Kolumbien: Tribunal verurteilt Staat für Menschenrechtsverletzungen im Streik 2021

Das "Tribunal Popular en Siloé" prüfte 159 Fälle von Verbrechen der Sicherheitskräfte. Aktivist:innen aus dem Viertel hatten Beweismaterial zusammengetragen

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Anhörung beim Tribunal
Anhörung beim Tribunal

Cali. Eine internationale Jury hat am Montag in Cali symbolisch den kolumbianischen Staat für Menschenrechtsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit verurteilt. Das "Tribunal Popular en Siloé" beschuldigte neben dem Ex-Präsidenten Iván Duque hochrangige Politiker:innen und Sicherheitskräfte, für 16 Todesopfer im Laufe der Proteste 2021 in der Kommune 20 in Cali verantwortlich zu sein.

Das Urteil verfassten 14 internationale Geschworene aus Argentinien, Bolivien, Ecuador, Kuba, Deutschland und den USA, darunter Boaventura dos Santos, Daniel Feierstein, Jo-Marie Burt, Joanne Rappaport, Raúl Zelik und Dario Azzelini. In Anwesenheit von Bürger:innen, Familienmitgliedern, Opfern, Pressevertreter:innen und verschiedenen nationalen und internationalen Organisationen wurde das Urteil verlesen. Aus Deutschland waren neben Zelik Garanten zugegen, unter anderem Delegierte von Pax Christi und Attac.

Die schwerwiegendsten und mehrfachen zur Last gelegten Verbrechen sind: Mord, gewaltsames Verschwindenlassen oder versuchtes gewaltsames Verschwindenlassen, Folter und grausame oder unmenschliche Behandlung, Verletzungen durch Schusswaffen, willkürliche Verhaftungen, Drohungen, Anschuldigungen und Einschüchterungen und unverhältnismäßige Gewaltanwendung.

Das Tribunal prüfte Beweismaterial in 159 Fällen, das Aktivist:innen aus dem Viertel zusammengetragen hatten. Dazu zählen Fotos, Handyvideos, Krankenakten, Medienberichte und Zeugenaussagen.

"Das Besondere am Tribunal in Siloé ist, dass es aus einem marginalisierten Stadtteil heraus selbst organisiert wurde und eben nicht von Nichtregierungsorganisationen. Es wurden Fälle ans Licht gebracht, die zuvor nicht bekannt waren. Am Beginn der Recherchen war man noch von acht Toten ausgegangen, im Urteilsspruch werden nun 16 Ermordete beklagt. Im Laufe der Ermittlungen haben sich immer mehr Familien gemeldet, die während des Streiks Opfer der Repression wurden", betont Zelik gegenüber amerika21.

Das Tribunal wurde im Mai 2022 von Familien und Opfern aus Siloé, Menschenrechtsverteidiger:innen und der katholischen Kirche ins Leben gerufen, weil die Staatsanwaltschaft bis auf wenige Fälle keine Untersuchungen zur Gewalt der Sicherheitskräfte anstellt. Die Bewohner:innen hätten sich organisiert, um gegen die Straflosigkeit zu kämpfen und die Würde der Opfer wiederherzustellen, so der Aktivist David Gómez aus Siloé.

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Die Jury des Tribunals gab am 20. Februar ihr Urteil bekannt
Die Jury des Tribunals gab am 20. Februar ihr Urteil bekannt

Mehr als hundert nationale und internationale Organisationen unterstützen das Tribunal.

"Das Tribunal Popular in Siloé eröffnet einerseits die Möglichkeit, den Überlebenden und Angehörigen der staatlichen Repression des Streiks von 2021 Gehör zu verschaffen. Andererseits geben die Nachforschungen des Tribunals Anlass dazu, die konkreten Ereignisse in Siloé vor dem Hintergrund der Geschichte Kolumbiens zu lesen. Sie sind Teil eines systematischen, kontinuierlichen Krieges gegen die marginalisierte Bevölkerung. Diese Interpretation wurde ebenso vom Ständigen Tribunal der Völker in seinem Urteil zu Kolumbien vom April 2021 verwendet", erklärt der Vorsitzender der Jury, Feierstein, gegenüber amerika21.

Ende April 2021 hatten sich Proteste gegen die Steuerreform der damaligen Regierung zu einem landesweiten monatelangen Streik ausgeweitet. Von der Reform wären vor allem die Unter- und Mittelschicht betroffen gewesen, die durch die Folgen der Corona-Pandemie in existentielle Not gestürzt waren. In und um die Millionenstadt Cali errichteten Protestierende Straßenblockaden, die die Stadt wochenlang lahmlegten.

"Cali war das Epizentrum des monatelangen Volksaufstandes 2021 gegen die sozialen Verhältnisse. Der Staat antwortete mit dramatischer Gewalt auf die Proteste. In ganz Kolumbien starben mehr als 100 Menschen und zahllose Personen sind verschwunden. Die genauen Zahlen sind gar nicht bekannt", so Zelik.

Duque wird von den internationalen Geschworenen zur Last gelegt, dass er mit der Anordnung der militärischen Unterstützung der Polizeikräfte die Situation eskalierte. Er hatte im April 2021 die Protestierenden als aufständische Vandalen und Terroristen bezeichnet und ihnen das Recht auf Protest abgesprochen. Zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung wurden im Mai 2021 über 3.000 Militärs nach Cali beordert.

Der ehemalige Militärgeneral Eduardo Enrique Zapateiro Altamirano hatte das Oberkommando in Cali übernommen und ist im Urteil ebenfalls als einer der Hauptschuldigen genannt.

Darüber hinaus werden der ehemalige Verteidigungsminister, Diego Andrés Molano Aponte, Generalstaatsanwalt Francisco Barbosa, die Gouverneurin des Departamentos Valle del Cauca und Calis Bürgermeister sowie Polizeikommandanten und Befehlshaber der Spezialeinheiten zur Aufstands- und Terrorbekämpfung für die Verbrechen verantwortlich gemacht. In einigen Mordfällen konnte nachgewiesen werden, dass Munition dieser Spezialeinheiten zum Einsatz kam. Zahlreiche Menschen in Siloé seien gezielt durch Scharfschützen erschossen wurden.

In Kolumbien untersteht die Polizei dem Verteidigungsministerium. Auch deswegen hatten internationale Menschenrechtsorganisationen in ihren Berichten zum Streik 2021 eine Polizeireform empfohlen. Diese wird nun von der neuen Regierung Kolumbiens mit Vertreter:innen der Zivilgesellschaft diskutiert.

Darüber hinaus hat Präsident Gustavo Petro versprochen, die Empfehlungen des Interamerikanischen Menschenrechtgerichtshofes (CIDH) umzusetzen. Dazu zählt auch eine Entschädigung der Opfer staatlicher Gewaltanwendung. "Der Staat verpflichtet sich, die Opfer der Repressionen, die gegen die soziale Bewegung zur Anwendung kamen, zu entschädigen", hatte Petro vor drei Wochen erklärt. Dafür sind Recherchen wie die des Tribunals notwendig, denn viele Betroffene hatten aus Angst und Einschüchterung ihre Verletzungen nicht zur Anzeige gebracht.

Vize-Außenministerin Laura Gil kündigte als nächsten Schritt an, gemeinsam mit Vertreter:innen der Zivilgesellschaft an der Umsetzung der Empfehlungen zu arbeiten. Sie glaube daran, dass dies zu strukturellen Änderungen führen werde, damit derartige Verbrechen sich nicht wiederholten.