Chile erhebt sich

Unterirdisch, unsichtbar, hat sich das Unbehagen der sozialen Mehrheiten über viele Jahre akkumuliert

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Die Forderung nach einer stärkeren politischen Inklusion der Indigenen spielt bei den Protesten in Chile eine große Rolle
Die Forderung nach einer stärkeren politischen Inklusion der Indigenen spielt bei den Protesten in Chile eine große Rolle

"Ich protestiere gegen so viel Ungerechtigkeit, so viel Machtmissbrauch und weil unsere Stimme nie gehört wird", sagt eine unbekannte Person. Es ist bereits Samstag, der 19. Oktober, und die Proteste, die mit der Erhöhung der Preise des Metro-Tickets begannen, sind zum Ausdruck der nicht existierenden sozialen Rechte in einem Land geworden, das die Karikatur des doktrinärsten orthodoxen Liberalismus-Handbuchs darstellt. Soziale Beziehungen sind zu Waren geworden, Gemeinschaftsgüter privatisiert, die kulturell konservative Oligarchie ist im wirtschaftlichen Bereich tollwütig.

Es ist eine Ordnung, die seit der Militärdiktatur als Polizei- und volksfeindlicher Staat aufgebaut worden ist; ein Fest der kapitalistischen Konzentration und Herrschaft der großen Wirtschaftskonzerne, die den Wettbewerb brutal zerstören, Preise aufdrücken und die kleinen und mittelständischen Betriebe in der Wertschöpfungskette unterordnen, entsprechend der Projektion ihrer Profitraten. Chile, großer Exporteur, Finanzplatz eines großen Teils Südamerikas, geschlagen vom Extraktivismus und seinen schädlichen Folgen für die Gemeinden und die Natur. Ungleiches Chile, das nicht nur die Technologien importiert, die seine nicht existierenden Industrien nicht produzieren, sondern auch Lebensmittel und Textilwaren. Von der Wirtschaft Chinas, der USA, Europas und letztlich vom Handel mit den Ländern der Region abhängiges Chile. Graues, selbstmörderisches, ausgebeutetes und geplündertes Chile: alte Menschen, die nicht in Rente gehen wollen, weil das Elend sie erwartet, und junge Menschen ohne Zukunft mit oder ohne Hochschulabschluss.

"Ich werde protestieren, bis das Leben besser ist", sagt eine junge Frau, die vor dem Gesicht eines Soldaten auf einen Topf schlägt. Ja, ein Soldat. Weil der ultrarechte Präsident Sebastián Piñera, eine der Figuren Washingtons auf dem Kontinent, und sein Regierungsteam am 19. Oktober den Ausnahmezustand in Form eines verfassungsmäßigen Notstands verhängt haben, um den mächtigen Demonstrationen der Bevölkerung am 17. Oktober und vor allem am 18. Oktober ein Ende zu setzen.

Was bedeutet das?

Neben der weiteren Aufstockung der Zahl der eingesetzten Spezialeinheiten der Militärpolizei liegt die nationale Sicherheit 15 Tage lang in den Händen von General Iturriaga del Campo und Truppen ziehen auf die Straßen Santiagos. Proteste, öffentliche Versammlungen und jede Mobilisierung sind verboten. Es ist quasi ein Belagerungszustand mit möglicher Ausgangssperre, die auf der Doktrin und dem Gesetz zur nationalen Sicherheit des Staates basiert. Das heißt, der politisch-militärische Feind des Staates und seiner Verwalter ist das chilenische Volk selbst. Obwohl es in diesem Fall nur friedlich demonstriert. Es ist unbewaffnet. Seine politische Linke ist dezimiert. Die institutionelle und die andere. Und klar haben die Menschen vor langer Zeit die Gewissheit gewonnen, kein Vertrauen in irgendeine Institution zu haben, von der Nomenklatur der katholischen Kirche bis zum System der traditionellen politischen Parteien.

Sicher ist, dass die Einnahme der Straßen durch die Armee, die Empörung der Bevölkerung von Santiago vervielfacht hat, statt sie einzudämmen. Trotz der Tatsache, dass mehr als ein Soldat auf die Menschen zielt, nähern sich die Demonstranten ihnen, fotografieren sie und legen ihnen nahe, wieder in ihre Kasernen zu gehen. Aber statt abzuziehen, provozieren die Streitkräfte die Bürger, indem sie mitten auf der Plaza Italia [zentraler Platz] in der chilenischen Hauptstadt Kriegsübungen durchführen.

Die unmittelbare Losung lautet "Schluss mit dem Ausnahmezustand". Die Angst besiegt den Protest nicht mehr. In einer landesweit übertragenen Rede im Fernsehen informiert Piñera, dass er einen Vorschlag vorlegen wird, um den Preisanstieg bei der U-Bahn "abzufedern". Aber außer Repression bietet der Präsident, der mit seiner Regierungsmannschaft zusammengekommen ist, keine Lösungen.

Noch vor ein paar Tagen hätte sich niemand vorstellen können, dass Chile Protagonist eines friedlichen Volksaufstandes nicht nur gegen die schlechte Regierung, sondern gegen das gesamte chilenische System und seine sozialen Beziehungen sein würde. Unterirdisch, unsichtbar, hat sich das Unbehagen der sozialen Mehrheiten, das sich zum Teil in zersplitterten Kämpfen ausdrückte, über viele Jahre akkumuliert.

Hinter den Protesten stehen weder politischen Parteien noch soziale Organisationen. Tatsächlich ist die institutionelle Opposition zu spät gekommen und niemand hat sie gerufen ‒ abgesehen davon, dass sie eine lahme und distanzierte Meinung zu einer außerordentlichen Regierungsmaßnahme geäußert hat, als lebe sie in einer anderen Welt.

Regierungsvertreter sprechen von nationaler Einheit und Dialog. Aber die soziale Ungleichheit, die allgemeine Prekarisierung des Lebens und die angesammelten Ungerechtigkeiten sind die Zutaten, die den Klassenkampf mehrdimensional erklären, über rein wirtschaftliche Forderungen hinaus, die die Bewegung zum Teil antreiben. Und es wird weder Kommissionen noch runde Tische geben, die unversöhnliche Widersprüche auflösen.

Wie leuchtende Orangen und nach Jahrzehnten erwacht das chilenische Volk. Und man darf nie vergessen, dass dieses Volk vor fast einem halben Jahrhundert mit seiner Stimme den ersten marxistischen Präsidenten der Geschichte gewählt hat. Ist das Bewusstsein der Mehrheit des chilenischen Volkes nicht ein Zustand der Latenz, das sich wie ein Blitz mitten in der Nacht entlädt?