Im Zeugenstand gegen die Folterer

Sergio Ferrari lebt in Bern und war politischer Gefangener der argentinischen Militärdiktatur. Nun hat er in einem Prozess gegen seine ehemaligen Folterer ausgesagt

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Luftaufnahme des Gefängnisses Coronda in der Provinz Santa Fe, Argentinien
Luftaufnahme des Gefängnisses Coronda in der Provinz Santa Fe, Argentinien

Wie würde es sein, wenn er am Prozess Adolfo Kushidonchi wiederbegegnet? Mit einer Mischung aus Mitleid und Hass hat Sergio Ferrari an jenen Moment gedacht, in dem er seinem Peiniger gegenübertreten würde. Dieser Moment blieb dem in Bern lebenden Argentinier aber erspart: Kushidonchi, der einstige Kommandant des Gefängnisses von Coronda, liess sich am Prozess vor einem Gericht im argentinischen Städtchen Santa Fe entschuldigen. Kushidonchi ist ein alter Mann und machte gesundheitliche Gründe für sein Fernbleiben geltend.

Für Ferrari hat sich der Auftritt als Zeuge im Prozess gegen die einstige Leitung des Gefängnisses von Coronda trotzdem gelohnt. Denn Rachegefühle kennt der einstige politische Gefangene kaum. Für ihn zählt einzig, dass sich Kushidonchi und ein weiterer Gefängniskommandant vor einem regulären argentinischen Gericht haben verantworten müssen. "Im Unterschied zu Spanien und Portugal können sich die Opfer der einstigen Diktatur in Argentinien an die Justiz wenden." Das habe Hassgefühle gebändigt und Emotionen kanalisiert. "In den letzten 40 Jahren hat es keinen einzigen Racheakt im Land gegeben", sagt Ferrari.

"Zur Verfügung des Diktators"

Die juristische Bewältigung der Militärdiktatur kam aber spät in Gang – erst zwanzig Jahre nach deren Ende mit dem Amtsantritt von Präsident Néstor Kirchner im Jahr 2003. Für weltweite Schlagzeilen haben jüngst die Urteile gegen Dutzende von Mitgliedern der einstigen Militärjunta gesorgt. Der Prozess gegen die Leitung des Gefängnisses von Coronda hat aber ebenfalls Beachtung verdient. Denn dabei hat ein "normales" Gericht erstmals die direkt Verantwortlichen für Verbrechen verurteilt, die in einem regulären Gefängnis begangen wurden und nicht in einem der Geheimgefängnisse der Militärs.

Das Gefängnis von Coronda liegt rund 400 Kilometer nordöstlich von Buenos Aires. In den ersten Jahren der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) war es eine Art "Pilotprojekt" für die physische und psychische Vernichtung von mehr als 1000 politischen Gefangenen durch Isolationshaft, willkürliche Bestrafungen, routinemässige Prügel mit Fäusten, Gürteln oder Holzknüppeln sowie tägliche Einzeldurchsuchungen. Die meisten Gefangenen erhielten nie eine Anklage. Sie waren im Gefängnis, weil sie sich "zur Verfügung der nationalen Exekutivgewalt" halten mussten. Er habe nicht gewusst, wie lange sein Aufenthalt in Coronda dauern würde, sagt Ferrari. Er habe nicht einmal einen Namen gehabt, sondern bloss eine Nummer, die Nummer 2042. "Ich stand 33 Monate lang zur Verfügung von Diktator Jorge Videla."

Urteil mit "Signaleffekt"

Für Ferrari ist es eine grosse Genugtuung, dass die unmittelbar Verantwortlichen für diese Willkür letzten Freitag verurteilt worden sind. Kushidonchi und Domínguez müssten wegen "schwerer Folter" in 38 Fällen und unterlassener Hilfestellung mit Todesfolge in zwei Fällen für 22 respektive 17 Jahre ins Gefängnis. Aufgrund ihres Gesundheitszustandes bleiben sie aber in Hausarrest. Für Ferrari zählt die Verurteilung als solche. "Damit ist klar, dass es in Argentinien für Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Verjährung gibt."

Die Höhe der ausgesprochenen Strafen spiele dabei keine so grosse Rolle, auch wenn die Staatsanwaltschaft im Fall von Kushidonchi 25 Jahre beantragt habe. "Wichtig ist der Signaleffekt des Urteils", sagt Ferrari. Zum ersten Mal in der Geschichte Argentiniens habe eine Vereinigung ehemaliger Gefängnisinsassen eine Verurteilung der Verantwortlichen erreicht. Dies mache den Weg frei für weitere Prozesse ähnlicher Art.

Singen und Pfeifen als "Vergehen"

Der 64-jährige Ferrari erzählt nüchtern, sodass es schwerfällt, sich die Leiden des 22-jährigen Häftlings vorzustellen. Er sei vor Gericht fokussiert gewesen, sagt Ferrari. Dort sei es darum gegangen, aus der schmerzhaften Vergangenheit Hinweise und Beweise zugunsten der Anklage herauszudestillieren.

Für Ferrari hatte die Zeugenschaft aber nicht erst mit dem Prozess begonnen. Bereits unmittelbar nach seiner Ausweisung Ende 1978 hat er einen Bericht für Amnesty International über die Haftbedingungen in Coronda verfasst. Darin zählte er nicht weniger als 35 Gründe auf, die sich die Wachen für eine Bestrafung der Gefangenen ausgedacht hatten – die Liste wirkt absurd, geht es doch etwa um das unbefugte Sitzen auf dem Bett während des Tages oder das Singen und Pfeifen in der Zelle. Für solche "Vergehen" wurden die Betroffenen mit Isolation bestraft oder gar in den Strafblock geschickt.

Während der 33 Monate seiner Haft wurde Ferrari an insgesamt 200 Tagen für solche "Vergehen" bestraft, einen Teil davon verbrachte er in den vollkommen leeren Zellen des Strafblocks. Dort mussten die Gefangenen selbst im Winter auf dem Boden schlafen. Trotz dieses Regimes blieb sein Widerstandsgeist ungebrochen. "In einer Diktatur kann man sich nur zum Kampf entscheiden, wenn man starke ideologische Überzeugungen hat." Dies habe nicht nur für ihn, sondern auch für andere gegolten.

So haben Ferrari und seine Mitinsassen kleine Glassplitter zu einem winzigen Periskop zusammengefügt, mit dem sie unter den Türen hinweg die Bewegungen der Wächter beobachten konnten. Die Kommunikation untereinander erfolgte durch offene Fenster und geleerte WC-Schüsseln. Der Widerstand führte zur einzigen Vorführung bei Kushidonchi. Ferrari hatte einen Nervenzusammenbruch fingiert – eine der häufig angewandten Widerstandsformen. Der Kommandant habe ihn als einen der Rädelsführer bezeichnet. Am Schluss des Gesprächs habe er ihm eröffnet: "Sie werden dieses Gefängnis nie verlassen – ausser als Leiche oder als Verrückter."

So weit ist es zum Glück nicht gekommen: Sergio Ferrari und sein Bruder Claudio sind Ende 1978 aus Argentinien ausgewiesen worden und haben in der Schweiz Asyl erhalten. Seinen Bruder, der ebenfalls in Coronda inhaftiert war, hat Sergio erst in Bern wiedergesehen. Claudio ist aber auch im Exil nie über das Erlebte hinweggekommen und verstarb früh. Beim Sprechen über seinen Bruder ist Ferraris Nüchternheit plötzlich weg. Claudio sei nicht der Einzige, der nach der Entlassung psychisch zerstört gewesen sei. "Es gibt Menschen, die sensibler und damit auch verletzlicher sind", sagt Ferrari.

Dieser Beitrag erschien am 16. Mai 2018 in der Schweizer Tageszeitung Der Bund. Wir danken der Redaktion für die Erlaubnis zur Übernahme


"Wir alle verurteilen euch. Das Gericht und das Volk."

Aus einem Bericht von Sergio Ferrari

42 Jahre nach den Vorfällen hat das Bundeskriminalgericht von Santa Fé am 2. Freitag des Monats Mai zwei hohe Offiziere der Nationalgendarmerie verurteilt, die das Hochsicherheitsgefängnis Coronda von 1976 bis 1979 geleitet hatten. Auch wenn die als Nebenklägerin auftretende Vereinigung der ehemaligen politischen Gefangenen "El Periscopio" lebenslänglich verlangt hatte, gilt das Urteil als "äußerst bedeutsam" und "historisch".

Das Urteil anerkennt, dass "Verbrechen gegen die Menschheit nicht verjähren", sagt Alfredo Vivono, Präsident von "El Periscopio". Er betont: Politisch und emotional "stellt das Urteil für alle von uns, die im Gefängnis Coronda saßen, und insbesondere für jene, die heute nicht mehr leben, eine Genugtuung dar". Er erinnerte: "Einige starben im Gefängnis, andere danach. Einige dieser Genossen litten als Folge der Haft an einem schweren Trauma." Vivono unterstreicht weiter "den wichtigen Erfolg in einem Moment, wo in Argentinien ein solchen Prozessen widriges politisches Klima dominiert".

Dieses Urteil, analysiert Guillermo Munné, einer der prozessierenden Anwälte und Mitglied der Organisation Hijos, "bezieht die Gefängnisse in den genozidalen Handlungsraum der Diktatur ein; sie waren veritable Zentren der Folter und der Vernichtung". Das Gericht stellt das in diesen offiziellen Gefängnissen Erlittene auf die gleiche Stufe wie jenes in den Geheimgefängnissen. Im Gefängnis "war die Folter absolut", teilt Staatsanwalt Martín Suárez Faisal nach der Urteilsverkündung in Rosario 12, der Beilage zur argentinischen Tageszeitung Página/12, mit. Er konnte beweisen, dass in Coronda "ein Plan zur physischen und psychischen Zerstörung" umgesetzt wurde. Wie damals einer der jetzt Verurteilten stolz gesagt hatte: "Hier kommt ihr tot oder verrückt raus". Der Staatsanwalt sagte weiter: Auch wenn in allen Gefängnissen ein entsetzliches Regime herrschte, "war das von Coronda das schlimmste. In meiner Anklage verglich ich Coronda mit Guantánamo. Wenn das stimmt, was sie von Guantánamo sagen, war Coronda gleich: absolute Folter."

Volksfest

Nach der Urteilsverkündung gab es ein richtiges Volksfest, ins Internet und über Großbildschirme nach draußen übertragen. Während des Prozesses war die Parole: "Ein Gericht macht euch den Prozess, wir verurteilen euch". Jetzt hieß es: "Wir alle verurteilen euch. Das Gericht und das Volk."