Chile: Die Kriminalisierung des sozialen Widerstands

Vor einer Woche rief Präsident Sebastian Piñera den Notstand aus und verhängte in einigen Städten eine Ausgangssperre. Das Land sei im Krieg, so der Präsident

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Demonstrant  in Chile: "Soldat, schieß nicht auf das Volk"
Demonstrant in Chile: "Soldat, schieß nicht auf das Volk"

"Estamos en guerra contra un enemigo poderoso" – "Wir sind im Krieg gegen einen mächtigen Feind".

Der Notstand ist ausgerufen. Ausgangssperren werden verhängt.

Cacerolazos 1 ‒ Der soziale Widerstand bleibt aufrecht.

Militärs mit Maschinengewehren bewaffnet.

Es fallen Schüsse auf Demonstranten.

Nächtliche "Festnahmen" durch Polizisten in Zivil.

Folterpraktiken in Polizeirevieren.

Menschen, deren Aufenthaltsort unklar ist. ¿Dónde están?

Panzer, Tränengas.

Wut! Angst.

Bilder und Worte, die uns zurückwerfen in die Zeit der Militärdiktatur unter Diktator Augusto Pinochet (1973-1990). Doch diese Beschreibungen sind heute erneut Realität in Chile.

Laut dem Nationalen Menschenrechtsinstitut kam es im Lauf der Proteste bisher zu 2.686 Festnahmen, darunter auch Kinder, 584 Menschen wurden verletzt, 5 Menschen starben durch staatliche Gewalt (Stand 24.10.2019, 14.00 Uhr ). Auch liegen dem Institut Anzeigen wegen Entblößungen und sexualisierter Gewalt und deren Androhung gegenüber Frauen, wegen körperlicher und psychischer Gewalt, Folter und sexueller Belästigung seitens staatlicher Akteure vor.

Kriminalisierung der sozialen Proteste

Vor einer Woche rief Chiles Präsident Piñera den Notstand aus und verhängte in einigen Städten eine Ausgangssperre. Das Land sei im Krieg, so der Präsident.

Bei den Protesten geht es um weit mehr als die Erhöhung der Metro-Fahrkartenpreise. Es ist die Prekarisierung des Lebens in einem neokapitalistischen und neokolonialen System, das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte beschneidet und Rechte privatisiert. Doch was die konventionellen Medien zeigen, ist ein anderes Bild. Nichts ist zu sehen von Polizisten, die Supermärkte und Banken in Flammen aufgehen lassen. Keine Berichterstattung in traditionellen Medien über den Exzess von Staatsgewalt, der bereits zu Toten geführt hat. Stattdessen werden Schlangen vor Supermärkten gezeigt, Plünderungen und Nachbarn, die ihre Häuser verteidigen. Eine Informationsblockade, die den Einsatz von Gewalt auf staatlicher Seite legitimieren soll?

Doch was sind die Beobachtungen vor Ort? Was zeigen Menschen über soziale Netzwerke, was die unabhängige Presse?

In Temuco, Wallmapu, ein Territorium, das konstanter Militarisierung ausgesetzt ist und in dem staatliche Gewalt gegenüber den indigenen Mapuche-Gemeinden tagtäglich stattfindet, wird von einer deutlichen Zunahme der Gewalt berichtet. "Gestern Nacht, sehr spät, sind die Militärs in unser Viertel eingedrungen, um zu unterdrücken, und nahmen willkürlich Menschen mit, die ihnen über den Weg liefen”, informiert eine Mapuche-Aktivistin über die Situation in Temuko.

Die Kriminalisierung des sozialen Widerstandes ist eine Praxis, die in Wallmapu zum gängigen Repertoire staatlicher Gewalt gehört: die "Operación Huracán"2, die Installation des Militärkommandos "Jungla" und im Zuge dessen die Ermordung des Mapuche-Aktivisten Camilo Catrillanca, der politische Mord an der Mapuche-Aktivistin Macarena Valdés.

Der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte indigener Völker, James Anaya, bereiste Chile im Jahr 2009, um Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, und berichtete vom exzessiven Gebrauch von Schusswaffen und Tränengas sowie körperlicher Gewalt und Beleidigungen seitens der Polizei gegenüber Mapuche3. In der Region Araukarien wird seit Jahren das Antiterrorgesetz (Ley No. 18314) auf die Mapuche-Bevölkerung angewandt. So finden in diesem Zuge regelmäßig widerrechtliche Hausdurchsuchungen statt, Tränengasangriffe auf Mapuche-Schulen und die Verfolgung und Einschüchterung von Aktivisten durch die ständige Präsenz von militarisierten Spezialeinheiten. Und dennoch gehen die Menschen, Chilenen und Mapuche, in Wallmapu auf die Straßen, feministische Anwältinnen stellen sich in den Dienst der Zivilbevölkerung, das Regionale Menschenrechtsinstitut ist in den Polizeirevieren anwesend, denn nur ihre Anwälte dürfen die Inhaftierten sprechen.

"El fantasma de la dictadura volvió con todo"

LKW-Fahrer informierten am Dienstag, den 22.Oktober, dass große (trans)nationale Supermarktketten die gelieferte Ware nicht annehmen. Darunter Wallmart und das von dem in Kassel geborenen Horst Paulmann Kemna gegründete Unternehmen Cencosud. Dem Unternehmer wird eine Verbindung zu der Folterstätte Colonia Dignidad vorgeworfen, in der im Dienste der Pinochet-Diktatur Oppositionelle gefoltert und ermordet wurden und das ebenso ein Ort systematischer sexualisierter Gewalt an Kindern war. Zu Beginn der derzeit stattfindenden sozialen Proteste traf sich Präsident Piñera mit den Besitzern der großen Supermarktketten. Eine weitere politische Inszenierung, in diesem Fall von Lebensmittelknappheit, um die Bevölkerung zu spalten?

Weltweit finden Solidaritätskundgebungen mit den sozialen Bewegungen Chiles und den indigenen Völkern statt. Medien berichten auch in Deutschland, mal mehr mal weniger differenziert, über die Geschehnisse. "El fantasma de la dictadura volvió con todo", so der Wortlaut einer feministischen Aktivistin aus Temuko. Der Geist der Diktatur sei zurück ‒ mit allem.

Ja, das macht Angst.

Die unverhältnismäßigen und gewaltvollen Maßnahmen von Staatsseite, die Einschränkungen von Grundfreiheiten, die Inszenierungen und Manipulation unabhängiger Berichterstattung sind entschieden abzulehnen und öffentlich zu verurteilen, auch von Akteuren in Deutschland. Die Menschen vor Ort bitten um die Verbreitung dessen, was sie erleben, denn auch die virtuelle Meinungsfreiheit sieht sich eingeschränkt: Videos, die von der Zivilbevölkerung in sozialen Medien verbreitet werden und das repressive Vorgehen staatlicher Akteure zeigen, verschwinden aus dem Netz.

Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger zu berichten, was Menschen vor Ort erleben, wie sie die Situation einschätzen. Sie fordern die internationale Berichterstattung auf, über das repressive und menschenrechtsverletzende Vorgehen des chilenischen Staates zu informieren, um die Informationssperre aufzubrechen und internationalen Druck auszuüben.

Verena del Carmen Koch Santibáñez ist Enkelin von politisch Geflüchteten aus Chile und Tochter einer Exil-Chilenin; feministische Aktivistin und Sozialarbeiterin. 1991 in Deutschland geboren, lebte sie viele Jahre in Chile, unter anderem in Temuko, wo sie im Observatorio Regional de Equidad en Salud según Género y Pueblo Mapuche (Regionale Beobachtungsstelle zur Gleichstellung im Gesundheitssektor gemäß Gender und Mapuche) der Universidad de La Frontera arbeitete und ein Masterstudium in Gemeinwesenpsychologie (Psicología comunitaria) absolvierte. Seit 2019 befindet sie sich wieder in Deutschland.