Argentinien: Zwiespältige Bilanz der Gerichtsverfahren gegen Täter der Diktatur

Mehr als 3.000 Verfahren. Überlange Verfahrensdauern, Verzögerungen im Instanzenweg, sinkende Zahl von Haftstrafen und mehr Hausarrest für verurteilte Militärs

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Demonstration für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit in La Plata: "30.000 Gründe, um weiterzukämpfen"
Demonstration für Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit in La Plata: "30.000 Gründe, um weiterzukämpfen"

Buenos Aires. In Argentinien sind in den vergangenen 17 Jahren 1.173 Täter der zivil-militärischen Diktatur (1976-1983) wegen Verbrechen gegen die Menschheit zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. 184 Angeklagte wurden freigesprochen. Trotz der hohen Zahl an Urteilen entspricht dies weniger als einem Drittel der Gesamtzahl aller Angeklagten, gegen die Verfahren eingeleitet wurden. Die durchschnittliche Verfahrensdauer beträgt in diesen Fällen von der Ermittlungsphase bis zur Urteilsverkündung zur Zeit fast sechs Jahre.

Das nun veröffentlichte Resümee der Generalstaatsanwaltschaft für Verbrechen gegen die Menschheit, geleitet von María Ángeles Ramos, fällt dementsprechend zwiespältig aus. Neben den überlangen Verfahrensdauern und den Verzögerungen am Instanzenweg werden darin auch die sinkende Zahl an zu verbüßenden Gefängnisstrafen und die vermehrte Zuerkennung von Hausarrest für verurteile Militärs kritisiert.

Seit einem Präzedenzfall aus dem Jahr 2010 werden in den Verfahren neben Delikten wie illegaler Freiheitsberaubung, Folter, Verschwindenlassen und Mord auch Sexualdelikte wie Missbrauch, Vergewaltigung oder erzwungener Schwangerschaftsabbruch verhandelt. Entsprechende Urteile ergingen jedoch nur in 51 Verfahren und damit in weniger als 16 Prozent. 201 Frauen und 37 Männer wurden in den Prozessen als Opfer von Sexualdelikten anerkannt.

Angesichts des Wissens um die massive sexuelle Gewalt, die in den geheimen Folterzentren der Diktatur an der Tagesordnung stand, ist dies eine äußerst niedrige Verurteilungsrate.

Seit Wiederaufnahme der Gerichtsverfahren gegen Täter der Diktatur im Jahr 2006 wurden 685 Verfahren gegen insgesamt 3.744 Angeklagte eingeleitet. Nur in 316 davon ist es bis dato zu einem Urteil gekommen. Fast genauso viele Fälle befinden sich nach wie vor im Stadium von Vorermittlungen, 18 in der Hauptverhandlung. Bei aktuell 62 zur Hauptverhandlung anstehenden Verfahren steht lediglich in drei Fällen das Datum des Verhandlungsbeginns fest.

1.151 Angeklagte sind während der Dauer des Verfahrens verstorben, noch bevor es zu einem Urteil gegen sie kommen hätte können.

Da die Justiz insbesondere in Fällen angeklagter Militärs traditionellerweise langsam arbeitet und die Angeklagten in der Regel sämtliche Rechtsmittel ausschöpfen, um ihre Urteile anzufechten, kommt es auf dem Instanzenweg zu weiteren Verzögerungen. Lediglich für 387 von insgesamt 1.173 erstinstanzlich verurteilten Tätern hat das Höchstgericht deren Urteile auch bestätigt.

Dies hat zur Folge, dass sich heute nur ein kleiner Anteil der Täter auch in Haft befindet. Während rund 40 Prozent der Angeklagten ihre jahrelangen Prozesse in völliger Freiheit mitverfolgen können, befinden sich aktuell lediglich 96 Personen im Gefängnis. Mehr als drei Viertel aller Verurteilten, 517 Personen, verbüßen ihre Strafen derzeit in Hausarrest.

Die frühe juristische Verfolgung der Menschheitsverbrechen der Diktatur kam nur wenige Jahre nach Wiedereinführung der Demokratie wieder zum Erliegen. Ende der 1980er Jahre beschränkte die Regierung des ersten gewählten Präsidenten Raúl Alfonsín mit zwei Gesetzen die weitere rechtliche Verfolgung der Täter. Mit den Amnestiegesetzen seines Nachfolgers Carlos Menem aus den Jahren 1989 und 1990 kamen die bis dahin verurteilten Verantwortlichen wieder frei.

Erst im Jahr 2003, unter der Regierung des linksgerichteten Präsidenten Néstor Kirchner, wurden die Gesetze zunächst aufgehoben und zwei Jahre später vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt. Dies bedeutete den Startschuss für die nunmehr seit 17 Jahren laufenden Strafprozesse.

Das politische Umfeld des neuen, ultrarechten Präsidenten Javier Milei hatte zuletzt immer wieder die juristische Verfolgung der verantwortlichen Militärs kritisiert. Die aktuelle Vizepräsidentin, Victoria Villarruell, äußerte wiederholt, in Argentinien hätte es keinen Staatsterrorismus, sondern einen Bürgerkrieg zwischen staatlichen Kräften und bewaffneten linken Organisationen gegeben. Zehntausende Tote und "Verschwundene" wären lediglich auf vereinzelte "Exzesse" der Polizei und des Militärs zurückzuführen. Dies wurde von zahlreichen Menschenrechtsvertretern kritisiert (amerika 21 berichtete). Indes feierten zwei Anwälte von angeklagten Militärs offen den Wahlsieg Mileis und seiner Vize Villarruel vor laufender Kamera im Rahmen einer Gerichtsverhandlung.

Während der Militärdiktatur wurden in Argentinien rund 30.000 Personen von Einheiten des Militärs, der Polizei und paramilitärischen Gruppen zum "Verschwinden" gebracht. Es wird geschätzt, dass rund 500 Kleinkinder ihren Müttern geraubt und illegal angeeignet wurden. Bis heute konnten 137 von ihnen gefunden werden.