Die aggressive Dekadenz der Oligarchie in Kolumbien

Das Regierungssystem in seiner tiefen Krise ist auf Bürgerkrieg im Land und einen Söldnerkrieg gegen Venezuela aus, sagt Ex-Farc-Guerillero Pablo Nariño

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Für die Elite in Kolumbien stellt das Volk einen "innerer Feind" dar
Für die Elite in Kolumbien stellt das Volk einen "innerer Feind" dar

Dieser Beitrag stammt von Mitte April, also vor dem Generalstreik und den massiven Protesten, die Kolumbien seit zehn Tagen erschüttern

Die Regierung des Centro Democrático1 regiert mit Gewalt. Die Unterstützung der Bevölkerung, nicht nur für Präsident Iván Duque, sondern für das kolumbianische Regierungssystem insgesamt, sinkt in schwindelerregendem Tempo; es hält sich nur mittels der Repression durch staatliche Sicherheitsorgane aufrecht, die jeden noch so kleinen Anflug von Rebellion oder die gerechten Proteste gegen ein extrem ungerechtes System mit aller Härte abstrafen.

Dies geschieht auch mittels des Propagandaapparates, der darauf spezialisiert ist, Informationen zu verschweigen oder zu verzerren ‒ je nach den Interessen seiner Besitzer, die selbst die gewalttätigen Enteigner der Ressourcen des Landes sind. Diese Massenmedien, das heißt die der Unternehmerfamilien Angulo, Santo Domingo und Lülle, reproduzieren in jeder Form die Drohungen gegen all diejenigen, die sich entscheiden, eine rebellische Haltung einzunehmen.

Die Justiz wiederum existiert nur unter der Bedingung, dass sie gemäß Klasseninteressen funktioniert. Deshalb wird jemand, der aus Hunger in einem Supermarkt stiehlt, zu jahrelanger Haft verurteilt, während "angesehene" Magnaten, korrupte Politiker, Parapolitiker und Mitglieder des bewaffneten Staatsapparats trotz ihrer reichlichen Vorstrafen auf freiem Fuß bleiben.

Die Regierung Duque regiert mit Gewalt; sie setzt eine offene Verbotspolitik gegen das freie Denken ein, indem sie faktisch eine offizielle Geschichtsschreibung durchsetzt und Lehrkräfte, Studentinnen und Studenten tagtäglich einschüchtert, in der Annahme, damit der Ausbreitung der mehr als berechtigten Unzufriedenheit des Volkes Einhalt zu gebieten.

Um die rasante Übertragung der Ressourcen der Kolumbianerinnen und Kolumbianer an die neoliberale Plutokratie des Landes sicherzustellen, verhängt die Regierung wirtschaftliche Maßnahmen gegen die Bürger, die eine soziale Explosion oder eine Volkserhebung im Land unvermeidlich machen. Natürlich wird sie sich in diesem Szenario auf die Verfassung berufen, nicht um die darin festgeschriebenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechte zu garantieren, sondern um auf den Artikel 213 über "den Zustand des inneren Aufruhrs" zurückzugreifen. Für die Wirtschaftselite und ihre politische Klasse stellt das Volk jetzt schon einen "innerer Feind" dar. In jedem Fall wird ein mögliches "Dekret zum inneren Aufruhr", das die Rechte und die Ultrarechte im präsidialen Ärmel haben, sicherlich eine starke Welle der sozialen Ablehnung und des zivilen Ungehorsams mit sich bringen.

Als ob das nicht genug wäre, wird auch die Eskalation der vermittels Kolumbien gegen Venezuela geführten US-Kriegsspiele, die ein weiterer Bestandteil der aktuellen Kriegsoffensive des Weißen Hauses gegen die Welt sind, sehr ernst und gefährlich. Die Provokationen durch das Eindringen von Narco-Paramilitärs aus Kolumbien, die Ausbildung und Aufstellung von Söldnerkommandos auf nationalem Territorium, gehen in Richtung von Bemühungen, die Regierung Venezuelas zu stürzen und eine neoliberale, selbsternannte "Interimsregierung" Venezuelas durchzusetzen, die – wenn auch kurioserweise außerhalb dieses Landes – bereits über eine Botschaft verfügt, die von Einrichtungen der US-Vertretung in Bogotá aus operiert.

Es ist offensichtlich kein Zufall, dass, während die Ablehnung gegenüber Iván Duque in Kolumbien zunimmt und das Land vor einer beispiellosen sozialen und wirtschaftlichen Krise steht, der Kauf von 24 F-16-Kampfjets im Wert von 4,5 Milliarden US-Dollar angekündigt wird. Und während Indepaz2 in einer Studie, die im April mit direkten Informationen von sozialen und Menschenrechtsorganisationen in ganz Kolumbien erstellt wurde, die Ermordung von 46 sozialen Anführern und Menschenrechtsverteidigern und von 14 Unterzeichnern des Friedensabkommens3 bestätigt, die allein in diesem Jahr ermordet wurden oder verschwunden sind, machen sich Duque, seine Minister, die Presse und die korrupten Institutionen Kolumbiens vor der Welt lächerlich, indem sie Nachbarländern Lektionen erteilen oder "Initiativen zur Verteidigung der Menschenrechte" ergreifen.

Zweifellos sollen die Angriffe auf staatliche Einrichtungen und Infrastruktur in Venezuela, wie die jüngste Attacke gegen die PDVSA-Gaspipeline im Bundesstaat Monagas, die venezolanische Wirtschaft schädigen, Terror verbreiten und die öffentlichen Dienstleistungen der Venezolaner beeinträchtigen; hinzu kommt das Konstrukt einer "humanitären Krise" an der Grenze, bei der von 5.000 Flüchtlingen in Arauca die Rede ist, die aus La Victoria im Bundesstaat Apure stammen, obwohl es dort laut aktuellen Statistken nur 3.574 Einwohner gibt. Mit all dem wird versucht, die Grenzregion zu destabilisieren und militärische, politische und humanitäre "Ereignisse" zu fabrizieren, die in eine passende diplomatische und mediale Vorlage münden, um eine Intervention von kolumbianischen militärischen und paramilitärischen Kräften herbeizuführen, koordiniert durch das Südkommando der USA4.

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Kolumbien verfügt über Streitkräfte, die, ausgehend von der Eindämmung des sogenannten inneren Feindes in Kolumbien, im Rahmen der Verteidigung der nationalen Sicherheit der USA ausgebildet wurden. Und alles scheint darauf hinzuweisen, dass sich das Land darauf vorbereitet, in den Dienst der Nato zu treten, um als Kraft für Sicherheit und "humanitäre" Unterstützung in der Region zu dienen; mit diesem Manöver kann Kolumbien Interventionen der USA und Englands auf dem Kontinent unterstützen.

Zum anderen ist der Paramilitarismus, der von der gesamten herrschenden Schicht Kolumbiens gezeugt und genährt wird, der "legitime Sohn des Staates", wie Salvatore Mancuso5 genau zwei Jahrzehnte nach dem Täuschungsmanöver von Ralito6 erklärt hat; und er fügte hinzu, dass General Iván Ramírez Quintero, einer der wichtigsten Männer des militärischen Geheimdienstes in Kolumbien, "mit Hilfe von Politikern und Mitgliedern der Armee die paramilitärischen Aktionen in Kolumbien ausgebaut hat".

Der Paramilitarismus, der den Interessen der Großgrundbesitzer, des Drogenhandels und des Schmuggels dient, ist heute auf dem Sprung hin zu einer transnationalen Söldnertruppe, die von der CIA eingesetzt wird, ähnlich wie der Daesh7 im Nahen Osten.

Auf diese Weise verbinden sich in diesem Fall die totalitären Interessen der USA für die globale Kontrolle der Ressourcen mittels der kriegerischen Pläne des Südkommandos mit den Ambitionen des kreolischen neoliberalen Faschismus, der an der Macht bleiben will, und mit den Gelüsten der kolumbianischen Oligarchie, die in ihrer aggressiven Dekadenz bereits die Brosamen dessen schmeckt, was sie sich durch die Plünderung der Reichtümer Venezuelas ersehnt.

Das kolumbianische Regierungssystem in seiner tiefen und weitreichenden Krise scheint die Absicht zu haben, uns in einen allgemeinen Bürgerkrieg im Land zu führen und zugleich in einen äußeren Söldnerkrieg gegen Venezuela.

Während die nationale Regierung den wegen Covid-19 ausgerufenen Ausnahmezustand nutzt, um ohne Hürden den Transfer von milliardenschweren "Subventionen" an die Banken zu beschleunigen, soll es neue Steuern für das Volk geben; ebenso sind ein äußerer Kriegszustand und/oder innere Unruhen geeignet, die Zerschlagung jeder Art von politischer Opposition anzuordnen. Vielleicht ist es das, worauf sich Präsident Duque in seiner Antrittsrede 2018 bezog: "Ich habe keine politischen Herausforderer".

In einem Land wie Kolumbien, in dem ausnahmslos alle verfassungsmäßigen Rechte von den verschiedenen Ebenen des neoliberalen Staates verletzt werden, bedeutet die Verkündung des "inneren Aufruhrs" oder eines äußeren Krieges, dass viele der Rechte ‒ die die Mehrheit sowieso nicht genießt ‒ vorübergehend außer Kraft gesetzt sind, aber diesmal auf offizielle Weise und "gemäß der Verfassung und der Gesetze".

Darién Giraldo Hernández alias Pablo Nariño, ehemaliges Farc-Mitglied, Wiedereingliederungszone Amaury Rodríguez. Soziologe und Schriftsteller. Geboren 1972 in Santiago de Chile, lebt seit 1977 in Kolumbien. Lehrer im Bereich der Volkspädagogik

  • 1. Die regierende ultrarechte Partei Centro Democrático wurde von Ex-Präsident Álvaro Uribe gegründet. Präsident Iván Duque gilt als sein Protegé
  • 2. Instituto de Estudios para el Desarrollo y la Paz, Institut für Entwicklungsstudien und Frieden
  • 3. Als "Unterzeichner des Friedensabkommens" werden alle ehemaligen Angehörigen der Farc-EP-Guerilla bezeichnet, die den 2016 mit der kolumbianischen Regierung geschlossenen Friedensvertrag unterstützen, demobilisiert sind und sich an den Wiedereingliederungsprogrammen in das Zivilleben beteiligen
  • 4. Das Südkommando der US-Streitkräfte (United States Southern Command, Southcom) ist verantwortlich für die Koordination und Führung aller militärischen Operationen der USA in Lateinamerika
  • 5. Salvatore Mancuso war eine führende Figur im Drogenhandel und in den paramilitärischen Strukturen von Kolumbien. 2008 wurde er wegen Drogenhandels an die USA ausgeliefert und machte Aussagen zu Allianzen zwischen Kongressabgeordneten und Paramilitärs sowie zu mehreren Massakern.
  • 6. Am 15. Juli 2003 unterzeichneten die kolumbianische Regierung und die paramilitärischen Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC) in Santa Fe de Ralito ein Abkommen, das zur vollständigen Demobilisierung der Paramilitärs bis Ende 2005 führen sollte.
  • 7. Abkürzung für "Islamischer Staat im Irak und in der Levante" bzw "Islamischer Staat im Irak und in Großsyrien"