der Welt des "Jede und Jeder für sich" wissen wir, wer immer verliert.

  • 1. Lorenzo Mendoza ist ein venezolanischer Unternehmer in der Nahrungsmittelbranche. Er ist Vorstandsvorsitzender der Unternehmensgruppe Empresas Polar, dem zweitgrößten Wirtschaftsunternehmen des Landes
  • 2. Gustavo Cisneros ist ein venezolanischer Unternehmer in der Medien- und Getränkeindustrie. Er gilt als lateinamerikanischer Medienzar. Er gehört zu den 150 reichsten Menschen der Welt