Die Änderung der Verfassung von Nicaragua ist inzwischen im staatlichen Amtsblatt La Gazetta als vorläufige Fassung veröffentlicht. Das Projekt war sechs Tage zuvor von der Regierung in der Nationalversammlung eingebracht und dort in einer Sonderkommission beraten worden. Schon zwei Tage später votierte das Parlament nach einer kurzen Beratung einstimmig dafür.
Da Verfassungsänderungen in Nicaragua in zwei aufeinanderfolgenden Legislaturperioden von der Nationalversammlung beschlossen werden müssen, soll die zweite Abstimmung nach dem Jahreswechsel 2025 stattfinden.
Wesentliche Änderungen an der bisherigen Fassung sind die Schaffung von zwei Co-Präsidenten an der Spitze des Staates. Damit sollen der bisherige Präsident Daniel Ortega und seine Frau Rosario Murillo zu Co-Präsidenten werden und beide sollen die Möglichkeit erhalten, Vizepräsidenten zu ernennen.
Außerdem ist die Reduzierung der Zahl der Richter am Obersten Gerichtshof und im Obersten Wahlrat geplant, bei gleichzeitiger Festschreibung einer Mehrheit von Frauen. Eine weitere Änderung bekräftigt die Anerkennung der indigenen und Afro-Völker Nicaraguas, ihre eigenen Identitäten und Kulturen "innerhalb eines einheitlichen und unteilbaren Staates".
Das Recht auf kostenlose und qualitativ hochwertige Bildung auf allen Ebenen, einschließlich der Hochschul- und Lehrkräfteausbildung, wird nun ebenso in der Verfassung verankert, wie das Recht auf kostenlose und hochwertige Gesundheitsversorgung.
Auch das Recht auf Nahrung und Ernährungssicherheit wird zukünftig garantiert, genauso wie das Recht auf eine angemessene und sichere Unterkunft, die die Privatsphäre der Familie gewährleistet. Neu hinzugekommen sind auch die Rechte auf Sport, Erholung und Freizeit "im Rahmen der Wahrung von Frieden und Sicherheit im Land".
Der Präsident der Nationalversammlung, Gustavo Porras, erklärte bei den Beratungen, dass es zur Stärkung der Institutionen notwendig sei, "den revolutionären Staat zu modernisieren, um auf die Bedürfnisse der gesamten Bevölkerung einzugehen und seine Leistung als Instrument zur Bekämpfung der Armut und zur Gewährleistung von Sicherheit und Frieden mit Wohlergehen sicherzustellen".
Eine weitere Änderung nennt Artikel 66, laut dem Nicaraguaner:innen das Recht auf wahrheitsgemäße Information haben. Dieses Recht umfasst die Freiheit, Ideen und Informationen mit allen Mitteln zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten, ohne die in dieser Verfassung festgelegten Grundprinzipien zu verletzen. Gestrichen wurde der bisher in der Verfassung genannte Schutz der Pressefreiheit.
Als umstrittene Punkte werden genannt, dass im Falle des Todes eines der Co-Präsidenten der oder die Überlebende die Präsidentschaft übernimmt. Die Amtszeit der gewählten Co-Präsidenten wird von fünf auf sechs Jahre verlängert. Artikel 132 legt fest, dass die Präsidentschaft der Republik als Staatsoberhaupt die Legislative, Justiz, den Wahlrat und andere Organe "entsprechend der Bestimmungen der Verfassung koordiniert". Laut Kritikern wird dadurch die Trennung der Staatsgewalten aufgehoben.
Außerdem wird ein "Hilfskorps" zur Unterstützung der Nationalen Polizei geschaffen, in dem Bürger:innen auf freiwilliger Basis einen Dienst leisten können.
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Die geplante Verfassungsänderung wurde schnell von den USA kritisiert. Der Staatssekretär für die westliche Hemisphäre, Brian Nichols, prangerte an, dass die "korrupte nicaraguanische Nationalversammlung versucht, die Verfassung des Landes zu ändern, um mehr Macht zu festigen ‒ in den Händen von Daniel Ortega und seiner Frau".
Auch die UN-Expertengruppe für Menschenrechte in Nicaragua äußerte ihre "tiefe Besorgnis" über die "schrecklichen und weitreichenden Folgen der Verfassungsänderung für die Grundrechte des nicaraguanischen Volkes". Die Reform gewähre Ortega und Murillo "unbegrenzte Macht". Der Journalismus in dem Land sei "praktisch ausgerottet", umso mehr, als das Verbot der Medienzensur aus der Verfassung gestrichen worden sei.
Bis etwa 2012 hatten bei grundlegenden Veränderungen im Land die sogenannten Sandinistischen Verteidigungskomitees in Stadtteilen Diskussionsveranstaltungen zu diesen Themen organisiert. Auch andere Interessengruppen hatten ihre Positionen öffentlich gemacht. Auf diesem Weg fand eine Einbeziehung der Bevölkerung statt. Im Gegensatz dazu gibt es aktuell keine solchen öffentlichen Diskussionsräume mehr, die Verfassungsänderung wurde zu einer schnellen Entscheidung des Parlaments.
Indes wird im Alltag die Verfassung in Freundeskreisen häufig angesprochen und auch kritisiert. Vielen fehlt die Kommunikation dazu, aufgrund welcher Überlegungen die einzelnen Punkte in der Verfassung geändert werden. Der wichtigste Kritikpunkt scheint aber die Verengung der Diskussionsräume zu sein.
Deshalb möchten auch Personen nicht namentlich genannt werden, wenn sie im Gespräch mit amerika21 kritische Aussagen treffen.
Unter anderem wurde erklärt, dass eine solch wichtige Veränderung auch auf breiterer Basis diskutiert werden sollte, wie es auch bei der Ausarbeitung der aktuellen Verfassung vor 1987 geschehen sei. Allerdings wurde die aktuelle Verfassung während der Amtszeit der Ortega-Regierung seit 2007 bereits zwölf Mal geändert, meist ohne große Diskussionen dazu.
Eine andere Aussage gegenüber amerika21 lautete, dass das Land mit der Frauenförderung und -beteiligung in den letzten Jahren gute Erfolge erzielt habe. Dennoch sollte man die Menschen im Land bei einer solchen Änderung wie jetzt mit zwei Co-Präsidenten, die auch die Beteiligung einer Frau festschreibt, besser einbeziehen.
"Eigentlich beschreibt die Verfassungsänderung bei den zwei Co-Präsidenten das, was wir sowieso schon im Land haben", lautete eine weitere Aussage gegenüber amerika21. Ein besonders wichtiges Feld sah diese Person in der Auseinandersetzung mit dem politischen System nicht.
In den meisten Gesprächen wird diese zunehmende Distanz und eine gewisse Unzufriedenheit und Resignation im Bezug auf Beteiligungsmöglichkeiten deutlich.