Ende der rechten Einheitsfront ‒ Wie die aktuellen Aufstände Lateinamerika verändern

Der Neoliberalismus ist in Lateinamerika nicht oder nur mit enormer Gewalt durchzusetzen. Das ist ein Schuss vor den Bug der Eliten

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Bei einer Demonstration in Santiago am 16. November: "Chile wird das Grab des Neoliberalismus sein"
Bei einer Demonstration in Santiago am 16. November: "Chile wird das Grab des Neoliberalismus sein"

Proteste, Aufstände und Regierungswechsel in Lateinamerika und der Karibik: In Ecuador hat eine Revolte gegen die IWF-Politik die Regierung vorerst zum Einlenken gezwungen. In Haiti tobt ein Aufstand gegen die US-gestützte Regierung. In Chile protestieren und streiken Millionen für ein Ende der neoliberalen Politik, den Rücktritt des rechten Präsidenten und Milliardärs Sebastián Piñera und eine neue Verfassung. Honduras und Panama erleben ebenfalls Massenproteste. In Kolumbien finden Proteste statt, ein Teil der ehemaligen FARC-Guerilla hat sich wieder bewaffnet und bei den Lokal- und Regionalwahlen Ende Oktober verlor die extrem rechte Partei des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe auf breiter Front. In Argentinien gewann das peronistische Duo aus Alberto Fernández und der Ex-Präsidentin Cristina Kirchner die Wahlen gegen den amtierenden Mauricio Macri. In Bolivien siegte der seit 2006 regierende Evo Morales in der ersten Runde. Die Opposition wirft der Regierung Wahlbetrug vor und mobilisiert für ihren Sturz. In Venezuela blieb der Aufstand aus, trotz Krise und ökonomischer Blockade, trotz der Beschlagnahmung von venezolanischen Auslandsgeldern und der Anerkennung eines selbsternannten Präsidenten durch USA und EU.

Die Linke in Deutschland reagiert unterschiedlich. Manche sehen den Sozialismus auf dem Vormarsch. Die meisten wiegeln ab: Die neue Regierung Argentiniens ist nicht links; Morales in Bolivien verfolgt nur ein Modernisierungsprojekt; Venezuela unter Maduro ist autoritär, korrupt und abgewirtschaftet. Nirgendwo bestehe ein linkes, sozialistisches Projekt, die meisten Proteste seien strategielos.

Von einem Land an der Peripherie oder Semiperipherie des neokolonialen kapitalistischen Weltsystems ein sozialistisches Projekt zu erwarten, geht an den Machtverhältnissen vorbei. Dennoch sollten die Ereignisse nicht unterschätzt werden. Die geopolitischen Verhältnisse verändern sich. Das Wegbrechen der extrem rechten Einheitsfront in Lateinamerika erschwert die aggressive US-Politik deutlich. Es entspannt die Situation für Venezuela und Kuba. Sicher ist die katastrophale Situation in Venezuela nicht nur den USA anzulasten und die Maduro-Regierung nicht sozialistisch. Doch eine Militärintervention und die rechte Opposition eröffnen sicher keine bessere Perspektive. Zugleich gibt es an der Basis starke linke Bewegungen.

Evo Morales’ Partei MAS (Movimento al Socialismo) in Bolivien verfolgt nur ein Modernisierungsprojekt? Das tut die Opposition auch, aber nach dem Muster von Bolsonaro und Piñera. Wer will es den Armen verübeln, die nun ein höheres Grundeinkommen haben, ihre Kinder zur Schule schicken können und Zugang zu medizinischer Versorgung erhalten, dass sie für Morales stimmen? Die urbane Mittelschichtslinke, die auch zum Protest aufruft, stärkt letztlich die Regime Change-Pläne der extremen Rechten, sie verschafft ihnen Legitimation. Die neue Regierung in Argentinien wird sicher unternehmerfreundlicher als beide Kirchner-Regierungen, und die waren schon nicht sozialistisch. Aber es macht einen Unterschied, ob über 400 rückeroberte Betriebe unter Arbeiterkontrolle von Räumung bedroht sind, Proteste niedergeprügelt werden und die extreme Umverteilung nach oben weiter geht.

Der Neoliberalismus ist in Lateinamerika nicht oder nur mit enormer Gewalt durchzusetzen. Das ist ein Schuss vor den Bug der Eliten. Und es strahlt auf andere Länder aus. Alternative Projekte von unten gewinnen mehr Raum, die geopolitischen Verhältnisse werden durchgeschüttelt. Das ist alles nicht die sozialistische Revolution, die muss weiterhin von unten entwickelt werden. Aber die politischen Entwicklungen in Europa, die von hiesigen Kritikern der lateinamerikanischen Linken gefeiert werden (eine sozialdemokratische Regierung in Portugal, ein politischer Rückschlag für einen rechtsextremen Innenminister in Italien ...), bleiben weit dahinter zurück.

Der Beitrag erschien zuerst in der Printausgabe von "Analyse&Kritik ‒ Zeitung für linke Debatte und Praxis" Nr. 654 vom 12. November 2019