Wahlen in Chile: Das Ende der neoliberalen Verfassung

Chilen:innen bestimmen Mitglieder einer verfassunggebenden Versammlung. Gleichzeitig finden Kommunal- und Regionalwahlen statt. Zwei Wahltage wegen Corona-Sicherheitsmaßnahmen angesetzt

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Wahllokal
Stimmabgabe in der Gemeinde Independencia in der Hauptstadtregion

Santiago. Geschlossene Läden und ein geschäftiges Treiben haben das Straßenbild in Chiles Hauptstadt Santiago und im ganzen Land am Samstag geprägt. Überall gingen die Menschen zu den eingerichteten Wahllokalen. Der Geschichtslehrer Marco Lagos ist einer von ihnen, er sagt gegenüber amerika21: "Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, Menschen wählen zu können, die mich auch wirklich repräsentieren".

Am 15. und 16. Mai wählen die Chilen:innen die Mitglieder für eine verfassunggebende Versammlung und halten gleichzeitig Kommunal- und Regionalwahlen ab. Die Auswahl an Kandidat:innen ist enorm, alleine für den Verfassungskonvent treten 1.374 an. Insgesamt sind fast 15 Millionen Menschen wahlberechtigt, wobei die effektive Anzahl etwas kleiner ist, da etwa Gefängnisinsassen faktisch von der Wahl ausgeschlossen sind. Zudem tauchen zum Teil noch Ermordete aus der Militärdiktatur, sogenannte Detenidos Desaparecidos (Verschwundene Verhaftete), in den Wahllisten auf. Am ersten Tag wählten um die 20 Prozent der Wahlberechtigten. Vor manchen Lokalen entstanden lange Schlangen.

Es wird erwartet, dass am Sonntag eine weitaus größere Anzahl an Menschen wählen geht. "Manche vertrauen nicht darauf, dass über Nacht die Urnen in Sicherheit sind", meint Aurora González gegenüber amerika21. Zum ersten Mal findet die Wahl über mehrere Tage statt, dadurch sollen Ansteckungen verhindert und die Beteiligung erhöht werden. Da das Militär für die Sicherheit verantwortlich ist, haben viele Wähler:innen ein mulmiges Gefühl. Die Wahlbehörde Servel hat verschiedene Maßnahmen angekündigt, die eine Manipulation der Stimmen verunmöglichen sollen. Schließlich sind die Wahlen entscheidend, um Chile eine gewisse Regierbarkeit zurückzugeben. Seit Beginn der Protestwelle von Oktober 2019 steckt das Land in einer tiefen politischen Krise. Soziale Bewegungen hoffen nun über die Lokal- und Regionalregierungen sowie über die verfassunggebende Versammlung ihre Forderungen von der Straße in die Politik zu bringen und in die Tat umzusetzen.

Auf kommunaler und regionaler Ebene treten in verschiedenen Regionen Kandidat:innen von linken Parteien und sozialen Bewegungen an. Teilweise haben diese eine reale Chance gewählt zu werden. In der Region von Valparaíso stellt die Umweltbewegung Modatima den Aktivisten Rodrigo Mundaca als Regionalgouverneur auf. Er gilt neben dem Mitte-links-Kandidaten Aldo Valle als einer der Favoriten für das Amt und erlangte durch den Kampf gegen die Wasserprivatisierung und den Avocado-Anbau weltweite Bekanntheit.

In der Santiagoer Gemeinde San Miguel tritt die Basisorganisation La Minga mit einem eigenen Bürgermeisterkandidaten an. Im Gespräch mit amerika21 sagt der Kandidat Danilo Panes: "Nach sechs Jahren der politischen Arbeit auf lokaler Ebene, mit kulturellen Aktivitäten, den Kampf um Sozialwohnungen und solidarischen Aktionen, haben wir beschlossen diesen Weg zu gehen".

Den Basisorganisationen geht es darum, den Wandel, der durch den verfassunggebenden Prozess vorangetrieben wird, auf lokaler Ebene fortzusetzen. "Unsere Aufgabe ist es, die lokale Verwaltung zu übernehmen, um von hier aus den gesellschaftlichen und politischen Transformationsprozess voranzutreiben", erklärt Panes. Unabhängig vom Ergebnis liegt das Ziel von La Minga darin, ihre politischen Ideen zu verbreiten, um die kommenden vier Jahre maßgebend zu prägen.

Die verfassunggebende Versammlung ist der bislang einzige sichtbare Erfolg der Revolte von 2019. Zum ersten Mal weltweit wird ein genderparitärer Verfassungskonvent mit 17 reservierten Plätzen für Indigene eine neue Verfassung schreiben. Ziel der linken Parteien und Bewegungen ist es, das neoliberale Erbe der Militärdiktatur hinter sich zu lassen und soziale Grundrechte in der Konstitution zu verankern.

Die Wahl findet nicht ohne Kritik statt. Das Abkommen für den verfassunggebenden Prozess wurde am 15. November 2019, nach einem Monat der Proteste und einer brutalen Repression zwischen den rechten und Mitte-links Parteien vereinbart. Es rettete die Position des Präsidenten Sebastián Piñera, der trotz der Menschenrechtsverletzungen bis heute weiter regiert. Zudem sieht es vor, dass alle Artikel mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen werden müssen. Kritiker:innen befürchten, dass die rechten Parteien mit einem knappen Drittel der Sitze den Prozess maßgeblich beeinflussen können.

Am Sonntag um 18 Uhr werden die Urnen geschlossen. Die Wahlbehörde Servel rechnet mit etwa acht Stunden, um alle Stimmen auszuzählen. Das Endergebnis wird vermutlich in der späten Nacht feststehen.