Kolumbien: Polizei schießt in Cali scharf – wieder Tote

Kriegshandlungen der Regierung in Cali. Gerüchte über anonyme Gräber von Protestierenden. Supermarkt in Operationszentrum der Polizei verwandelt

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"Das Volk gibt nicht auf, verdammt"
"Das Volk gibt nicht auf, verdammt"

Cali. Die Proteste und deren gewaltsame Niederschlagung halten in Koumbien weiter an. Am Samstagabend soll die Polizei den Minderjährigen Erik Larredondo durch Gewehrschüsse in Calipso, einem Stadtteil von Cali, getötet und sechs Personen verletzt haben. Dies berichten alternative kolumbianische Medien. Viertelbewohner:innen hatten am Abend Angriffe der Polizei mit Gewehren gegen Protestierende und Einwohner:innen angeprangert, schrieb der Senator und Präsidentschaftskandidat Alexander López auf Twitter.

Bereits in den vorangegangenen Tagen hatte die Polizei die Nachbarschaft und Demonstrat:innen in Calipso mit Feuerwaffen attackiert. Am Mittwoch hatte die Polizei die junge Mutter Angie Johanna Ordóñez dort mutmaßlich erschossen. Ähnliche Angriffe setzten sich danach fort. Am Freitag meldete die Stadtpolizei einen durch Schüsse getöteten Polizisten in Calipso. In Cali soll die Polizei insgesamt bereits 40 Zivilpersonen getötet haben.

In Calipso herrscht Empörung wegen Gerüchten über die Nutzung eines Supermarkts der Kette "Éxito" als inoffizielles Verhaftungs- und Folterzentrum der Polizei in der Nacht des 19. auf dem 20. Mai. Der Supermarkt war zuvor geplündert worden. Nachbar:innen meldeten, sie hätten in dieser Nacht Hilfeschreie aus dem Supermarkt gehört. In den sozialen Netzwerken zirkulieren Videos, die an verschiedenen Stellen des Supermarkts Blutflecken zeigen.

Die Video-Clips wurden von Viertelbewohner:innen gemacht, die in den Supermarkt hinein durften, nachdem die Behörden den Ort inspiziert und für unverdächtig erklärt hatten. Das lokale alternative Medium Canal 2 bestätigte außerdem, dass Motorräder und Kleinlaster ohne Kennzeichen in dem Supermarkt ein- und ausfuhren.

Es ist unklar, wer den "Éxito" geplündert hat. Die Jugendlichen der selbstorganisierten Protestschutz-Gruppe "Erste Reihe" (Primera Línea) von Calipso distanzierten sich am Mittwoch von der Plünderungsaktion im Supermarkt. Sie hätten mit der Aktion nichts zu tun, sie unterstützen sie nicht und "deshalb ziehen wir uns für heute zurück", teilten die Gruppe am Mittwochabend mit.

Die kritische Menschenrechtssituation landesweit, aber ganz besonders im Departamento Valle del Cauca zeigt sich auch an der hohen Zahl vermisster Personen. Allein in Cali und den umliegenden Gemeinden haben Menschenrechtsorganisationen über 100 Verschwundene registriert. Lokale und nationale Politiker:innen verweisen in diesem Sinne auf vorbeischwimmende Leichen von Menschen, die in den letzten Tagen zum Beispiel im Fluss Cauca gesehen wurden.

Auch die Rätin von Cali, Ana Erazo, sprach von möglichen anonymen Massengräbern in der nahe Cali gelegenen Gemeinde Mulaló und forderte den Bürgermeister von Cali, Jorge Iván Ospina, auf, Ermittlungen einzuleiten.

Verschleppungen von Menschen sind auch in anderen Städten wie im nordöstlichen Bucaramanga zu beobachten. Dort haben Einheimische aufzeichnen können, wie kleine Gruppen von Zivilpersonen Menschen in zivilen Wagen hineinzwangen und dann davon fuhren.

Trotz alldem hören die täglichen Demonstrationen, Kundgebungen und Blockaden landesweit nicht auf. Letzte Woche wurde bekannt, dass die Regierung die Gesundheitsreform, gegen die sich die Proteste unter anderem richten, zurückgenommen hat.

Ähnliche Protestprojekte wie in "Puerto Resistencia" (Hafen des Widerstands) in Cali, wo die in Armut lebenden Stadteilbewohner:innen einen starken gemeinschaftlichen Widerstand aufgebaut haben, enstehen auch in anderen Städten. So in Bogotá an dem "Portal de las Américas" (Tor der Amerikas), das die lokalen Einwohner:innen in "Portal de la Resistencia" (Tor des Widerstandes) umbenannt haben.

Dorthin strömen die Stadtteilnachbar:innen täglich, nehmen an politischen Kundgebungen, kulturellen Aktionen und Versammlungen teil. Nicht nur eine „Erste Reihe“ von Jugendlichen sondern auch von Müttern ist dort entstanden. Die "Mütter der Ersten Reihe" hat die Polizei letzte Woche mit den sogenannten Venom-Werfern angegriffen. Der Mehrfachprojektilwerfer kann zeitgleich Tränengas, Reizgas oder Schock- und Blendmunition schießen.

Seit Freitag begleitet eine Delegation des indigenen Rats von Cauca (Cric) die Protestierenden von "Plaza de la Resistencia". Die dortigen Widerständler:innen werden täglich von der Polizeisondereinheit zur Aufstandsbekämfung Esmad attackiert. Ihre Unzufriedenheit mit den Einsätzen der Esmad haben sie der Stadtverwaltung mitgeteilt. "Ihnen gebe ich meine Hand nicht, weil Sie sie nicht verdienen", sagte ein Junge zum Regierungssekretär der grünen Bürgermeisterin Claudia López, der vor Ort war.

Indes setzt das Streikkomitee die Gespräche mit der Regierung von Iván Duque fort. Es heißt, beide Parteien wollen sich auf ein Dokument einigen, das die Behandlung der Proteste regelt. Der Hohe Regierungsbeauftragte für den Frieden, Miguel Ceballos, der gleichzeitig die Regierung beim Dialog mit dem Streikkomitee vertritt, ist zurückgetreten.

Auch die Außenministerin Claudia Blum trat zurück. Ihre Nachfolgerin ist die bisherige Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez. Ramírez war geschäftlich indirekt mit dem Drogenboss Guillermo Acevedo Giraldo – auch als "Memo Fantasma" bekannt – verbunden . Ihr Bruder wurde ebenso vor vielen Jahren in USA wegen Drogenhandel festgenommen.