Generalstreik in Kolumbien zwischen Verhandlungen und Todesfällen

Dialog auf regionaler Ebene. Dekret zur Räumung der Blockaden weiter umstritten. Vizepräsidentin zu Besuch bei UNO und Bachelet

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Protestierende der "ersten Reihe", die die Blockaden in Cali gegen die Räumung verteidigen
Protestierende der "ersten Reihe", die die Blockaden in Cali gegen die Räumung verteidigen

Bogotá/Cali. Der Generalstreik in Kolumbien dauert bereits sieben Wochen an. Die meisten Blockadepunkte im Land wurden mittlerweile durch den massiven und brutalen Polizeieinsatz mit Unterstützung des Militärs geräumt. Während Vertreter:innen des Protests mit Regierungsverantwortlichen auf regionaler und nationaler Ebene verhandeln, gehen die Polizeieinsätze und die Militarisierung des Landes unvermindert weiter. Wie schon in den Wochen zuvor setzen sich die Menschenrechtsverletzungen fort.

In der vergangenen Woche kamen die Verhandlungen zwischen dem nationalen Streikkomitee und der Regierung zum Erliegen. Meinungsverschiedenheiten bestehen vor allem darüber, inwiefern die Aufhebung der Blockaden Grundbedingung für eine Fortführung der Gespräche ist. Laut Julián Domínguez, Präsident des Unternehmerverbandes, haben die Blockaden bisher "einen geschätzten ökonomischen Verlust von über 1,3 Millionen Euro verursacht".

Aktivist:innen monieren gegenüber der Regierung, dass es keine Garantien auf friedlichen Protest und die Sicherheit der Protestierenden gebe. Bis zum heutigen Tag konnten keine Verhandlungsfortschritte erzielt werden.

Unterdessen finden auch auf regionaler Ebene Verhandlungen statt, wie zum Beispiel in Cali im Departamento Valle del Cauca. Die drittgrößte Millionenstadt im Südwesten des Landes hat sich zur Protesthochburg herauskristallisiert. Dort hat der Einsatz von Polizei und Militär die meisten Todesopfer und Verletzten gefordert.

Mehr als sechs Wochen waren die Bundesstraßen des Departamentos und der Stadtverkehr in Cali weitestgehend lahmgelegt. Insbesondere die Zufahrtsstraße zur Hafenstadt Buenaventura am Pazifik ist von wirtschaftlicher Bedeutung, da hier 70 Prozent des Außenhandels abgewickelt werden. Tausende von Demonstrierenden hatten Straßensperren errichtet und diese trotz der zahlreichen Toten, Verletzten und Verschwundenen durch Einsätze der staatlichen Sicherheitskräfte verteidigt.

Das Menschenrechtsnetzwerk Defender la Libertad zählt zwischen dem 28. April und 11. Juni 78 Todesfälle im Rahmen des Generalstreiks, wovon 24 staatlichen Sicherheitskräften zugeschrieben werden. Für die restlichen Morde sind Zivilist:innen verantwortlich oder die Täterschaft konnte bisher nicht eindeutig ermittelt werden. 1.522 Personen wurden verletzt und 84 gelten weiterhin als verschwunden. Insbesondere Beweisvideos, in denen die Polizei gemeinsam mit bewaffneten Zivilist:innen auf Demonstrant:innen schießen, sorgten für Aufmerksamkeit.

Vor einer Woche hatte die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch eine "tiefgreifende Polizeireform" in Kolumbien gefordert. Víctor De Currea-Lugo, kolumbianischer Intellektueller, erläutert den Hintergrund dieser Forderung: "Die kolumbianische Polizei ist keine Bürger- oder republikanische Polizei im europäischen Sinne. Sie ist vielmehr enorm militarisiert. Sie besitzt Sonder-/Elitekommandos, beteiligt sich an der militärischen Guerilla-Bekämpfung und verfügt über schwere Militärwaffen."

Ein Team der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH) hatte letzte Woche Kolumbien besucht, um die Lage der Menschenrechte im Zuge der Proteste zu untersuchen. Die CIDH ist ein 1959 gegründetes, unabhängiges Organ der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mit Sitz in Washington.

Im Gegenzug hat sich die kolumbianische Vizepräsidentin und Außenministerin, Marta Lucía Ramírez, in Europa mit Vertreter:innen der Vereinten Nationen und Spaniens getroffen, um Berichte über die Menschenrechtssituation aus Sicht ihrer Regierung zu präsentieren. Gegenüber Michelle Bachelet, Hochkommissarin der UN für Menschenrechte, versicherte Ramírez, dass in "in Kolumbien kein einziger Fall der Verletzung von Menschenrechten ungestraft bleibt".

Die Regierung hält derweil an der gewaltsamen Räumung der Blockaden fest. Am 28. Mai hatte Präsident Iván Duque ein Dekret erlassen, das die militärische Unterstützung der Polizei in sieben Departamentos erlaubt. Das Militär solle bei der Beseitigung der Blockaden und bei Festnahmen von "Randalierern" helfen.

Der Jurist Rodrigo Uprimny beurteilt das Dekret als verfassungswidrig, weil es das Recht auf Protest verletze. Zuerst müssten alle diplomatischen Mittel ausgeschöpft werden, bevor Blockaden aufgelöst werden könnten – und auch das immer nur ohne Mithilfe des Militärs. Uprimny interpretiert die Militarisierung und Aussetzung fundamentaler Grundrechte per einfachem Präsidialdekret als schleichenden Ausnahmezustand, der eigentlich laut Verfassung einer Kontrolle des Verfassungsgerichts und des Parlaments unterliege.

Demgegenüber hatte Anfang Juni der Bürgermeister von Cali, Jorge Iván Ospina, per Dekret Gespräche mit Aktivist:innen der sogenannten "Vereinigten Widerstände Calis" aufgenommen und sie als "autonome Vertretung der Widerstandspunkte für Verhandlungen" bezeichnet. Dies hat ihm die Kritik eingebracht, er würde damit die Blockaden legitimieren.

Daraufhin gab das städtische Verwaltungsgericht vorgestern einer Klage statt und erklärte das Verhandlungsdekret von Ospina als rechtswidrig. Dies ist ein herber Rückschlag für die autonome Bewegung der Barrikaden, die erste Einigungen mit der Stadtverwaltung über eine Verbesserung der Ausbildungschancen und sozialen Situation von Jugendlichen erzielt hatte. Ein Großteil der 25 Blockadepunkte in der Stadt wurden mittlerweile mit Gewalt geräumt. In einigen wenigen Fällen hatten Aktivist:innen freiwillig die Straßenblockaden aufgelöst.

Die Gouverneurin des Departamento Valle del Cauca, Clara Luz Roldán, betonte, dass sie die Verhandlungen mit den jungen Aktivist:innen fortführen werde, bis endgültige Ergebnisse vorlägen. "Wir führen mit denjenigen Personen Verhandlungen, die soziale Anliegen haben. Die Jugendlichen haben an den Protesten teilgenommen, weil sie Studienplätze und die Gründung von Unternehmen fordern", so die Gouverneurin in einer Pressemeldung. Auch Bürgermeister Ospina bekräftige, dass er trotz des richterlichen Beschlusses am Dialog festhalten wolle.

Die Ursache der Proteste ist auf eine Mischung aus Ungleichheit, Exklusion und Armut zurückzuführen. Ein kartographischer Blick auf die Blockadepunkte in Cali bringt schnell zum Vorschein, dass es sich vor allem um einen Aufstand der Verarmten ohne Zukunftsperspektive handelt, deren Situation sich durch die Pandemie noch weiter verschärft hat. In Cali lebt ein Drittel der Bevölkerung in Armut.