Die junge Frau, nicht älter als 20 Jahre, ergreift das Mikrofon und hält eine Ansprache.
"Wir kommen aus den am meisten ausgegrenzten und unsichtbar gemachten Teilen dieser Stadt. Wir sind die Niemande, die Primera Línea. Wir wollen ein echtes Engagement für die Jugend, wo wir alle einbezogen sind!"1
Die Menge ist begeistert. Ein Slogan wird immer stärker und man hört nichts anderes mehr: "Widerstand! Widerstand! Widerstand! Widerstand!"
Es werden Fäuste gereckt und laut gerufen. Was wie eine militante Veranstaltung an einer öffentlichen Universität oder eine Kundgebung inmitten von Barrikaden erscheint, ist jedoch eine Wahlkampfaktivität.
Neben der jungen Frau, die gerade spricht, steht Francia Márquez, die Vizepräsidentschaftskandidatin des Landes. Es ist der Abschluss der Kampagne dieser Schwarzen Anführerin, die von der gesamten sozialen Bewegung unterstützt wird, im Osten von Cali, der drittgrößten Stadt Kolumbiens. Den Umfragen nach steht sie zusammen mit Gustavo Petro kurz davor, die Präsidentschaft zu gewinnen. Die kämpferische Kraft, die Márquez zum Ausdruck bringt, ist in Verbindung mit der marginalisierten Jugend, die die Proteste und den sozialen Unmut angeführt hat, kurz davor, die Zügel des Landes zu übernehmen.
Andere junge Leute der Primera Línea sorgen für die Sicherheit der Veranstaltung. Die Indigene Wache mit ihrem Führungsstab (bastón de mando) überwacht die Organisation. Die Schwarzen sind die Protagonisten auf und neben der Bühne.
In der Geschichte Kolumbiens hat es noch nie eine Regierung gegeben, die den Forderungen der bäuerlichen Gemeinschaften, der vertriebenen und ihres Landes und aller Möglichkeiten beraubten Familien entsprochen hat. Noch nie war diese Möglichkeit des Wandels so zum Greifen nah wie jetzt. Die Kandidatin wiederholt und verstärkt: "Es ist die Zeit der Niemande"2. Sie applaudieren ihr, die Verachteten, die Habenichtse, manchmal mit Tränen in den Augen.
Vor einem Jahr explodierte Kolumbien. Die Corona-Pandemie, die im April 2021 noch etwas beängstigend war, konnte die Wut nicht stoppen. Auch nicht die Repression, die viel tödlicher war als das Virus. Dieser jüngste landesweite Aufstand war ein erweitertes und verstärktes Echo vorheriger Proteste, die seit dem Amtsantritt der rechten Regierung von Iván Duque 2018 jedes Jahr zu einem Bürgerstreik führten.
Cali wurde zum Epizentrum des Aufstands. Mit ihren rund zweieinhalb Millionen Einwohnern kombiniert die Stadt den gewissen Wohlstand jeder Großstadt mit der Armut und Enteignung der Armenviertel in den Randbezirken. Sie wurden jahrzehntelang von Familien bewohnt, die durch den bewaffneten Konflikt, der ihre Gemeinden zerstört hatte, vertrieben wurden. Auf diese Ungleichheit reagierte der Staat mit verstärkter Ausgrenzung, sozialer Kontrolle und Repression. Ein Muster in kleinem Maßstab dafür, was im Laufe der Geschichte Kolumbiens in allen Regionen des Landes geschah.
Die Regierung Duque hat die neoliberale Politik vertieft und die dürftigen Fortschritte in Richtung Frieden aus den Vereinbarungen von 2016 gestoppt. "Dieses Land war immer schlecht, aber jetzt ist es beschissen geworden, das ist nicht mehr zu ertragen", sagt der Mann, der fast nackt auf der Veranstaltung herumläuft, kaum bedeckt von Sandwich-Tafeln mit der Aufschrift "So haben sie uns zurückgelassen: nackt und ausgeblutet".
Während des Aufstands in Cali wurden die Blockaden strategisch ausgeweitet. Mindestens 26 "Widerstandspunkte" (puntos de resistencia) wurden eingerichtet und blieben monatelang, im Einklang mit den Mobilisierungen in den verschiedenen Teilen des Landes. Die Protagonisten waren junge Menschen aus den popularen Vierteln, die Primeras Líenas, die sich gegen die staatliche Repression und die Erschießungen durch bewaffnete Parapolizeigruppen zur Wehr setzten.
Heute ist diese Jugend organisiert, sie organisiert sich, engagiert sich im Wahlkampf.
"Diese jungen Menschen haben keine politische Bildung, sie kommen nicht aus der sozialen Bewegung, und man muss auch verstehen, dass sie in einigen Fällen nicht einmal in der Schule waren", sagt Alexis, einer der Sicherheitsverantwortlichen bei der Veranstaltung von Francia Márquez in der Stadt.
Alexis ist Anfang 30 und kaum älter als die übrigen jungen Leute, die das Sicherheitssystem bilden. Vor den Protesten hatte er sich bereits für einen Gemeinschaftsgarten in seinem Viertel eingesetzt. "Wir produzierten zwar keine großen Mengen an Lebensmitteln, aber er dient uns als Treffpunkt... Heute könnten wir sagen, dass wir in diesem Garten Bewusstsein gesät haben", sagt er.
Als der Aufstand losbrach, waren sie vorbereitet: Ihre Gruppe ging nach Puerto Rellena, einem Sektor, den sie in Puerto Resistencia umbenannten und der zu einem Wahrzeichen wurde. Dort organisierten sie sich, um die "Küchen für alle" (ollas comunitarias) zu versorgen, junge Menschen zusammenzubringen, die Diskussionen zu politisieren und auch der popularen Kunst Raum zu geben.
Die Skulptur, die eine erhobene Faust und ein Schild mit den Farben der kolumbianischen Flagge mit der Aufschrift "Widerstehen" hält, wurde in den ersten Wochen des Lagers gemacht. Heute ruhen dort die selbstgemachten Schilde, mit denen man sich gegen die Repression wehrte, und es gibt Fotos, die an die etwa zwanzig jungen Menschen erinnern, die während des Aufstands getötet wurden.
Auf diesem Nährboden der Rebellion sind verschiedene Kollektive entstanden. Das am häufigsten genannte ist die "Unión de Resistencias Cali". Obwohl sie keine einheitlichen Sprecher anerkennen, werden verschiedene Vertreter zu Veranstaltungen an der Universität eingeladen oder treffen sich mit den Vertretern des Bürgermeisteramtes. Sie haben ihr Logo, ihre bedruckten T-Shirts und Caps mit Erkennungszeichen. Andere Gruppen entschieden sich für einen langsameren Prozess, wie die von Alexis. Obwohl das Kollektiv sich schon seit einiger Zeit organisiert, will es weder auf der Straße noch in den sozialen Netzwerken als solches sichtbar sein.
"Die Niemande. So bezeichnen wir uns. Wir sind dabei, uns zu organisieren, aber nach und nach. Das sind wir: Niemande, anonym, beinah unsichtbar", berichtet Laura. Wie Alexis hat auch sie bereits militante Erfahrungen gemacht, aber beide verstehen jetzt, dass sich die Dynamik der sozialen Bewegung verändert hat: "An den Widerstandspunkten wollten sie weder Parteien noch Organisationen, nicht einmal aus der Linken. Heute ist diese Jugend hier und unterstützt den Pacto Histórico. Aber man muss verstehen, dass es andere Formen der Partizipation sind", fügt sie hinzu.
Der Schritt an die Urnen
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Über die Umfragen hinaus gibt es ein genaues Thermometer, das die gesellschaftliche Temperatur anzeigt. Am 13. März fanden Parlamentswahlen und die Vorwahlen für die Präsidentschaft und die Vizepräsidentschaft statt. Hier hat der Pacto Histórico, das Bündnis, das die Linke, die progressiven Kräfte und die sozialen Bewegungen zusammenführt, ausgezeichnet abgeschnitten.
Es gibt Daten, die uns bei näherer Betrachtung verstehen lassen, wie es zu dieser Möglichkeit des Wandels gekommen ist und was kommen wird. Die Stimmzettel vom März in jeder Gemeinde zeigen, dass die Unterstützung für das Duo Petro-Márquez und auch für die Parlamentskandidaten, die sie unterstützen, in den Gemeinden viel größer war, wo der soziale Protest am stärksten war. Dort überwogen die Stimmen für den Pacto Histórico bei weitem gegenüber den Bündnissen der Mitte und der Rechten. Auch vervielfachten sich die Zahlen, die die Petro-Liste dort vier Jahre zuvor erhalten hatte.
In der Gemeinde 16 von Cali, in der sich Puerto Resistencia befindet, erhielt der Pacto Histórico mehr als 6.300 Stimmen für das Abgeordnetenhaus und den Senat, während die zweite Kraft nicht über 2.500 Stimmen kam. 2018 landeten die progressiven Listen weit abgeschlagen auf dem dritten Platz. In Cali wurden dieses Mal fünf Vertreter des Pacto Histórico in das Repräsentantenhaus gewählt, während sie vor vier Jahren nicht einmal einen einzigen Sitz erringen konnten.
Wenn in ganz Kolumbien so gewählt würde wie an den Orten, wo die Proteste am stärksten waren, wäre das Ergebnis zugunsten des sozialen Wandels überwältigend. Eine gute Lektion für diejenigen, die dem sozialen Protest hinsichtlich der Akkumulation von Wählerstimmen misstrauen. Für diese kraftvolle Dynamik kommen zwei Faktoren zusammen: die Stimmung in der Gesellschaft und die populare Militanz.
Der Aktivismus marginalisierter und ‒ zumindest bis zu ihrer Teilnahme an den Protesten – entpolitisierter Jugendlicher verläuft nicht linear. Die Figur des "Politikers" stößt weiterhin auf Ablehnung. Es tauchen jedoch Neue auf, die besser auf diese neuen Dynamiken der sozialen Teilhabe eingestellt sind.
In Siloé, einem weiteren starken Punkt des Widerstands, war es ganz natürlich, sich mit "El cucho" von Kanal 2, José Alberto Tejada, zu identifizieren, einem Reporter, der der Primera Línea in den heißesten Momenten der Zusammenstöße eine Stimme gab, auch wenn er sich dabei mehr als einmal in Gefahr begeben musste. Die rebellische Jugend umgab ihn mit ihrer Unterstützung und die Gesellschaft von Cali, die mit den Protesten einverstanden war, begleitete ihn. Heute ist El Cucho gewählter Abgeordneter im Repräsentantenhaus für den Pacto Histórico und ein Aktivist in der Wahlkampagne von Petro und Francia. Er bewahrt dabei eine würdevolle und kämpferische Haltung, als wäre er selbst einer der jungen Leute der Primera Línea.
Etwas Ähnliches geschieht mit Francia Márquez.
"Sie repräsentiert die Frauen und die soziale Bewegung gut", erklärt Maité, die während des Aufstands Sprecherin des Widerstandspunktes Loma de la Cruz war, der in Loma de la Dignidad umbenannt wurde. "Unser feministischer Raum prangerte die geschlechtsspezifische Gewalt durch die Polizei an, aber auch, wenn es in den Primera Línea Übergriffe gab. Der Feminismus hat klare Positionen, und dazu gehört auch, dass wir unangemessenes Verhalten an allen Fronten anprangern", führt sie aus.
In den Frauenbewegungen gibt es Vorbehalte gegen Petro: In seiner politischen Laufbahn hat er machistische Haltungen und Komplizenschaften mit Personen gezeigt, die der geschlechtsspezifischen Gewalt beschuldigt wurden. Im Rahmen des Pacto Histórico hat der populare Feminismus jedoch seinen Raum gewonnen. Francia Márquez ist eine gute Repräsentatin der Forderungen der Frauen, die da sind, weil sie ihr vertrauen.
Die Indigenen, die in Kolumbien mit einer Kraft organisiert sind, wie es an wenigen anderen Orten geschieht, haben während des Aufstands ihre Rolle gespielt und beteiligen sich nun am Wahlkampf. Gleich zu Beginn der Proteste 2021 entsandte das Comité Regional Indígena del Cauca (CRIC) eine große Delegation, um die Widerstandspunkte in Cali und anderen Städten zu verstärken. Die Jugend litt unter der Repression, es gab die Morde und die indigenen Autoritäten wussten, dass sie mit ihnen zusammenarbeiten konnten. Ermes, ein leitender CRIC-Berater, trieb die Koordinierung und Bildung der Primeras Líneas voran. Diese jungen Leute sind ihm immer noch dankbar. Bei der Wahlkampfveranstaltung von Francia Márquez werden alle Sicherheitsvorkehrungen von der Person koordiniert, die den indigenen Führungsstab trägt.
Auch die Bauernschaft ist aktiv. Drei Chivas (alte, bunt bemalte Busse ohne Türen und Fenster, geeignet für die Hitze in den Tälern) kamen in die Stadt, um die Vizepräsidentschaftskandidatin zu begleiten. Die Bäuerinnen und Bauern tragen Plakate der Alianza Campesina de Corregimientos de Cali.
"Wir sind mit ganzer Kraft an der Kampagne beteiligt, genau wie wir es beim Streik waren", sagt Santiago, ein Aktivist der Bauernvereinigung in einem Dorf im Westen der Stadt. Die Entfernung ist nicht so groß, so dass er und seine Compañeros und Compañeras kommen und die Proteste während des Streiks verstärken konnten. Sie schlossen sich dem Widerstandspunkt Portada al Mar an, wo sie auch mit Gewalt und Schüssen konfrontiert waren. "Ich habe Angst, klar ... Die Rechte in diesem Land wird das nicht einfach so akzeptieren, wenn sie verliert", räumt er ein. "In Kolumbien werden wir uns dieser Gewalt widersetzen müssen, deshalb werden alle Formen des Kampfes weitergeführt: Wahlen, aber auch die Mobilisierungen und die Streiks", betont er.
"Welches Gefühl haben die Jugendlichen, die keine politische Erfahrung hatten und jetzt hier auf einer Wahlveranstaltung sind?", frage ich Alexis, den jungen Mann, der die Jugendgruppe in Puerto Resistencia leitet.
"Dass noch viel zu tun ist. Aber vor allem bleibt eine Identität. Einige der Jugendlichen, die in der Primera Línea waren, können vielleicht nicht lesen und schreiben, aber sie haben eine klare Vorstellung dass das, was getan wurde, wertvoll war. Es gibt ein Gefühl von Stolz, ganz klar."
Im Hintergrund ist die Rede von Francia Márquez zu hören, die erneut Applaus erntet, als sie den Slogan wiederholt, der ihre Kampagne kennzeichnet: "Unsere Zeit ist gekommen, die Zeit der Niemande! Vorwärts Volk, vom Widerstand an die Macht!"
Und sie schließt, mit müder, etwas brüchiger, aber fester Stimme, mit erhobener Faust, mit dem Satz, mit dem sie alle ihre Wahlveranstaltungen abschließt: "Bis die Würde zur Gewohnheit wird, verdammt!"
Es ist bereits Nacht, aber es werden keine Strahler gebraucht. Ein imposanter Vollmond leuchtet. Auf sie und auf das Volk, das es verstanden hat, inmitten der schwärzesten Nacht Hoffnung zu schöpfen.
17. Mai 2022
- 1. Die "Primera Línea" (Erste Reihe) gehört zur neuen Protestbewegung in Kolumbien: Junge Leute an der Spitze der Demonstrationen setzen sich zur Wehr und schützen mit Helmen und selbstgebastelten Schutzschilden ausgerüstet Mitprotestierende vor der Polizeigewalt
- 2. "Die Niemande" als Begriff für die Ärmsten der Armen, die Ausgeschlossen, die "Nichtmenschen" heißt auch ein bekanntes Gedicht von Eduardo Galeano: Los nadies