Bundesregierung ignoriert Menschenrechtsverletzungen in Brasilien

Linksfraktion stellt "Kleine Anfrage" zur Lage der Menschenrechte in Brasilien. Bundesregierung liegen "keine Erkenntnisse" vor

46825975055_9cf66c6007_c.jpg

Brasiliens rechter Präsident, Jair Bolsonaro, und der deutsche Außenminister, Heiko Maas, im April 2019. Damals wie heute sind Menschenrechte kein Thema
Brasiliens rechter Präsident, Jair Bolsonaro, und der deutsche Außenminister, Heiko Maas, im April 2019. Damals wie heute sind Menschenrechte kein Thema

Berlin/Brasília. In den deutsch-brasilianischen Beziehungen ignoriert die Bundesregierung offenbar Menschenrechtsverletzungen in dem südamerikanischen Land, um das Handelsabkommen Europäische Union ‒ Mercosur nicht zu gefährden. Mit Kritik am rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro hält sie sich hingegen merklich zurück. Dies wird aus der Antwort der Bundesregierung vom 2. Oktober auf eine "Kleine Anfrage" der Linksfraktion deutlich.

Mehrere Abgeordnete der Partei Die Linke hatten sich bei der Regierung erkundigt, welche Kenntnisse ihr bezüglich Menschenrechtsverletzungen allgemein sowie durch die Bolsonaro-Regierung seit Beginn der Corona-Krise vorliegen. Ferner fragten sie, wie die Bundesregierung die Gesundheitspolitik bewerte und welche Schritte sie unternommen habe, sich für Indigene und ökonomisch benachteiligte Bevölkerungsgruppen einzusetzen, die durch die Pandemie besonders gefährdet sind.

Der Bundesregierung liegen demnach "keine Erkenntnisse" bezüglich der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen während der Corona-Krise vor. Diese Einschätzung mag angesichts zahlreicher Nachrichten über die Missachtung des Schutzes und ungesühnter Übergriffe auf Indigene durch Holzfäller oder die schwarze und arme Bevölkerung durch Sicherheitsbehörden verwundern. So führte die Polizei ihre Operationen in den Favelas in Corona-Zeiten fort, obwohl diese vom Obersten Bundesgericht (STF) wegen der Pandemie untersagt wurden. In der Folge stieg die Zahl der Opfer tödlicher Polizeigewalt in den Armenvierteln etwa von Rio de Janeiro im April um 43 Prozent gegenüber dem Vorjahreswert. Davon waren 80 Prozent Schwarze, berichtete die Deutsche Welle Anfang Juni.

Zudem hatte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für Giftstoffe und Menschenrechte, Baskut Tuncak, erst Anfang September dem UN-Menschenrechtsrat empfohlen, eine unabhängige, internationale "Untersuchung der aktuellen Menschenrechtssituation in Brasilien mit besonderem Schwerpunkt auf Umwelt, öffentliche Gesundheit, Arbeiterrechte und Menschenrechtsverteidiger" einzuleiten. Die Regierung Bolsonaro billige Rodungen, komme ihrem Schutzauftrag für Indigene und Umweltschützer nicht nach und nehme bei der Corona-Pandemie Opfer in Kauf, heißt es im UN-Bericht.

Das deutsche Außenministerium scheint diesen Bericht mit Desinteresse quittiert zu haben. Entsprechend attestierte der menschenrechtspolitische Sprecher der Linksfraktion, Michel Brandt, der Bundesregierung eine "Gleichgültigkeit gegenüber der Menschenrechtslage in Brasilien".

Einzig die illegalen Rodungen in Amazonien betrachtet Berlin "mit großer Sorge", wie aus der Antwort der Regierung hervorgeht. Dazu stehe sie mit den zuständigen Ministerien und Behörden in einem "engen und kontinuierlichen politischen Dialog".

Unkritisch zeigt sich Berlin indes bezüglich der Gesundheitspolitik der Regierung Bolsonaro. Es ist weithin bekannt, dass Brasiliens Staatsoberhaupt das Virus bis heute verharmlost, sich weigerte, Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung durchzuführen und bundesstaatliche und kommunale Auflagen wie Kontaktbeschränkungen torpedierte. Kritiker werfen ihm vor, erheblich dazu beigetragen zu haben, dass sich bereits über fünf Millionen Brasilianer mit Corona infizierten und mehr als 150.000 Personen an den Folgen des Virus gestorben sind.

Jüngst wies eine Studie einen Zusammenhang zwischen hohen Infektions-Raten in Kommunen und hohen Zustimmungswerten Bolsonaros nach. Häufig folgen seine Anhänger der Rhetorik des Präsidenten und verstoßen bewusst gegen die lokal verhängten Corona-Regeln. Die Studie sprach gar vom "Bolsonaro-Effekt".

Ungeachtet dessen kommt die Bundesregierung zur Einschätzung, dass "die brasilianische Regierung im Laufe der Covid-19-Krise Maßnahmen ergriffen hat, um das öffentliche Gesundheitssystem besser zur Bekämpfung der Pandemie aufzustellen und hinreichend auszustatten."

Die Verharmlosung der Lage in Brasilien durch die deutsche Regierung folge einem Kalkül: "Statt Menschenrechtsverletzungen durch die Bolsonaro-Regierung zu bekämpfen und die erheblichen sozialen und gesundheitlichen Folgen durch Corona auf die brasilianische Bevölkerung klar zu benennen, hält die Bundesregierung lieber an ökonomischen Interessen fest", so der Linken-Politiker Brandt. Gehe es um den Schutz der Interessen der deutschen Automobil-, Chemie- und Fleischindustrie, stelle sie die Umwelt- und Menschenrechtsfragen an zweite Stelle. Denn mit ebenso "großer Sorge", wie die Regierung die Rodungen betrachte, verfolge sie die zunehmende Ablehnung der europäischen Partner gegenüber dem EU-Mercosur-Abkommen.

Als im Juni die Corona-Pandemie in Lateinamerika besonders stark wütete, mahnte Außenminister Heiko Maas gegenüber den 26 lateinamerikanischen und karibischen Amtskollegen verstärkte Wirtschaftsbeziehungen und die schnelle Umsetzung des EU-Mercosur-Abkommen an. Angesichts der coronabedingten Wirtschaftskrise sei gerade dieses Handelsabkommen "ein ganz wichtiges Element", sie zu überwinden, so Maas.

Die Antwort der Bundesregierung zeige, dass sie sich mit Kritik an Menschenrechtsverletzungen zurückhalte, sobald wesentliche wirtschaftliche Interessen betroffen seien. "Natürlich kann Maas nicht öffentlich zugeben, dass es um den Schutz von Absatzmärkten geht". Stattdessen ziehe er es vor, sein duldsames Vorgehen mit dem Vorwand eines notwendigen Dialogs zu rechtfertigen, so die entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Helin Evrim Sommer, gegenüber amerika21. Bereits während des Staatsbesuches von Maas im April 2019 sei das Thema Menschenrechtsschutz entgegen großer Ankündigung im Vorfeld in der gemeinsamen Abschlusserklärung nur am Rande aufgetaucht, kritisiert Sommer.