Pandemie und Überwachungskapitalismus

Der Mensch ist zu einem Terminal der Datenströme geworden. Und noch nie haben wir uns so frei gefühlt, obwohl wir pausenlos überwacht werden

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Covid-19 und Neoliberalismus: Wir sind mit zwei Pandemien konfrontiert...
Covid-19 und Neoliberalismus: Wir sind mit zwei Pandemien konfrontiert...

Die Covid-19-Pandemie ist weit mehr als ein "schwarzer Schwan" (ein unerwartetes, außergewöhnliches Ereignis). Die Pandemie wird mit Sicherheit vorübergehen, doch die Krise – die soziale, wirtschaftliche und politische – wird bleiben. Und sie bedeutet eine andere Welt, die sich nicht einmal die kühnsten Sozialwissenschaftler und Politologen hätten vorstellen können, mit schätzungsweise mehr als 300 Millionen zusätzlichen Arbeitslosen.

Die Notwendigkeit des "Wir bleiben Zuhause" hat Arbeiterinnen und Arbeiter dazu gezwungen, von ihren Wohnorten aus in Form von "Telearbeit" weiter zu produzieren; Lehrende und Lernende dazu, einen Teil des Lehrplans virtuell fortzusetzen; und es betrifft die Risikogruppen, zu denen vor allem unsere Rentnerinnen und Rentner zählen, der Sektor mit dem derzeit größten Risiko.

In welcher Welt werden die neuen Generationen leben müssen? In der "Schönen neuen Welt" (1932) des Briten Aldous Huxley leben die Menschen glücklich unter dem Einfluss der fiktiven Droge Soma, manipuliert durch einen höheren Plan, in dem die Spitzenforschung nur einer Herrschaftsstruktur dient.

Wir haben kein Soma, aber sehr wohl haben wir Netflix und eine unendliche Anzahl von Apps und kostenlosen Diensten, die speziell dafür geschaffen sind, aus uns glückliche Abhängige zu machen und uns in die realen Ressourcen zu verwandeln, die die Akkumulation von Reichtum im neuen Kapitalismus ermöglichen – dem Überwachungskapitalismus, der die Welt lenkt. Noch nie haben wir uns so frei gefühlt, obwohl wir pausenlos überwacht werden.

Der Mensch ist zu einem Terminal der Datenströme geworden. Heute wissen wir, dass mit diesem Wissen Personen vollständig beeinflusst, kontrolliert und beherrscht werden können, mittels Algorithmen und Künstlicher Intelligenz. Die Pandemie hat die Gier der Anbieter von Überwachungssystemen und Technologien zur Personennachverfolgung angestachelt, wobei angenommen wird, dass die Datenwissenschaft essenzieller Bestandteil für den Sieg über den unsichtbaren Feind sein wird.

Beflügelt durch den Erfolg von China und Südkorea (unter anderen asiatischen Ländern) im Kampf gegen Covid-19, zeigen sich sowohl rechte wie auch linke politische Führungskräfte der liberalen Demokratien hoch erfreut über die Kontrollfähigkeit digitaler Geräte und des statistischen Modells der Algorithmen, die Muster herausarbeiten und Vorhersagen treffen.

Kameras, Software, Sensoren, Mobiltelefone, Apps und Detektoren werden nun als die höchstentwickelten Waffen für den Kampf gegen das Virus präsentiert … und für die Zähmung der Bevölkerungen.

Die Telekommunikations- und Datenindustrie, die zusammen mit der Pharmaindustrie zu den großen Gewinnerinnen dieser Krise gehören wird, floriert dank eines Grundprinzips: Das Sammeln von personenbezogenen Daten und der Verkauf von Vorhersagen über das Verhalten der Nutzer an die Inserenten. Doch bislang wurden nur Prognosen erreicht, die Voraussagen über Umstände, Ereignisse (und natürlich ihre Manipulation) ermöglichten – keine Gewissheiten.

Die Konzerne (und die Regierungen) haben verstanden, dass es für einen erhöhten finanziellen und insbesondere manipulativen Nutzen notwendig ist zu versuchen, die menschlichen Verhaltensweisen im großen Stil zu verändern.

Die Arbeitskraft wird nicht mehr durch Angestellte erbracht, die im Tausch für ihre Arbeit einen Lohn erhalten, sondern durch Nutzer von Apps und kostenlosen Angeboten, die damit einverstanden sind, im Tausch für solche Dienste zahlreichen Unternehmen ohne weitere Zustimmung die Erfassung ihrer Lebensweise zu ermöglichen.

Im neuen Kapitalismus akkumulieren sich die personenbezogenen Daten, um das Gut zu produzieren, das sich auf dem Markt zum Verkauf anbieten lässt: Vorhersagen über uns selbst. Die Eigentümer der Produktionsmittel sind keine anderen als die, die das Monopol des Digitalgeschäfts ausüben: Google, Facebook, Apple und Amazon, erläutert Patricia Serrano in der spanischen Wirtschaftszeitung El Economista.

Die ergriffenen Ausnahmemaßnahmen, die sogenannte Flexibilisierung der Rechte, die Gehaltskürzungen, die Missachtung der grundlegenden Bürgerrechte, die Verletzungen der Privatsphäre, mit dem erklärten Ziel, dem Virus und der Krise entgegenzutreten, bleiben möglicherweise keine Ausnahme, sondern werden zum Dauerzustand. Und könnten sich sogar ausweiten. Das Virus wird den Kapitalismus nicht zerstören. Alles deutet darauf hin, dass die (polizeiliche, kybernetische) Überwachung weiter ausgebaut wird.

"Der Industriekapitalismus war, mit all seinen Grausamkeiten, ein Kapitalismus für Personen. Im Überwachungskapitalismus hingegen sind wir vor allem anderen Informationsquellen. Es ist kein Kapitalismus für uns, sondern über uns", urteilt Shoshana Zuboff, emeritierte Professorin der Harvard Business School, in einem Interview mit BBC.

Dein Smart TV beobachtet dich. Aber auch dein Telefon, dein Auto, dein Haushaltsroboter, dein Sprachassistent von Google und sogar dieses kleine Armband, das die Anzahl deiner Schritte überwacht. Ein Tipp: Alle Produkte, die das Wort "smart" oder die Aufschrift "personalisiert" tragen, dienen als treue Soldaten dem Überwachungskapitalismus. So fasst es Zuboff zusammen.

Der südkoreanische Philosoph Byung-Chul Han, Professor an der Universität der Künste Berlin und Autor zahlreicher Büchern, vertieft diese Idee: "Der Mensch ist ein Terminal der Datenströme, das Resultat einer algorithmischen Operation. Mit diesem Wissen lassen sich Personen vollständig beeinflussen, kontrollieren und beherrschen."

"Im Gefängnis gibt es einen Überwachungsturm. Die Gefangenen selbst können nichts sehen, aber sie alle werden beobachtet. Gegenwärtig wird eine Art der Überwachung errichtet, bei der die Individuen beobachtet werden, aber nicht das Gefühl der Überwachung, sondern der Freiheit haben", erklärt er in seinem Werk Die Austreibung des Anderen, das den Einfluss der Hyperkommunikation und der Hyperkonnektivität auf die Gesellschaft analysiert.

Für Han ist das Gefühl der Freiheit, das in den Individuen aufkeimt, trügerisch: "Die Menschen fühlen sich frei und entblößen sich aus eigenem Willen. Die Freiheit ist nicht begrenzt, sondern wird ausgebeutet". Er fügt hinzu, dass "der große Unterschied zwischen dem Internet und der Disziplinargesellschaft darin besteht, dass in Letzterer die Repression spürbar ist. Im Gegensatz dazu werden wir heutzutage gesteuert und kontrolliert, ohne das wir uns dessen bewusst sind".

Paloma Llaneza, Anwältin, Expertin für Cybersicherheit und Autorin von "Datanomics", weist darauf hin, dass das Einverständnis in Wirklichkeit nicht existiert, wenn wir schnell unsere persönlichen Daten eintragen, um noch schneller eine kostenlose App herunterzuladen oder einen wöchentlichen Newsletter zu abonnieren. "Das Einverständnis ist eine der großen Lügen des Internets", betont sie.

Das Problem beginnt, wenn unsere Daten für andere Zwecke benutzt und an Drittunternehmen übertragen werden, die mehr über uns erfahren und ein Profil über uns erstellen wollen. "Ohne es zu wissen, kann der Nutzer sein Einverständnis dazu geben, in sozialen Netzwerken gescannt zu werden, wodurch das Personenprofil erstellt wird. Allein aus den Fotos bei Instagram lassen sich bereits Verhaltensweisen ableiten", erklärt sie.

Während einige politische Führungskräfte an die "Einheit" im Krieg gegen den unsichtbaren Feind appellierten und andererseits Leugner ihre Nationen in den Völkermord führten, tauchten einige Bruchlinien auf. Über soziale Netzwerke und Lärmproteste (Cacerolazos) wurden die Regierungen dazu gedrängt, drastische Maßnahmen zu ergreifen, um die Bevölkerungen und die öffentliche Gesundheit zu schützen.

Das Coronavirus trifft die gesamte hoch technisierte Fertigungsindustrie (darunter die Automobil-, Luftfahrt- und Telekommunikationsindustrie), vor allem weil in der Produktion Menschen räumlich eng zusammenarbeiten müssen, sie nicht als systemrelevant eingeschätzt werden und sich letztendlich an den Nachfrageprognosen ausgerichtet wird, die aktuell nicht gerade rosig sind.

Bei dieser Analyse bleiben nur wenige Sektoren verschont. In erster Linie sind dies Dienstleister, unter denen wir zum Beispiel den Fall der OTT (Over-the-top content) haben, also Telekommunikationsunternehmen, die Streaming-Dienste anbieten. Das heißt, sie erreichen Nutzer per Internet mit Video (Netflix), Audio (Spotify) oder Nachrichtendiensten (WhatsApp von Facebook) und/oder mit Apps für Videokonferenzen (wie Skype oder Zoom).

Mit der "sozialen Isolation"/"sozialen Diastanzierung" avancieren die Plattformen, die personenbezogene Daten sammeln und auf dem Markt verkaufen, nicht nur zu großen Vermittlern und Anbietern von Unterhaltung, sondern auch von Bildung. Das kann nicht als etwas Natürliches, geschweige denn als eine ausgezeichnete Lösung akzeptiert werden, betont Sérgio Amadeu da Silveira, Professor an der brasilianischen Universidad Federal do ABC.

Covid-19 wird mit Sicherheit vorübergehen. Der Neoliberalismus ist eine Pandemie, die während der vergangenen vier Jahrzehnte selbst die Kräfte der Linken infiziert hat, die sie hätten bekämpfen sollen. Wir sind mit zwei Pandemien konfrontiert...