Generalstreik in Chile, Piñera sagt Apec-Gipfel und UN-Klimakonferenz ab

Massive Beteiligung an landesweitem Streik und Demonstrationen. Forderungen zielen auf strukturellen Wandel in Politik und Wirtschaft

chile_streik_temuco.jpg

Auch in Temuco in Südchile beteiligten sich Tausende am Streik
Auch in Temuco in Südchile beteiligten sich Tausende am Streik

Santiago. Der "Mesa de Unidad Social" (Tisch der sozialen Einheit) in Chile, ein Zusammenschluss aus über 70 Arbeitnehmerverbänden und sozialen Organisationen, hatte für vergangenen Mittwoch zu einem Generalstreik aufgerufen. Die Bevölkerung wurde außerdem aufgefordert, sich den landesweiten Protesten anzuschließen und sich ab elf Uhr morgens auf den zentralen Plätzen der Regionalhauptstädte zu versammeln. Die Bürger sollten zudem ihre Kinder nicht in die Schule schicken, grundlegende Dienstleistungen nicht in Anspruch nehmen oder nicht bezahlen, die Zahlung der Straßenmaut verweigern und ihre Autokennzeichen abdecken, morgens Straßen und Autobahnen blockieren und sich um 20 Uhr den sogenannten Cacerolazos anschließen, einer Protestform, bei der auf Kochtöpfe geschlagen wird.

Die zentralen Forderungen der Protestierenden sind ein solidarisches und umlagefinanziertes Rentensystem, die Erhöhung des Mindestlohns auf 500.000 Pesos (etwa 600 Euro), die Anerkennung der Gewerkschaftsfreiheit und Tarifverhandlungen nach Branchen sowie die Gewährleistung der Grundversorgung, gerechte Tarife beim öffentlichen Nahverkehr und kostenfreier Transport für Rentner, Gesundheit, Bildung und Wohnen als soziale Rechte, die Aufhebung der Maut und die Verstaatlichung der Autobahnen sowie schließlich die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch eine verfassungsgebende Versammlung. Auch der Rücktritt von Präsident Sebastián Piñera wurde von Demonstrierenden weiterhin gefordert.

Die Hafenarbeiter und die Bergarbeiter des größten Kupfer-Tagebaus Escondida legten teilweise schon am Dienstag ihre Arbeit nieder und kündigten einen nationalen unbefristeten Streik ab kommendem Montag an.

"Heute wird deutlich, dass das Wirtschaftsmodell und das politische System der letzten 40 Jahre an ihre Grenzen gestoßen sind und nicht mit kleinen Reparaturen verändert werden können. Wir brauchen einen strukturellen Wandel", schreiben die Hafenarbeiter in ihrem Aufruf. Die 24 wichtigsten Gewerkschaften der Bergarbeiter verweigern derzeit jeglichen Dialog mit der Regierung, solange es weiterhin zu Verletzungen der Menschenrechte bei den Protesten kommt und die durch Polizei- und Militärgewalt verübten Tötungen der letzten Tage nicht vollständig aufgeklärt sind.

Möglichen Absagen von Regierungsvertretern aus dem Ausland für die Teilnahme an der UN-Klimakonferenz kam Präsident Piñera nun zuvor. Kurzerhand sagte er sowohl das Treffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (Apec) als auch den Weltklimagipfel COP25 ab. Der Apec-Gipfel hatte in den letzten Tagen besondere Relevanz erhalten, nachdem der US-amerikanische Präsident Donald Trump und sein chinesischer Amtskollege Xi Jinping angekündigt hatten, bei diesem Treffen eine Vereinbarung unterzeichnen zu wollen, die den Wirtschaftskrieg zwischen beiden Ländern beenden soll.

Verschiedene Umweltorganisationen und die internationalen Medien reagierten besorgt auf die Ankündigung, dass die COP25 somit eventuell nicht stattfindet. "Piñeras Entscheidung könnte die zögerlichen internationalen Anstrengungen, die Klimakrise in Angriff zu nehmen, nun unterbrechen", schrieb etwa der britische Guardian.

Am Morgen des 30. Oktobers versammelten sich in Santiago wieder Tausende Menschen auf den Straßen, um friedlich zu demonstrieren. Erstmals gelang es dem Demonstrationszug, bis zum Regierungsgebäude vorzudringen. In der Hafenstadt Valparaíso fand einer der größten Protestmärsche des gestrigen Tages statt. Auch an diesem Tag kam es wieder zu massiver Polizeigewalt. Am Tag zuvor wurde gar ein Mitarbeiter des Nationalen Instituts für Menschenrechte im Dienst durch Schüsse am Bein verletzt. Bis zum 29. Oktober hat sich die Zahl der Inhaftierten landesweit auf fast 4.000 Personen und die Zahl der Verletzten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten, auf über 1.200 erhöht.

Während auf den Straßen des Landes die Demonstrationen bis in den späten Abend andauerten, über die hauptsächlich in regionalen und sozialen Medien berichtet wurde, strahlten die chilenischen Fernsehsender wieder Telenovelas und ihr gewöhnliches Programm aus. Die Regierung ist bemüht, den Schein von Normalität herzustellen. Dafür soll der scheidende Innenminister Andrés Chadwick auch die Geschäftsführer der wichtigsten TV-Sender einberufen haben. Aufgrund des Verdachts der Einmischung in die Pressefreiheit und der Kartellbildung wurde nun Anzeige gegen ihn erstattet.

Doch Chadwick muss sich nicht nur aus diesem Grund auf einen Prozess gefasst machen: Mehrere Abgeordnete der Opposition haben wegen der Verletzung von Menschenrechten am Dienstag eine Verfassungsklage gegen ihn eingereicht.