Tödliche Polizeigewalt in Brasilien auf Rekordniveau

Regierung will Polizisten Schusswaffengebrauch erleichtern. Trotz Todes eines Kindes nennt Gouverneur von Rio Strategie "erfolgreich"

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In Rio de Janeiro sterben am Tag fünf Menschen durch Polizeigewalt.
In Rio de Janeiro sterben am Tag fünf Menschen durch Polizeigewalt.

Rio de Janeiro/São Paulo. Durch Polizisten sind in Rio de Janeiro und São Paulo zuletzt mehr Menschen ums Leben gekommen als je zuvor. Im vergangenen Jahre starben in Brasilien landesweit 6.220 Personen in Auseinandersetzungen mit der Polizei (Polícia Militar und Polícia Civil). Dies entspricht einem Anstieg von 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, als 5.179 Menschen durch Polizeieinsätze starben.

Zwar wächst diese Zahl seit 2013 stetig, doch war der Anstieg im Jahr des Präsidentschaftswahlkampfes außerordentlich stark. Dies geht aus dem 13. Jahresbericht zur Öffentlichen Sicherheit hervor, die das Institut für Sicherheitspolitik, das Fórum Brasileiro de Segurança Pública (FBSP), Mitte September veröffentliche. Das FBSP hat dazu offizielle Daten ausgewertet.

Damit gingen landesweit durchschnittlich elf Prozent aller tödlichen Gewaltopfer auf das Konto der Polizei. In São Paulo betrug der Anteil sogar 20, in Rio de Janeiro 23 Prozent. In Rio kamen insgesamt 1.534 Menschen ums Leben, gefolgt von São Paulo mit 851. Die Opfer kommen größtenteils aus armen und schwarzen Bevölkerungsgruppen. Brasilien hat den Krieg gegen die Armen an der Peripherie der Großstädte intensiviert.

Experten sehen den Anstieg tödlicher Polizeigewalt als Folge der Radikalisierung des Wahlkampfdiskures von rechts sowie der Ausweitung polizeilicher Befugnisse unter der Regierung des ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro. Die Geschäftsführerin des FBSP, Samira Bueno, urteilte, "dass sich die Polizeieinheiten durch die radikalen Diskurse im Wahlkampf wohl ermutigt fühlten, abzudrücken". Zu schießen sei zunehmend die favorisierte Option der Auseinandersetzung der Behörden geworden. Alles deute darauf hin, dass sich der Trend in diesem Jahr fortsetzt und noch mehr Menschen in Einsätzen der Sicherheitskräfte ihr Leben verlieren, so Bueno weiter.

Tatsächlich stärken sowohl die Regierung auf Bundesebene als auch auf Länderebene jene Polizisten, die den tödlichen Schusswaffengebrauch zur regulären und legitimen Form in Einsätzen machen.

Der Justiz- und Sicherheitsminister Sérgio Moro brachte Anfang Februar ein umfangreiches Gesetzesprojekt ins Parlament ein, das die Befugnisse der Sicherheitsorgane erheblich ausweitet. Moro will Polizisten den folgenlosen Schusswaffengebrauch ermöglichen. Dazu soll das Verständnis von "legitimer Verteidigung" zugunsten der Sicherheitskräfte reformiert werden. Zukünftig sollen Richter Polizisten in Fällen tödlichen Schusswaffeneinsatzes freisprechen oder die Strafe halbieren. Dazu soll es ausreichen, dass die Sicherheitskräfte den "Exzess von Gewalt" mit "Angst, Überraschung oder gewaltiger Emotion" begründen. Bolsonaro hatte im Wahlkampf versprochen, dass Polizisten nach Einsätzen mit Todesfolge keine Konsequenzen fürchten sollten.

Selbst der rechtskonservative Parlamentspräsident Rodrigo Maia (DEM) hat die Regierung für diesen Freifahrtsschein kritisiert. Per Twitter teilte Maia mit, insbesondere den besagten "Ausschluss der Strafbarkeit" von Polizisten sorgsam zu prüfen.

Zuvor war am 20. September in Rio de Janeiro ein achtjähriges Mädchen durch eine Polizeikugel ums Leben gekommen. Anwohnern zufolge wurde Ághata Felix getroffen, nachdem Polizisten das Feuer auf ein fahrendes Motorrad eröffnet hatten. Die Polizei teilte nur mit, dass die Einsatzkräfte zuvor beschossen worden seien und das Feuer erwidert hätten. Schon der Onkel von Ághata Felix war vor fünf Jahren während einer Schießerei als Unbeteiligter von der Polizei getötet worden.

Der reaktionäre Gouverneur von Rio de Janeiro und Anhänger von Bolsonaro, Wilson Witzel (PSC), brauchte drei Tage, um sich zum Tod des Mädchens zu äußern. Ungeachtet der offiziellen Zahlen sieht er bei Ághata Felix einen "isolierten Fall", den man nicht für "Wahlkampftheater" missbrauchen sollte. Die Politik der Verbrechensbekämpfung sei "erfolgreich".

Sicherheitsexperten betrachten Felix´ Tod hingegen als Mord und Folge staatlicher Politik. Gegenüber dem Nachrichtenportal UOL bekräftigte die Professorin für Gewalt und Sicherheit an der Universität Brasília, Haydée Caruso, dass die "Ermordung alles andere als ein Einzelfall ist". Nach staatlicher Richtlinie "ist es das Wichtigste, Kriminelle zu jagen, ohne auch nur ein Kriterium zu haben, wie die Polizei in dichtbesiedelten Wohnvierteln agieren soll". Das sei eine klare Entscheidung, so Caruso.