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Europa – Der Schlamm unter dem Sand

Wenn über kurz oder lang ein neues Attentat in Europa geschieht, wird sich vielleicht jemand fragen: warum?

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Am 19. Juli ließ Frankreichs Staatspräsident Hollande das Dorf Tokhar Manbij im Norden Syriens bombardieren
(Screenshot)
Am 19. Juli ließ Frankreichs Staatspräsident Hollande das Dorf Tokhar Manbij im Norden Syriens bombardieren (Screenshot)

Europa, besser gesagt die Europäische Union und die Nato, kannten sehr wohl den Weg in die Zerstörung Libyens, Syriens, des Irak und Afghanistans, aber niemand hatte ihnen erklärt, wie man von dort wieder zurückkommt.

Um die neuen Schlachtfelder übersichtlicher zu machen benutzten die großen westlichen Strategen das BARS-System (Battlefield Augmented Reality System) oder "System zur Vergrößerung der Realität auf dem Schlachtfeld". Zusätzlich orientierten sie sich an den Vorgaben der interdisziplinären Labors oder "Denkfabriken", wobei die Politik und die Medien das Ganze einstimmig unterstützten. Mit ihrer Flut von Raketen machten sie ganze Länder mit äußerster Sorgfalt dem Erdboden gleich; tausende von Dörfern, hunderte von Städten, Millionen von Menschenleben und Jahrhunderte an Zivilisation wurden vernichtet.

Niemand kann es leugnen: falls der Plan darin bestand, einfach zu zerstören, dann war der militärische Teil des "Arabischen Frühlings" der durchschlagendste Erfolg des Westens seit der Niederschlagung des sozialistischen Blocks und der Öffnung der Berliner Mauer.

Fast 20 Jahre lang bereiteten sich die USA und ihre europäischen Verbündeten für den finalen Überfall auf die energieerzeugende Welt vor, besonders auf die Öl- und Gasreserven. Es ging um die Auslöschung der Länder, die sich weigerten, ihre Ressourcen widerstandslos zu übergeben, wie Syrien, Libyen und Iran.

Die Operationen waren bereits voll im Gange, als die Strategen des Pentagon ein geologisches Detail entdeckten, dass sie bislang nicht beachtet hatten. Denn unter dem Sand des mittleren Ostens gab es nicht nur riesige Energievorkommen, sondern auch immense Schlammgebiete, in denen sie seit 2001 steckenblieben.

Die gleichen Kräfte, die die Nato für die Niederlage der Sowjetunion in Afghanistan, für die Zerstörung Libyens und das Martyrium des Oberst al-Gaddafi anheuerte und die für das Syrien des Bashar al-Assad fast das gleiche Schicksal erreicht hätten, werden heute gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt. Es ist ungeheuerlich: es werden keine Bombengeschwader eingesetzt, keine Jagdflugzeuge und Drohnen, Bataillone und Panzer oder Flugzeugträger. Die "Heere", die heute das Nervensystem der Europäer und US-Amerikaner1 zerstören, reisen in U-Bahnen, fahren Lastwagen, besuchen Einkaufszentren und trinken Kaffee im Biatro an der Ecke.

Die Art der Angriffe, die seit Nizza stattfanden, machen im Unterschied zu Madrid, London, Paris und Brüssel deutlich, dass sie nicht in einem organischen Zusammenhang mit dem sogenannten Islamischen Staat oder mit Al-Qaida stehen. Allerdings wird überdeutlich, dass die europäischen Regierungen dafür eine Verantwortung tragen. Nicht, weil sie diese nicht verhindern konnten2, sondern weil sie tausende von jungen Europäern so weit gebracht haben, dass ihr einziger Lebensinhalt darin besteht, für Allah zu sterben.

Heute ist jeder, der durch die Straßen von Porto, Helsingør oder Zakopane geht ein militärisches Angriffsziel, egal ob der Angriff "nur" zahlreiche Verletzte hinterlässt – geschehen vor kaum zehn Tagen in einem Zug in Bayern, wo Muhammad Riyad, ein 19-jähriger Afghane, mit dem Ruf "Allahu Akbar" sich auf Reisende stürzte und Fünf schwer verletzte. Der Vorfall erinnert deutlich an die Ermordung eines britischen Soldaten im Mai 2013 durch zwei Nigerianer mitten auf der Straße des ruhigen Londoner Vororts Woolwich, die ihn vor den Augen der Passanten köpften und noch darum baten, gefilmt zu werden.

Niemand kann sagen, wann und wo der nächste Angriff stattfindet. Nach Nizza passierte der in dem bayrischen Zug, und danach kam das Wochenende, das Angela Merkel verzweifeln ließ: Am Freitag, den 18. Juli beschloss ein junger Deutscher iranischer Herkunft, Ali Sonboly, seine neue Glock 17 auszuprobieren und schoss auf die Besucher von McDonalds im Olympia-Einkaufszentrum in München, später auf Passanten außerhalb des Restaurants. Es gab neun Tote, der Täter brachte sich in einem Kilometer Entfernung vom Tatort selbst um.

Am darauf folgenden Sonntag ermordete ein syrischer Asylbewerber mit Messerstichen eine Frau in der Stadt Reutlingen und verletzte zwei Männer, die auf den Bus warteten. Manche versuchen die Bedeutung des Vorfalls als ein "häusliches Verbrechen" herunterzuspielen.

Dieses Panorama versetzt uns zurück in das Jahr 2012, wo am 15. und 22. März in der französischen Stadt Toulouse eine Reihe von Angriffen stattfand, die neun Tote hinterließen: "Juden", "Konvertierte" oder "Söldner". Die Verbrechen wurden einem jungen Franzosen algerischer Herkunft angelastet, Mohamed Merah, der laut offiziellen Angaben mit Al-Qaida in Kontakt stand.

Am Montag, den 25. Juli verhaftete die polnische Polizei einen 48-jährigen Iraker unter der Anklage von Sprengstoffbesitz. Er soll ein Attentat gegen das Weltjugendtreffen vorbereitet haben, das in dieser Woche in Krakau im Beisein des Papstes stattfindet.

Wenige Stunden vor dem Abfassen dieser Zeilen wurde bekannt, dass zwei mit Messern bewaffnete Männer in der Kirche von Saint-Etienne-du-Rouvray fünf Geiseln nahmen. Die Stadt liegt in der Normandie, im Norden Frankreichs, und hat knapp 27.000 Einwohner. Die Angreifer schnitten dem Priester Jaques Hamel, 84 Jahre alt, die Kehle durch und verletzten ein Gemeindemitglied schwer. Es gelang der Polizei, die Angreifer am Altar zu erschießen.

Während wir diesen Artikel zu Ende schreiben, kommt die Nachricht aus der schwedischen Stadt Malmö, dass ein bewaffneter Mann im Einkaufszentrum Rosengard auf eine Person schoss. Man konnte noch nicht feststellen, ob es sich um einen Raub oder um einen extremistischen Angriff handelt.

Die Polizeiapparate, die Geheimdienste und die staatlichen Autoritäten des Westens wissen, dass sie diese Situation nicht in den Griff bekommen können und dass auch ein militärischer Sieg über den sogenannten Islamischen Staat die Situation nicht beenden wird.

Daesh, der aus dem Marketing eine große Waffe machte, ist bereit, sich zu jedwedem Gewaltakt auf dieser Welt zu bekennen und sich dafür verantwortlich zu erklären. Jeder der etwas "berühmter" werden will, schreit Allahu Akbar, selbst wenn er keine Ahnung hat, was diese beiden Worte bedeuten.

Der Rekord an politischer Borniertheit

Der französische Präsident Francois 'Flanby' Hollande schlägt alle Rekorde in Bezug auf politische Unfähigkeit. Er übertrifft selbst die Plumpheit – um nicht zu sagen Perversion – seines Vorgängers Nicolás Sarkozy, der die aktuelle Lage im Maghreb und im Nahen Osten mit herbeigeführt hat. Sarkozy war an die Politik von George W. Bush gebunden und außerdem Innenminister von Chirac. Er war nicht in der Lage, die gefährliche Entwicklung unter den jungen Moslems zu begreifen, die 2005 mit den Protesten in den Vororten von Paris ihren Ausdruck fand. Heute kann Hollande unter dem Vorwand, einen Brand zu löschen, noch mehr Öl ins Feuer gießen. Ein Brand, der sich noch viel mehr ausweiten kann, als wir uns vorzustellen vermögen.

In der ihm eigenen Unfähigkeit hat Hollande vor wenigen Stunden entdeckt, dass der "Islamische Staat" Frankreich den Krieg erklärt hat. Damit ist er in die Offensive gegangen um sich für die Tat in Nizza zu rächen, obwohl nun jedermann weiß, dass der Autor des Massakers, Mohamed Lahouaiej Bouhlel, dem Daesh nicht angehörte und seine Entscheidung persönliche Hintergründe hat, die noch nicht aufgeklärt wurden.

Hollande präsentierte sich mit dem alten Stolz Frankreichs, der im Schlamm von Dien Bien Phu vor 61 Jahren in Vietnam für immer liquidiert worden war. Da er mehr auf seine "Image"-Berater als auf Experten im Kampf gegen den Terrorismus hört, bombardierte er unerwartet am 19. Juli das Dorf Tokhar Manbij im Norden Syriens aus Rache für den Angriff in Nizza. Es starben 164 Zivilisten, doppelt so viele wie in Nizza. Die heutigen Angreifer in der Kirche von Saint-Étienne-du-Rouvray sagten, dass sie die Tat aus Rache begangen haben, aus Rache wegen der Rache von Hollande.

Angesichts der Vorwürfe des ständigen Vertreters Russlands im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, Vitali Churkin, hüllte sich der Vertreter Frankreichs, Francois Delattre, in tiefes Schweigen. Man könnte meinen, er habe von dem Vorgang nichts gewusst.

Die Vertreterin der USA, Samantha Power, schien während der Versammlung des Sicherheitsrates ebensowenig informiert zu sein. Sie reagierte mit der Formel: Wir werden jede vertrauenswürdige Information sorgfältig prüfen, besonders auch diejenigen von Organisationen der Zivilgesellschaft.

Darauf antwortete der Repräsentant Russlands: "Gibt es keine US-Drohnen und Spezialeinheiten der USA in Syrien, noch Spezialeinheiten ihrer Alliierten? Gibt es womöglich auch keine Aufklärungssatelliten der USA, auch keine Videoaufzeichnungen, die von allen modernen Bombenflugzeugen bei einem Angriff gemacht werden" um die von Frankreich durchgeführten Bombardierungen mit modernen technischen Methoden objektiv nachzuweisen.

Hier wird die Entscheidung Frankreichs deutlich, Rache gegen die Zivilbevölkerung eines Dorfes zu verüben, das in einem vom Westen entfachten Krieg verloren ist.

Wenn über kurz oder lang ein neues Attentat in Europa geschieht, wird sich vielleicht jemand fragen: warum? Die Antwort wird so einfach sein wie: Der Schlamm unter dem Wüstensand.

Guadi Calvo aus Argentinien ist Schriftsteller und Journalist, internationaler Analytiker, spezialisiert auf Afrika, Naher Osten und Zentralasien

  • 1. Die wenigen Nordamerikaner, die wissen, dass es eine Welt jenseits ihrer Grenzen gibt, jenseits ihrer Grillfeste und ihrer Playstation
  • 2. Es gibt heute keinen Geheimdienst oder Spionagesystem, das den jeweiligen Gemütszustand von 50 Millionen Moslems in Europa vorhersehen kann. Sie sind überwiegend Europäer und viele bereits in der dritten Generation
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