Zum Jahreswechsel 2019/2020: Das Recht zu fantasieren

Mit Eduardo Galeano wünscht amerika21 seinen Leserinnen und Lesern einen guten Start in das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts

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Eduardo Galeano (1940-2015)
Eduardo Galeano (1940-2015)

Wie wäre es, für eine Weile zu fantasieren? Wie wäre es, den Blick über die Niedertracht hinweg schweifen zu lassen, um eine andere mögliche Welt vorherzusehen?

In der die Luft sauber ist, gereinigt von allem Gift, das nicht menschlichen Ängsten und menschlichen Leidenschaften entstammt.

In deren Straßen die Autos von Hunden zerquetscht werden; in der die Leute nicht mehr von Automobilen gelenkt, noch von Computern programmiert, noch vom Supermarkt gekauft und auch nicht vom Fernsehen betrachtet werden.

Der Fernseher wird nicht mehr das wichtigste Mitglied der Familie sein, er wird fortan wie das Bügeleisen oder die Waschmaschine behandelt.

In die Strafgesetzbücher wird das Delikt der Dummheit aufgenommen, dessen sich jene schuldig machen, die leben, um zu haben oder zu verdienen, anstatt um des Lebens willen zu leben; so wie ein Vogel singt, ohne vom Gesang zu ahnen, und wie ein Kind spielt, ohne vom Spiel zu wissen.

In keinem Land werden mehr junge Männer zu Gefangenen, weil sie sich dem Wehrdienst verweigern, sondern diejenigen, die ihn anstreben.

Niemand wird mehr leben, um zu arbeiten, sondern alle werden arbeiten, um zu leben.

Die Ökonomen werden nicht mehr vom Lebensstandard sprechen, wenn sie die Konsumquote meinen, noch werden sie die Menge des Besitzes Lebensstandard nennen.

Die Köche werden nicht mehr glauben, dass es den Langusten gefällt, lebend gekocht zu werden.

Die Historiker werden nicht mehr glauben, dass es den Ländern gefällt, Ziel von Invasionen zu werden.

Die Politiker werden nicht mehr glauben, dass es den Armen gefällt, Versprechungen zu schlucken.

Die Erhabenheit wird nicht mehr glauben, eine Tugend zu sein und niemand wird jemals mehr jemanden ernst nehmen, der nicht fähig ist, sich selbst nicht ernst zu nehmen.

Der Tod und das Geld werden ihre magischen Kräfte verlieren und es wird weder einen Todesfall noch Glück brauchen, um einen Schurken zu einem ehrenhaften Mann zu machen.

Das Essen wird keine Ware sein, noch die Kommunikation ein Geschäft, weil Essen und Kommunikation Menschenrechte sein werden.

Niemand wird mehr Hungers sterben, weil niemand mehr an Übersättigung sterben wird.

Die Kinder in den Straßen werden nicht mehr wie Abfall behandelt werden, weil es keine Straßenkinder mehr geben wird; die Reichenkinder werden nicht mehr mit Samthandschuhen angefasst werden, weil es keine reichen Kinder geben wird.

Die Bildung wird nicht mehr das Privileg jener sein, die für sie bezahlen können und die Polizei wird nicht mehr der Fluch derjenigen sein, die sie nicht schmieren können.

Die Justiz und die Freiheit, zum getrennten Leben verdammte siamesische Zwillinge, werden wieder zusammenfinden, eng verbunden, Rücken an Rücken.

In Argentinien werden die verrückten Frauen der Plaza de Mayo zum Beispiel geistiger Gesundheit, weil sie sich in Zeiten der erzwungenen Amnestie zu vergessen geweigert haben.

Die Heilige Mutter Kirche wird die Fehler auf den Tafeln Moses’ korrigieren und das sechste Gebot wird fortan dazu auffordern, den Körper zu feiern; die Kirche wird auch ein weiteres Gebot erlassen, das Gott einst entfallen ist: "Du sollst die Natur lieben, derer Du Teil bist."

Die Wüsten der Erde werden aufgeforstet werden wie auch die Wüsten der Seele.

Die Fallenden werden aufgefangen und die Verlorenen gefunden, weil die einen im langen Warten den Halt und die anderen in der langen Suche sich selbst verloren haben.

Wir werden Landsleute und Zeitgenossen all jener werden, die den Willen zur Schönheit und den Willen zur Gerechtigkeit haben, wo immer sie geboren seien und wann immer sie lebten, ohne dass die Grenzen der Landkarten oder die der Zeit die geringste Bedeutung haben.

Wir werden unvollkommen sein, weil die Perfektion wie stets das langweilige Privileg der Götter sein wird; aber in dieser Welt, in dieser stümperhaften und verkorksten Welt, wird jeder fähig sein zu leben, als sei er der Erste, in jeder Nacht, als sei es die Letzte.