Kolumbien brennt: Es geht nicht um "Steuerreform", es geht um Hunger und Würde

Die Millionen Armen in einem enorm reichen Land ertragen es nicht mehr, zwischen sehr wenig und nichts wählen zu müssen. Sie haben sehr wenig zu verlieren

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"Die Bevölkerung kämpft trotz der furchtbaren Unterdrückung jeden Tag und auf jede Weise"
"Die Bevölkerung kämpft trotz der furchtbaren Unterdrückung jeden Tag und auf jede Weise"

Kolumbiens Regierungssystem ist seit Beginn des 19. Jahrhunderts im permanenten Krieg gegen seine Bevölkerung.

Es begann, kaum dass der Venezolaner Simón Bolivar die Macht in Bogotá verließ, als er sich verraten sah und ermordet werden sollte. Er hatte unter anderem Kolumbien die Freiheit gebracht, indem er mit seiner Truppe aus zerlumpten Tapferen, fast ausschließlich Venezolaner, kämpfte, bis die spanische Krone vertrieben war...

Noch vor jedem anderen Staat in Lateinamerika begannen die politische Führung und die katholische Kirche Kolumbiens, repressive Gesetze zur Verfolgung des "Kommunismus" zu erlassen. Ich spreche vom Jahr 1920.

Aber auch wenn man nur von den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgeht, kann man sagen, dass Kolumbien, ohne Diktaturen zu brauchen und immer unter der Ägide der USA, die Doktrin der Nationalen Sicherheit wie keine andere Nation in der Region durchgesetzt hat.

Präsident Kennedy, dessen Administration die Doktrin konzipierte und ausbaute, beglückwünschte die Kolumbianer voller Bewunderung für ihre Fähigkeit, sie umzusetzen.

Diese Strategie, den "inneren Feind", die politische Opposition, auszuschalten, ist immer noch in Kraft. Und unter dieser Doktrin ‒ lesen Sie genau und entschuldigen Sie den Vergleich – hinterlässt jeder kolumbianische Präsident nach vier Jahren im Amt mehr Tote und Verschwundene aus politischen Gründen als alle Diktaturen, die die USA in Chile, Brasilien, Uruguay, Paraguay, Bolivien und Argentinien errichtet haben, zusammen und im Zeitraum von 16 Jahren.

Krematorien bis hin zu Krokodilfarmen wurden geschaffen, um kommunitäre Führungspersönlichkeiten verschwinden zu lassen. Es gibt kein anderes Land auf der Welt, in dem Massengräber mit jeweils mehr als 2.000 Menschen gefunden wurden.

Die paramilitärischen Gruppen sind seit sechs Jahrzehnten Teil des kolumbianischen Regierungssystems. In den 1980er-Jahren trainiert von israelischen, britischen und US-Experten wurden und werden sie mit Geld aus dem Drogenhandel finanziert. Sie sind dafür zuständig, die "Drecksarbeit" für die Armee zu machen und die ländlichen Gebiete von möglichen Gegnern der transnationalen Konzerne und Großgrundbesitzer zu "säubern", die sich der Kontrolle über die immensen strategischen Ressourcen bemächtigen.

Kolumbien ist der größte Produzent und Exporteur von Kokain der Welt, obwohl US-Truppen intervenierten, die unter dem Vorwand kamen, genau das zu bekämpfen; während die USA zugleich der Hauptabnehmer sind und ihre Banken 95 Prozent der Gewinne aus diesem Milliardengeschäft einstreichen.

Trotzdem wird immer wieder beteuert, dass Kolumbien die älteste Demokratie Lateinamerikas ist. Klar, es gibt regelmäßig Wahlen, und wie von Zauberhand verschließen sie die Augen vor der Realität.

Ich wurde gebeten, einen Text an Präsident Iván Duque oder an die "Internationale Gemeinschaft" über die aktuelle Repression zu verfassen (die sich in die Städte verlagert hat, nachdem sie sich immer auf das Land konzentriert hatte), aber ich kann nicht, Der Grund ist einfach: Ich kann nicht in aller Ruhe schreiben, während ich diese Realität und ihre Wurzeln kenne (genauso wenig, wie ich es angesichts der Aggressionen gegen Kuba, Venezuela oder so viele andere Länder kann). Es ist für mich unmöglich, "salonfähige" Begriffe zu verwenden.

Zudem sollte sich jeglicher Protest nicht an diese kolumbianischen mafiösen und mörderischen Politiker richten, denn sie sind nur die Diener: Er muss sich an den Präsidenten der USA richten, denn er ist der erste und wahre Verantwortliche. Er ist es, der in Kolumbien herrscht.

Vielen Dank, dass Sie mir das vorgeschlagen haben. Vielen Dank für das, was Sie für dieses Volk tun können, das trotz der furchtbaren Unterdrückung, auch der wirtschaftlichen Unterdrückung, jeden Tag und auf jede Weise kämpft. Oh, ich spreche vom Volk, VOLK, nicht von der kleinbürgerlichen Mehrheit in den Städten, die nur gelegentlich spürt, was staatliche Gewalt ist, aber bereit ist, auf die "Ausschreitungen des Pöbels" hinzuweisen.

Und abschließend sage ich euch: Der Vorschlag der Steuerreform war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Diese Millionen Armen in einem enorm reichen Land ertragen es nicht mehr, zwischen sehr wenig und nichts wählen zu müssen. Sie haben sehr wenig zu verlieren.

Die Stadt, die sich am heftigsten im Zorn erhoben hat und die die furchtbare Repression und die Verbrechen der staatlichen Kräfte zum Schweigen bringen wollen, ist Cali im Südwesten des Landes. Um die Proteste zu "beruhigen" haben sie ganze Truppenkontingente geschickt, noch zusätzlich zu den Tausenden Soldaten, die bereits vor Ort sind.

Der Kommandeur der Streitkräfte selbst leitet die "Einsatzoperationen".

Es wäre zwar seltsam, aber vielleicht haben sie die Geschichte des Landes studiert und wissen, dass in dieser Stadt der erste Schrei nach Unabhängigkeit ertönte und der Krieg zur Vertreibung der spanischen Krone begann.

Das war die erste Unabhängigkeit...

Hernando Calvo Ospina aus Kolumbien ist investigativer Journalist und Schriftsteller. Er lebt seit 1986 als politischer Flüchtling in Frankreich