Puerto Rico ‒ Eine treibende Insel

Inmitten der Katastrophe ist die Entschlossenheit des Volkes berührend, sein Land wieder aufzubauen

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Demonstration gegen die US-Politik am Tag des Besuches von Präsident Donald Trump in Puerto Rico
Demonstration gegen die US-Politik am Tag des Besuches von Präsident Donald Trump in Puerto Rico

"Eine treibende Insel": Unter diesem Titel veröffentlichte Juan Bosch im Jahr 1944 einen Artikel in Solidarität mit dem Unabhängigkeitskampf Puerto Ricos. Es war eine der unzähligen journalistischen, politischen und literarischen Arbeiten, die der große dominikanische Schriftsteller während seines langen Exils in Havanna verfasste, wovon er mehrere der Sache der Bruderinsel widmete.

Trotz der vergangenen Zeit von fast einem dreiviertel Jahrhundert könnte man heute einen ähnlichen Text mit gleicher Überschrift verfassen. "Puerto Rico: Durch die Meere der Geschichte treibend, ohne Kurs, ohne Ziel – seit viereinhalb Jahrhunderten".

Heute müsste man hinzufügen, dass die Situation noch schlimmer geworden ist und dass die Insel – gepeitscht von verheerenden Hurrikans, vor allem vom jüngsten und brutalsten namens Donald Trump – sich einem entscheidenden Moment ihrer Geschichte gegenübersieht.

Damals, als Bosch seine schöne Prophezeiung verfasste, regierte in Washington Franklin Delano Roosevelt, der dem nordamerikanischen Volk einen "New Deal" versprach, der den Arbeitern und Armen zugute kommen würde und den Völker des Kontinents bot er eine Politik der guten Nachbarschaft an. Aber seine Versprechen überlebten ihn nicht.

Schon vor langer Zeit sind beide Projekte zu Staub zerfallen; hinweggefegt von brutalem Kapitalismus und Kriegstreiberei, die alle US-Regierungen in der einen oder anderen Weise mit kleineren Nuancen nach dem Zweiten Weltkrieg praktiziert haben.

In den 1940er-Jahren plädierten Luis Muñoz Marín und seine Demokratische Volkspartei (Partido Popular Democrático, PPD) noch für die Unabhängigkeit der Insel. Später verwiesen sie die grundlegende Frage der nationalen Souveränität auf eine zweitrangige Ebene und machten – unterstützt von Washington – Platz für den sogenannten frei assoziierten Staat; eine plumpe Maskerade, die nichts an der rauen kolonialen Realität änderte1.

Dank Steuererleichterungen und anderer Privilegien wurde das Gebiet von nordamerikanischem Kapital überschwemmt, wobei die örtlichen Produzenten verdrängt und eine massive Auswanderung Richtung Norden vorangetrieben wurde. Großinvestitionen in die Infrastruktur gaben der Insel einen Hauch von Modernität und die herrschende Propaganda tat viel, um die schöne Insel als ein Paradigma, ein Modell für den Rest des Kontinents zu verkaufen. Gleichzeitig wurde das kleine Territorium mit Militäreinrichtungen und -stützpunkten überzogen und in eine wahre Festung verwandelt, die ein zentraler Bestandteil der aggressiven und interventionistischen Politik der USA auf dem gesamten Kontinent war.

Diese Propaganda schaffte es gleichzeitig, zwei für das Verständnis der puertoricanischen Realität entscheidende Aspekte zu verdecken: zum Einen die systematische Verfolgung und Unterdrückung der patriotischen Bewegung, vielfach offen und gewalttätig, in anderen Fällen verdeckt und mehr oder weniger subtil, aber immer aggressiv. Und zum Anderen die Ablehnung Washingtons gegenüber jedweden Forderungen des puertoricanischen Volkes, einschließlich der PPD, die koloniale Beziehung zu verändern und sie weniger nachteilig für seine legitimen Interessen zu gestalten.

Genau genommen war der "frei assoziierte Staat" von Anfang an ein Schwindel. Es gab niemals eine "Assoziation" zwischen Puerto Rico und den USA und das so geschaffene Gebilde "frei" zu nennen, war außer einem Affront gegenüber dem Opfer, dem puertoricanischen Volk, eine grobe sprachliche Beleidigung. Alle seitens der Insel unternommenen Anstrengungen, Räume für eine Autonomie zu eröffnen, scheiterten an der imperialen Arroganz.

Im Lauf der Zeit veränderte sich auch die koloniale Metropole. Die USA sind weiterhin die wirtschaftliche und militärische Hauptmacht der Erde, aber ihre Herrschaft ist schon nicht mehr absolut, nicht mehr unangefochten wie sie es zum Ende des Zweiten Weltkrieges war. Die USA mussten verschiedene wichtige Bestimmungen fallen lassen, die ihre Investitionen auf der Insel begünstigt hatten und diese waren auf der Suche nach anderen, lukrativeren Märkten.

Das der Kolonie aufgezwungene ökonomische Modell scheiterte krachend und die lokalen Verwaltungen mussten ihre Unfähigkeit zur Zahlung der öffentlichen Schulden von mehr als 70 Milliarden US-Dollar eingestehen. Und sie mühten sich zwecklos ab auf der Suche nach einer Lösung – unmöglich für ein Land, das vollständig einer ausländischen Macht ausgeliefert ist.

Mangels eigener Souveränität verschlossen sich für Puerto Rico alle Verhandlungsmöglichkeiten, um einem Problem zu begegnen, dem sich die unabhängigen Länder tagtäglich gegenüber sehen. In Washington verständigten sich der Kongress und die Regierung darauf, eine sogenannte Finanzkontrollbehörde 2 einzurichten, die heute die wirkliche Autorität ist, die das Land regiert. Ihre Aufgabe besteht darin, die Puertoricaner zu verpflichten zu bezahlen, was sie angeblich schulden und dafür zwingt sie drakonische Sparmaßnahmen auf, die die Arbeitslosigkeit erhöhten, die grundlegenden Sozialleistungen beseitigten und die Auswanderung verstärkten.

Und als wenn das nicht schon genug wäre, wurde die Insel von zwei Wirbelstürmen großer Intensität – Irma und Maria – heimgesucht, wobei vor allem der letztere die Insel fast vollständig verwüstete. Die Schäden, die durch diese meteorologischen Phänomene verursacht wurden, werden auf über 90 Milliarden Dollar geschätzt. Tausende Familien verloren ihre Wohnungen und Monate danach hat ein großer Teil der Bevölkerung weder Strom noch Trinkwasser, viele Schulen haben ihren Betrieb nicht wieder aufgenommen und niemand weiß, wann und wie die zusammengebrochene Infrastruktur wiederhergestellt werden wird.

Man weiß nicht einmal genau, wie viele Menschen infolge des Wirbelsturms Maria ihr Leben verloren. Untersuchungen von unabhängigen Journalisten schätzen, dass es mehr als Tausend sind. Mehr als 200.000 Menschen haben Zuflucht in den USA gesucht. Es ist eine Auswanderungswelle, die scheinbar nicht aufzuhalten ist..

Und obendrein kam auch noch Trump. Diese ungewöhnliche Person, die gar nichts getan hat, um die puertoricanische Tragödie zu mildern, erinnerte nicht nur daran, dass die angeblichen Schulden zu bezahlen seien, sondern auch daran, dass er eine Steuerreform vorantreiben werde, die – unter anderem – 20 Prozent der von der Insel stammenden Produkte belasten wird und damit die wirtschaftliche Erholung zu einem unerfüllbaren Wunschtraum macht.

Inmitten der Katastrophe ist die Entschlossenheit des Volkes, sein Land wieder aufzubauen – ohne bundesstaatliche Hilfe und angesichts der Korruption und der Unfähigkeit derjenigen, die vorgeben, es zu vertreten – berührend.

Es scheint sich das zu erfüllen, was Juan Bosch vor so langer Zeit vorausgeahnt hat: In der Stunde des Zusammenbruchs werden die Arbeiter, die Besitzlosen, die von Unten die einzigen sein, die – geeint im Schmerz und in der Hoffnung – in der Lage sind, das Land zu retten.

Ricardo Alarcón de Quesada aus Kuba ist Doktor der Philosophie und der Geisteswissenschaften, Schriftsteller und Politiker. Er war Botschafter bei der UNO, Außenminister Kubas und 20 Jahre lang Präsident der Nationalversammlung

  • 1. Anm. d. Red.: Puerto Rico wurde 1898 von den USA besetzt und hat seit Juli 1952 den Status eines "frei assoziierten Staates der USA". Dies bedeutet einen gewissen Grad an Autonomie, wobei die Verteidigung, die Grenzregelungen und die internationale Politik von Washington bestimmt werden
  • 2. Financial Oversight and Management Board for Puerto Rico