Venezuela / Politik

Der Chavismus in Venezuela und seine Besonderheiten

Der Autor und Theoretiker Reinaldo Iturriza sprach mit Venezuelanalysis über die aktuellen Herausforderungen des Chavismus in Venezuela

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Zehntausende demonstrierten in Venezuelas Hauptstadt Caracas nach dem Attentat auf Präsdident Maduro am 4. August
Zehntausende demonstrierten in Venezuelas Hauptstadt Caracas nach dem Attentat auf Präsdident Maduro am 4. August

Reinaldo Iturriza hat sich im chavistischen Projekt auf verschiedenste Weise engagiert, von direkter Beteiligung bis hin zu kritisch-kreativer Analyse. Er ist ein von Hugo Chávez hochgelobter Blogger, Autor des Buches Der wilde Chavismus (El chavismo salvaje), er war Minister für die Kommunen und die sozialen Bewegungen1 und Kulturminister. Derzeit schreibt Iturriza an einem Buch mit dem Titel Caribes, er arbeitet außerdem im Nationalen Geschichtszentrum und in der kommunalen Landwirtschaft im Bundesstaat Lara. Im Interview mit Venezuelanalysis spricht er über einige der komplizierten Fragen, die sich dem Chavismus gegenwärtig stellen. Dazu gehören das Spannungsfeld zwischen innerer Demokratie und Führungsstärke bei der regierenden Vereinten Soziualistischen Partei Venezuelas (PSUV), die Konfrontation zwischen Landkommunarden und der regionalen Oligarchie sowie deren Unterstützern aus der Regierung und die internationale Wahrnehmung des Chavismus.

Die hegemoniale Geschichtsschreibung interpretiert den Ablauf der Geschichte als linear und sucht stets nach Kontinuitäten. Ihr Blick auf das Chavismus-Phänomen betont dagegen die Besonderheiten und Brüche. Können Sie uns das erklären?

Das ist tatsächlich ein zentraler Punkt. Die konservative Geschichtsschreibung gibt sich die größte Mühe, die Verwandtschaft des Chavismus mit den "rückständigsten" Elementen der politischen Tradition Venezuelas zu zeigen. International gibt es natürlich den Versuch, das Chavismus-Phänomen zu diskreditieren, indem es mit "Populismus" in Verbindung gebracht wird, wie er wiederum typisch sei für rückständige Länder. Die Aufmerksamkeit wird auf die Führungsfigur gerichtet und die popularen Klassen werden in den Hintergrund geschoben. Letztere werden, unausgesprochen, als unfähig zu politischer Aktivitäten angesehen, und das gilt auch für unsere Länder, die als prädisponiert für Unordnung, Irrationalität und Gewalt dargestellt werden. Wie oft sind derartige Meinungen zu hören!

Die Einzigartigkeit des Chavismus gründet sich aber unter anderem genau auf den Protagonismus des Volkes. Der Chavismus ist das Ergebnis eines außergewöhnlichen Prozesses der Herausbildung eines politischen Subjekts, der seinen Ursprung in den 1990er Jahren hat, aufgrund einer Reihe von historischen Umständen. Chávez' Führungsrolle ist undenkbar ohne den Aufschwung dieser Volksbewegung. Die Figur Chávez ist ein ganz und gar populares Konstrukt: das Resultat eines Prozesses und nicht umgekehrt. Seine Führungsrolle hat mit seiner Verbundenheit mit dem Volk zu tun, mit seiner Fähigkeit, die Sehnsüchte und Erwartungen des popularen Subjekts zu erfassen und umzusetzen

Auf der anderen Seite kann man sicher auf Kontinuitäten zur politischen Kultur der Partei Demokratische Aktion (Acción Democrática) hinweisen (eine politische Rechtspartei, die zusammen mit Copei jahrzehntelang als Teil des sogenannten Pakts von Puntofijo2 regierte). Diese Kultur war an Gruppeninteressen orientiert, sie basierte auf der Stellvertreterlogik, den popularen Klassen wurde eine untergeordnete Rolle zugewiesen, "Teilhabe" wurde nur in traditionellen politischen Formen (Parteien, Gewerkschaften etc.) zugelassen, das Unternehmertum bevorzugt.

Die konservativsten Teile des Chavismus fühlen sich mit diesen Praktiken durchaus sehr wohl, aber, um es nochmal zu betonen, dies macht nicht die Natur des Chavismus aus. Das Neue am Chavismus ist genau all das, was mit der überkommenen politischen Kultur bricht und eine neue hervorbringt: Das chavistische Subjekt ist im Wesentlichen die Mehrheit der Bevölkerung Venezuelas, die in der Geschichte unsichtbar war, marginalisiert, die tiefes Misstrauen gegen die traditionellen Organisationsformen empfindet und auf direkte Partizipation und Räume für Selbstregierung setzt. Wenn man all dies nicht beachtet, führt das zu jeder Art Fehleinschätzung der Bolivarischen Revolution.

Der 4. Kongress der PSUV ging kürzlich zu Ende, die Debatten waren intensiv, manchmal schwierig. Die heftigste Debatte ging um Fragen der internen Demokratie in einer Partei, die Millionen Mitglieder hat. Eine Tendenz ging dahin, Nicolás Maduro als Parteichef zu proklamieren und (angesichts der schwierigen Bedingungen aufgrund der imperialistischen Aggression) ihn persönlich mit der Auswahl der nationalen PSUV-Führung zu betrauen. Eine andere Tendenz wollte, dass die Parteiführung von der Basis gewählt wird, wobei Maduro weiterhin Parteivorsitzender bleibt. Der erste Vorschlag setzte sich durch. Wenn man konstruktiv über die Gegenwart und die Vergangenheit nachdenkt, was meinen Sie, welche Art Partei braucht man, um den Sozialismus des 21. Jahrhundert aufzubauen? Die Frage der Demokratie (und der Debatte unter Gleichberechtigten) ist zentral, aber ebenso wichtig ist es, dass kommunale Projekte autonom sein sollten.

Zunächst einmal finde ich es richtig, dass der 4. PSUV-Kongress Maduro als Parteichef bestätigte. Der Chavismus anerkennt die Führungsrolle des Präsidenten. Zweitens halte ich es für dringend nötig, die nationale Parteiführung zu erneuern. Dafür wäre der beste Weg, die Basis zu befragen und entscheiden zu lassen. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass mehr Demokratie zur Uneinigkeit führt, Das ist ein Scheinargument. Allzu oft beachtet die chavistische politische Klasse die generelle und tiefe Unzufriedenheit der Volksmassen mit der politischen Klasse im allgemeinen nicht, sei sie chavistisch oder nicht, die als abgehoben von der Realität und ohne wirkliches Wissen um die alltäglichen Probleme der Bevölkerung wahrgenommen wird.

Es gibt eine ernste Krise der politischen Vermittlung zwischen Parteiführung und Basis, die mit Mut und Kühnheit angegangen werden muss. Unter anderem dazu muss eine politische Partei für den Sozialismus des 21. Jahrhunderts bereit sein. Wir hatten bereits viel zu viele Politiker in mittleren oder höheren Rängen, die vom Volk Opfer verlangen, die selber zu bringen sie nicht bereit sind. Stattdessen nutzen sie ihre Stellung um Vorteile, Vergünstigungen und Privilegien zu erlangen.

Gegenwärtig scheint der Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals (und Teile der Bürokratie) in den ländlichen Gebieten am aktivsten zu sein. Beispiele sind die Kommune El Maizal (im Bundesstaat Lara), der Widerstand in Sur de Lago (in Zulia) und der "Bewunderswerte Marsch"3die protestierenden Kleinbauern, die vor kurzem zu Fuß aus Regionen im Landesinneren in die Hauptstadt gingen, um sich Gehör zu verschaffen. Was meinen Sie, warum sind die ländlichen Gebiete jetzt die aktivsten und am stärksten mobilisierten Gegenden dieses politischen Prozesses, der bis vor kurzem auf die städtischen Zonen und vor allem die Armenviertel konzentriert war?

An jedem dieser Brennpunkte des Kampfes auf dem Land stehen organisierte populare Klassenbewegungen der regionalen Oligarchie und den faktischen Mächte gegenüber, die zweifellos immer noch glauben, sie seien in der Lage, ihre Macht auf dem Land "wiederherzustellen". Die Volksbewegungen sind auch mit dem perversen Bündnis zwischen Teilen der Staatsmacht (Bürokraten, Polizei, Militärs, Richter etc.) und eben diesen regionalen Machtgruppen konfrontiert. Solche Koalitionen sind schlicht inakzeptabel in einer Situation, wo wir tatsächlich aufgerufen sind, all unsere Bemühungen der Nutzung von Ackerland zu widmen und dem wirklichen Subjekt der revolutionären Politik (Bauern und Kommunarden, kleine und mittlere Produzenten) jegliche Unterstützung geben müssen. Denn Letztere sind es, durch die die revolutionäre Regierung weiterarbeitet und sich durchsetzt.

In der Tat wäre es merkwürdig, wenn die gegenwärtige Situation auf dem Land keine Reaktion des Volkes zur Folge hätte! Das Treffen der Bauern und Kommunarden mit dem Präsidenten und insbesondere das, was sie während der landesweiten Fernsehübertragung sagten, war eines der wichtigsten politischen Ereignisse der letzten Zeit. Ich glaube, dass die Mehrheit im Land sich in diesen Worten, in den Kritiken und Forderungen wiederfand. Was wir gehört haben, ist die selbe politische Klarheit, die wir auch bei den Leuten von El Maizal und anderen Kommunen vorfinden, bei den Menschen in Sur del Lago und überhaupt bei all denen, die verstehen, dass wir, um diese historische Krise zu überwinden, in der Lage sein müssen zu produzieren was wir essen.

Einige in der internationalen Linken sagen, sie seien weder mit dem Chavismus noch mit seinen Feinden, weder für den Imperialismus noch für die Bolivarische Regierung. In Wahrheit ist das ein falsches Dilemma, denn es gibt eine dritte Option: den Chavismus der Basis. Letzterer steht natürlich der Regierung näher, zumindest ist er bereit, mit der Regierung eine gemeinsame Front gegen den Imperialismus zu bilden (und äußert gleichzeitig gelegentlich erhebliche Differenzen zum Regierungsblock)

Das scheint mir die typische Haltung von Leuten zu sein, die die realen Machtverhältnisse idealisieren. Trotz aller Unstimmigkeiten, die man mit der Regierung haben mag, ist absolut klar, dass Anti-Chavismus einfach keine Option ist. Die Teile der Linken, die Sie gerade erwähnten, kokettieren mit ihrem Recht, sich nicht zu entscheiden. Wenn man aber in einer Gesellschaft wie der unseren lebt, wo wir versuchen, eine Revolution zuwege zu bringen ‒ mit all ihren Schönheiten und Fehlern ‒ und in der es keine Option ist, von den Kriminellen regiert zu werden, die in der Vergangenheit die Macht hatten (dieselben Leute, die auf absolut alle Formen des Kampfes gegen uns zurückgreifen, einschließlich Mordanschlag), dann sieht diese "Weder-Noch"-Position sehr nach Betrügerei aus: "Meine Position ist, keine Position zu beziehen." Aber offen gesagt, solche Leute kann man ignorieren. Wenn sie ihre eigene Revolution machen, werden sie es begreifen: Wenn der Imperialismus versucht sie zu ersticken, dann werden sie verstehen, dass atmen die einzige Option ist.

  • 1. Die Kommunalen Räte (Conesjos Comunales) sind eine Struktur der Selbstverwaltung auf lokaler Ebene. Gewählte Nachbarschaftsvertreter sind zur Planung und Haushaltsgestaltung in lokalpolitischen Angelegenheiten berechtigt. Die Kommune (Comuna) ist der Zusammenschluss mehrerer Kommunaler Räte auf lokaler Ebene. Sie sind seit 2006 gesetzlich verankert, haben Verfassungsrang und sollen die Grundlage für den Kommunalen Staat bilden. Ziel ist die Selbstregierung des Volkes und die Überwindung des bürgerlichen Staates
  • 2. Nachdem 1958 einem Bündnis ziviler und militärischer Oppositioneller der Sturz des Diktators Marcos Pérez Jiménez gelang, verdrängten die bürgerlichen Parteien des Bündnisses mit dem "Pakt von Punto Fijo" die anderen politischen Kräfte. In den 40 darauf folgenden Jahren teilten sich die sozialdemokratische Partei Acción Democrática (AD) und die christdemokratische Partei Copei in gegenseitigem Einvernehmen und unter Ausschluss der Kommunistischen Partei die Macht
  • 3. Siehe Amerika21: Venezuela: Kleinbauern in Caracas, Präsident sagt radikale Maßnahmen zu