Argentinischer Diktaturverbrecher im Fokus der deutschen Justiz: Bewegung im Fall Kyburg?

Hausdurchsuchung in Berlin. Nebenkläger und NGO erwarten Anklage wegen Mordes vor deutschem Gericht

protestaktion_gegen_kyburg_in_berlin_2020.jpg

Mit Namen und Bildern von Verschwundenen: H.I.J.O.S.-Protestaktion vor dem Wohnhaus von Kyburg im Winsviertel des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg.
Mit Namen und Bildern von Verschwundenen: H.I.J.O.S.-Protestaktion vor dem Wohnhaus von Kyburg im Winsviertel des Berliner Bezirks Prenzlauer Berg.

Berlin/Mar del Plata. Das deutsche Bundeskriminalamt und die Generalstaatsanwaltschaft Berlin haben eine Hausdurchsuchung in der Wohnung von Luis Esteban Kyburg durchgeführt. Der gebürtige Argentinier mit deutscher Staatsbürgerschaft wird mit Verbrechen gegen die Menschheit und dem Verschwindenlassen von Regimegegnern während der zivil-militärischen Diktatur in Argentinien (1976-1983) in Verbindung gebracht. Er soll bereits seit 2012 in Berlin leben.

Konkret werden ihm laut Generalstaatsanwaltschaft "Entführung, Folterung und Ermordung von mindestens 15 namentlich bekannten jungen Frauen und Männern" vorgeworfen. Dies verlautbarte die Behörde in einer Pressemitteilung.

In den vergangenen Jahren wertete die Staatsanwaltschaft Aktenmaterial aus Argentinien aus und befragte gemeinsam mit den argentinischen Strafverfolgungsbehörden und dem Bundeskriminalamt eine Vielzahl von Zeugen. Daraus geht hervor, dass Kyburg in den Jahren 1976 und 1977 Marineoffizier am Stützpunkt "Base Naval" in Mar del Plata war.

In den ersten beiden Jahren der Diktatur betrieb die Marine dort ein geheimes Folter- und Vernichtungszentrum zur Verfolgung von Regimegegnern. Von dort planten die Militärs die Entführung und Ermordung von mindestens 152 Menschen ebenso wie den Raub von Neugeborenen. Kyburg war Zweiter Kommandant der Kampfschwimmereinheit Agrupación Buzos Tácticos UT 612. Zusätzlich fungierte er als Leiter der Abteilung für Personal, Operationen, Navigation, Kommunikation, Abwehr nachrichtendienstlicher Tätigkeiten, Öffentlichkeitsarbeit und Logistik. Laut der bisherigen Untersuchungsergebnisse soll er in diesen Funktionen maßgeblich an den begangenen Gewaltdelikten beteiligt gewesen.

Vorläufig wurde keine Untersuchungshaft gegen Kyburg verhängt.

Der deutsche Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck vom Europäischen Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (European Center for Constitutional and Human Rights, ECCHR) betonte, die Hausdurchsuchung sei zweifellos ein wichtiger Schritt nach vorne: "Wir erwarten jedoch, dass die Staatsanwaltschaft die Entscheidung trifft, Kyburg offiziell des Mordes anzuklagen. Das ist, was uns wichtig ist und dafür kämpfen wir."

Kaleck vertritt in dem Fall die Nebenkläger Anahí Marocchi und Fabián Hallgarten, Geschwister von Oma Marocchi bzw. Fernando Hallgarten, die beide in der Base Naval gefangen gehalten und danach nie wieder gesehen wurden. Von den Hunderten Gewaltdelikten, die Kyburg insgesamt zur Last gelegt werden, können in Deutschland nur jene juristisch verfolgt werden, die in Mord kulminierten. Alle anderen Vergehen unterliegen der Verjährung. "Eines ist aber klar: Die Staatsanwaltschaft ermittelt schon seit Jahren sehr ernsthaft", so Kaleck.

Seit dem Jahr 2010 wurden in Argentinien mehrere Gerichtsprozesse gegen Verantwortliche für die in der Base Naval in Mar del Plata begangenen Verbrechen geführt. In den Jahren 2010 bis 2020 kam es zu insgesamt 63 Schuldsprüchen. 47 Personen wurden zu lebenslangen, weitere 16 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

2012 wurde auch Luis Kyburg erstmals zur gerichtlichen Einvernahme zitiert, zu der er jedoch nicht erschien. Im Jahr darauf beantragte die argentinische Justiz einen internationalen Haftbefehlt gegen ihn. Kyburg hatte sich jedoch längst über Uruguay und die USA nach Deutschland abgesetzt und sich in Berlin niedergelassen. Zuvor hatte er als Nachkomme deutscher Auswanderer die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt und bewilligt bekommen. 2015 bewahrte ihn diese vor der Auslieferung an Argentinien. Seither wird versucht, Kyburg in Deutschland juristisch zur Verantwortung zu ziehen.

In Argentinien wird Kyburg wegen Verschwörung, Mordes, unrechtmäßiger Freiheitsberaubung, Folter und gewaltsamen Verschwindenlassens – das in der argentinischen Rechtsprechung den gleichen Status hat wie Mord – angeklagt. 88 Fälle werden direkt auf Kyburg zurückgeführt, darunter die der zwei schwangeren Frauen und ihrer Partner, die am 18. September 1976 entführt wurden: Delia Elena Garaguso mit Tristán Omar Roldán und Susana Valor mit Omar Marochi. Alle gelten bis heute als verschwunden, die Identität der Kinder der beiden Paare ist bisher nicht geklärt.

Der Aufenthalt Kyburgs in Berlin wurde erstmals durch den deutsch-argentinischen Journalisten Toni Hervida bekannt gemacht. 2022 protestierten Menschenrechtsgruppen zum Jahrestag des Militärputsches am 24. März erneut vor Kyburgs Wohnsitz (amerika21 berichtete). Organisiert wurde die Aktion von H.I.J.O.S., einem vor 28 Jahren entstandenen Zusammenschluss von Söhnen und Töchtern von Opfern der Diktatur in Argentinien.

Auf Nachfrage eines Reporters, der ihn im Juli 2020 auf der Straße mit den Vorwürfen konfrontierte, sagte Kyburg, er werde sich der Justiz in Deutschland nicht entziehen und "warte ruhig", was da komme.

Offenbar setzt der 75-Jährige darauf, dass Deutschland "ein sicherer Hafen" für Diktaturverbrecher ist. Denn Kyburg ist kein Einzelfall. Der in Chile wegen mehrfachen Mordes und Verschwindenlassens während der Diktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990) rechtskräftig verurteilte deutsch-chilenische Ex-Offizier Walther Klug Rivera lebte vier Jahre lang unbehelligt im Rheinland, bis er bei einem Italien-Urlaub verhaftet und nach Chile ausgeliefert wurde. Strafrechtliche Schritte zur Aufklärung von Verbrechen in der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad im Süden Chiles, in der Oppositionelle gefoltert und ermordet wurden, verliefen in Deutschland stets im Sande. Unter anderem wurden die Ermittlungen gegen den ehemaligen Sektenarzt Hartmut Hopp, der in Krefeld lebt und als Verbindungsmann zum chilenischen Geheimdienst galt, 2019 eingestellt.