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Chile: Das Gesetz gegen Besetzungen oder der Sessel von Don Otto

In Chile fehlen 650.000 Wohnungen. Ein neues Gesetz ermächtigt Eigentümer, Haus- und Landbesetzer mit allen Mitteln zu vertreiben

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Das neue Gesetz erlaubt Eigentümern in Chile Land- und Wohnungsbesetzer mit allen Mitteln zu vertreiben
Das neue Gesetz erlaubt Eigentümern in Chile Land- und Wohnungsbesetzer mit allen Mitteln zu vertreiben

Der Witz über Don Otto, der von Generation zu Generation weitergegeben wird, erzählt, wie Don Otto seine Frau dabei erwischte, als sie ihn im Sessel seines Hauses betrog. Um zu verhindern, dass sie ihn weiter betrügt, fand er die Lösung: Er verkaufte den Sessel.

Eine Analogie könnte in Bezug auf den Wohnungsmangel in Chile heute gezogen werden.

Nach Angaben staatlicher Stellen und der Chilenischen Kammer für Bauwesen beläuft sich die Zahl fehlender Wohnungen im Jahr 2022 auf 650.000 Einheiten. Wenn man davon ausgeht, dass in einem durchschnittlichen Einfamilienhaus vier Personen leben, dann machen die Einwohner unseres "gestickten Blumenfeldes"1 ohne Zugang zu Wohnraum mehr als zwei Millionen Menschen aus. Mit anderen Worten, eines der grundlegendsten Bedürfnisse der Chilenen, ein eigenes Zuhause, wird ihnen verwehrt.

Dies bedeutet einen Anstieg des Defizits an Wohnraum um 66 Prozent in sieben Jahren. Doch trotz dieser schmerzlichen Realität hat unser Parlament keine bessere Lösung gefunden, als jeden zu erschießen, der es wagt, in einer besetzten Ansiedlung zu leben.

Gestern hat das chilenische Parlament ein trauriges Gesetz verabschiedet, das "Gesetz gegen Besetzungen", das nicht mehr und nicht weniger bedeutet als die mögliche Eskalation einer noch nie dagewesenen Art von Gewalt, die entfesselt werden kann.

Sie bezeichnen dieses klassistische Gesetz, das den Reichen das Recht garantiert, ungestraft auf die Armen zu schießen, als "legitime privilegierte Selbstverteidigung".

Die Abgeordnetenkammer hat es, wie es immer in der Geschichte Chiles geschah, mit den Stimmen der Rechten und der neuen Rechten angenommen, die jetzt vom Movimiento Amarillos por Chile und einem Teil der Christdemokratie vertreten wird. Mit diesem neuen "Gatillo fácil"2-Gesetz bekommen Privatbesitzer die Aufgabe übertragen, die der Staat eigentlich abdecken sollte, wie es die Sicherheit und die öffentliche Ordnung ist ‒ auf Kosten des Zugangs zu Wohnraum.

Dieses "Gatillo Fácil" ermächtigt Eigentümer bei illegalen Übernahmen von Immobilien, die Menschen, die sie besetzen, mit allen Mitteln zu vertreiben.

Besser gesagt, mit Kugeln und exzessiver Brutalität. Ein wahrhaftes Gesetz zugunsten der Besitzenden gegen das arme und ausgegrenzte Volk. Wo der Besitz von Grund und Boden wichtiger ist als das menschliche Leben und die Bedürfnisse nach Obdach und Wohnraum, unter denen ein großer Teil der chilenischen Bevölkerung leidet.

Letztlich wurde die gesamte Sicherheitsagenda von der putschistischen Rechten übernommen. Die Regierung empört sich jetzt und zieht sich von einem Gesetz zurück, dem sie höchste Dringlichkeit eingeräumt hat und das sich nun als perfekter Maßanzug für die reaktionärsten Sektoren unseres Landes erweist.

Wir müssen uns daran erinnern, dass unser gesamtes Territorium von den spanischen Invasoren und Verbrechern illegal an sich gerissen wurde. Als die chilenische Regierung in der Zeit der Republik mit der schlecht so benannten "Befriedung Araukaniens" unter dem verbrecherischen und völkermordenden Cornelio Saavedra begann, verlangte sie von den Araukanern die "Dokumente" über den von ihnen bewohnten Besitz.

Dann stahlen sie mit der Komplizenschaft der Regierung, der Richter, der Grundbuchbeamten und vieler Beamter das riesige und unermessliche Territorium, das rechtmäßig den ursprünglichen Bewohnern gehörte. Die Großgrundbesitzer haben sich dieses Gebiet dann mit Brutalität und Betrug angeeignet.

Jetzt machen die Kinder dieser Landdiebe einen Aufstand, weil die Mapuche ihr angestammtes Land zurückgewinnen wollen oder die Besitzlosen ein Stück Land fordern, um ihre bescheidenen Behausungen zu errichten.

Vor dem Putsch vom 11. September 1973 sorgte der chilenische Staat über das Wohnungsbauministerium und die Corvi (Corporación de la Vivienda) für den Bau und die Zuweisung von Wohnraum für die Marginalisierten sowie für die Planung der neuen Arbeitersiedlungen Chiles. Er sorgte auch für Zugang zu Gesundheit, Nahrung und Bildung.

14. August 2023

  • 1. Bezieht sich auf eine Zeile der chilenischen Landeshymne: "y tu campo de flores bordado es la copia feliz del Edén"
  • 2. Kritiker bezeichnen mit dem Begriff "Gatillo fácil" den vorschnellen und ungestraften Einsatz von Schusswaffen und entgrenzter Gewalt durch Sicherheitskräfte