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"Der kubanische Impfstoff ist nicht Folge eines Wunders, sondern einer politischen Entscheidung"

35 italienische Freiwillige nahmen an einer klinischen Studie zum Soberana-Impfstoff in Havanna teil. Ein Bericht

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Schon kurz nach Ausbruch Corona-Pandemie begannen die biotechnologischen Forschungsinstitute Kubas mit der Entwicklung eigener Impfstoffe
Schon kurz nach Ausbruch Corona-Pandemie begannen die biotechnologischen Forschungsinstitute Kubas mit der Entwicklung eigener Impfstoffe

"Kennt ihr den Unterschied zwischen unserem Soberana-Impfstoff und dem Pfizer-Impfstoff?" Mit dieser Frage begrüßte der Generaldirektor des kubanischen Finlay-Instituts für Impfstoffe, Dr. Vicente Vérez Bencomo, die italienische Delegation, deren Teil ich war. Die Delegation wurde für die klinische Studie SoberanaPlusTurin in La Pradera einquartiert, dem im November 1996 eingeweihten internationalen Gesundheitszentrum in Havanna.

SoberanaPlusTurin ist der Name der klinischen Beobachtungsstudie mit 35 Freiwilligen aus Italien, die zuvor in Europa entweder geimpft wurden oder von Corona genesen sind und zur Auffrischung eine Einzeldosis des kubanischen Impfstoffs SoberanaPlus erhalten haben. SoberanaPlus wurde im Sommer 2021 von der kubanischen Aufsichtsbehörde CECMED (Centro para el Control Estatal de Medicamentos, Equipos y Dispositivos Médicos) genehmigt, die Beobachtungsstudie will dessen Reaktogenität und Immunogenität1 bei erwachsenen Proband:innen evaluieren, denen zuvor ein in Europa zugelassener Impfstoff (Johnson&Johnson, AstraZeneca, BioNTech/Pfizer oder Moderna) verabreicht wurde.

Diese klinische Studie ist die erste dieser Art auf der Karibikinsel. Sie ist das Ergebnis einer intensiven internationalen Zusammenarbeit von Wissenschaftler:innen im Zusammenhang mit der aktuellen Covid-19-Pandemie, vor allem zwischen dem kubanischen Impfinstitut Finlay, dem Krankenhaus Amedeo Di Savoia in Turin und der italienischen Agentur für kulturellen und wirtschaftlichen Austausch mit Kuba (AICEC).

Ein Impfstoff für die Menschen

Die Frage nach dem Unterschied zwischen BioNTech/Pfizer und Soberana beantwortete Dr. Vicente Vérez Bencomo dann gleich selbst: "Pfizer hat ein Produkt entwickelt, um es an Regierungen zu verkaufen und Profite zu erzielen. Der Nebeneffekt davon war, dass die Bevölkerungen dieser Länder teilweise vor dem Coronavirus geschützt waren. In Kuba hingegen verfolgten wir das Ziel, einen Impfstoff zu entwickeln, der in erster Linie die Bevölkerung schützen soll. Bisher waren wir erfolgreich damit. Sollten wir dank des Impfstoffes bescheidene Einkünfte erzielen können, wären wir natürlich froh, diese direkt in neue öffentliche Forschung zu investieren."

Das kubanische Impfstoffprogramm befindet sich in öffentlicher Hand, ist das Resultat einer Kooperation zwischen den biotechnologischen Forschungsinstituten des Landes und zwecks Förderung des Allgemeinwohls verwaltet. Diese politische Strategie zahlt sich tatsächlich aus, dafür sprechen auch die Zahlen der kubanischen Impfkampage.

Auch ohne vorherrschende Impfpflicht haben bis Ende November 2021 knapp 10,2 Millionen Kubaner:innen mindestens eine Impf-Dosis erhalten (praktisch 100 Prozent der impfbaren Bevölkerung); davon haben über 9,2 Millionen die zweite Dosis und 8,7 Millionen Kubaner:innen (78 Prozent) die dritte Dosis Soberana erhalten. Insgesamt haben 82,1 Prozent der gesamten kubanischen Bevölkerung (9,18 Millionen Menschen) das ganze Impfschema abgeschlossen (zwei Dosen Soberana02 und eine Dosis SoberanaPlus oder drei Dosen Abdala, welcher auch ein kubanischer Impfstoff ist). Fast alle Impfungen wurden mit kubanischem Impfstoff vorgenommen, nur ein Bruchteil mit dem chinesischen Sinovac-Impfstoff.

Dies ist nicht nur eine geradezu beispiellos höhere Impfquote im Vergleich mit anderen einkommensschwachen Ländern weltweit, in denen durchschnittlich nur 2,8 Prozent der Bevölkerung geimpft ist. Es ist auch eine höhere Impfquote im Vergleich zu allen entwickelten Ländern des globalen Nordens. Und Kuba hat auch schon mit der Auffrischungsimpfung begonnen: Ende November hatten über 311.000 Personen eine vierte Impfung erhalten. Wie wissenschaftlichen Studien zeigen, weist dieses kubanische Impfschema eine Schutzwirkung von 92,4 Prozent auf.

Bereits kurz nach Ausbruch der globalen Pandemie begannen sich die kubanischen biotechnologischen Forschungsinstitute auf die Entwicklung und Herstellung eigener Impfstoffe zu konzentrieren. Die Insel blieb zwar im Jahr 2020 noch von schweren gesundheitlichen Konsequenzen der Pandemie verschont, umso stärker traf Kuba jedoch die Welle im Sommer 2021. Die Neuansteckungen erhöhten sich von ingesamt 15.536 im Monat Januar 2021 auf 265.121 im August 2021; auch die Todeszahlen nahmen rasant zu.

Der Impfstoff allein reichte nicht aus, um das Virus unter Kontrolle zu bringen. Strenge Eindämmungsmaßnahmen – das Tragen von Masken auch im Freien –, das strikte Einhalten von Abstandsregeln und ein radikaler Lockdown bis zum 15. November 2021 waren notwendig, um die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu bringen. Infolgedessen verzeichnete Kuba in der vergangenen Woche nur einen Todesfall im Zusammenhang mit Covid-19 und eine PCR-Testpositivitätsrate von unter einem Prozent (sprich nur einer von Hundert PCR-Tests weist eine Coronavirus-Infektion aus). Noch heute werden trotz niedrigen Zahlen auf der ganzen Insel die Regeln zur Minimierung der Übertragung des Virus respektiert.

Was genau ist Soberana?

SoberanaPlus ist für Menschen gedacht, die entweder genesen sind oder bereits einen anderen Impfstoff gegen Sars-Cov-2 erhalten haben. Im Gegensatz zu BioNTech/Pfizer oder Moderna, die die mRNA-Technologie für ihre Impfstoffe verwenden, ist Soberana ein Protein-Impfstoff. Kuba hat für die Entwicklung und Produktion des hauseigenen Impfstoffes also eine herkömmliche Technologie benutzt, die auf der Plattform schon bekannter Impfstoffe basiert. So wird ein kleines Stück des Virus – der so genannte Spike – der geimpften Person verabreicht, die dann die erforderlichen Antikörper gegen das Virus produziert. Die mRNA-Impfstoffe hingegen liefern dem Körper die genetischen "Anweisungen", damit dieser die Antikörper zu bilden lernt.

Die bisher durchgeführten Studien zeigen, dass SoberanaPlus eine sehr hohe Wirksamkeit aufweist. Der Impfstoff garantiert einen sehr hohen Schutz sowohl bei Personen, die bereits infiziert waren und genesen sind, als auch bei Personen, die andere Impfstoffe erhalten haben. SoberanaPlus schützt zudem auch gegen die aggressive Beta-Variante und die unterdessen weltweit dominierende Delta-Variante des Coronavirus. Außerdem haben klinische Studien gezeigt, dass der Impfstoff kaum Nebenwirkungen aufweist: weniger als ein Prozent der geimpften Menschen leidet unter Fieber, Schmerzen an der Injektionsstelle, allgemeinem Unwohlsein oder Rötungen.

Aus der Perspektive der globalen Bekämpfung von Covid-19 hat der kubanische Impfstoff zwei weitere zentrale Vorteile. Erstens sind seine Produktionskosten äußerst niedrig. Das bedeutet, dass der Impfstoff potenziell in jedem Winkel der Welt hergestellt werden kann (der Iran produziert bereits einen Impfstoff auf der Grundlage der kubanischen Technologie), sogar in Ländern, deren Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen weniger als 20 Dollar pro Jahr betragen, was den Kosten für eine einzelne BioNTech/Pfizer-Impfdosis entspräche. Zweitens stellt der Soberana-Impfstoff keine besonderen Logistik-Anforderungen, für die Lagerung und den Transport des Impfstoffs ist keine fortschrittliche – und kostspielige – Technologie erforderlich wie beispielsweise beim BioNTech/Pfizer-Impfstoff.

Soberana wurde als Kinderimpfung konzipiert

Während andere Länder die Kinder als Bevölkerungsgruppe in ihren bisherigen Impfkampagnen weitgehend vernachlässigt haben, hat Kuba die Impfkampagne für die pädiatrische Bevölkerung bereits weit vorangetrieben. So sind in Kuba rund 2 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 2 und 18 Jahren geimpft. Und Soberana02 ist in der Tat ein Produkt, das ursprünglich auf der Basis schon bekannter Kinderimpfstoffe und somit für Kinder entwickelt wurde. Während zu Beginn der Pandemie Expert:innen und Regierungen auf der ganzen Welt behaupteten, dass das Virus für Kinder kaum ansteckend sei, arbeiteten Wissenschaftler:innen in Kuba bereits daran, einen Impfstoff für Kinder zu entwickeln. "Für uns war klar, dass kein Kind an Covid-19 sterben darf. Darum war ein im Detail geplantes Impfprogramm für Kinder von zentraler Bedeutung", erklärt Ricardo Pérez Valerino.

Pérez Valerino ist Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen am Finlay-Institut. Er fährt fort: "Es stimmt, dass das Virus bei Kindern einen milderen Verlauf nimmt als bei Erwachsenen. Dennoch können Kinder das Virus auf die Erwachsenen oder auf die Großeltern übertragen. Gleichzeitig stellten wir auch fest, dass selbst die kleinsten Kinder an Covid-19 erkranken können. Daher wollten wir einen Impfstoff haben, der bei Erwachsenen und bei Kindern funktioniert und sicher ist."

In den westlichen Ländern steigen heute die Neuinfektionen in der jüngeren Bevölkerung tatsächlich an, was auch schon zu neuen Schließungen von Schulklassen in Deutschland, Italien und anderen Ländern geführt hat. In den Vereinigten Staaten beispielsweise machten Kinder 25,1 Prozent der wöchentlich gemeldeten Covid-19-Fälle im November 2021 aus. In Italien finden aktuell über 30 Prozent der neuen Corona-Fälle bei Minderjährigen statt, besonders stark sind Kinder zwischen 6 und 11 Jahren betroffen. Viele westliche Länder – allen voran die USA und Italien, aber auch andere Länder der Europäischen Unionen – wollen noch vor Ende 2021 mit der Impfung von Minderjährigen beginnen.

Kuba hat auch diesbezüglich also Pioniercharakter: Erstens wurde ein Impfstoff gegen Sars-Cov-2 auf der Grundlage von bereits bei Kleinkindern eingesetzten Impfstoffen entwickelt, was gesundheitliche Nebeneffekte und Problematiken der neuen Impfung praktisch auf Null reduziert hat und das Vertrauen der Eltern in den neuen Impfstoff stärkte; zweitens wurde von Beginn an die gesamte Bevölkerung – also auch Kinder – in die Impfkampagne integriert, was angesichts der neusten Entwicklungen der Pandemie als zukunftsweisend bezeichnet werden kann.

Internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen die Pandemie

"Der kubanische Impfstoff und seine Impfkampagne sind nicht das Ergebnis eines Wunders, sondern die Folge politischer Entscheidungen", sagt Fabrizio Chiodo. Er ist ein italienischer Wissenschaftler, der mit dem kubanischen Finlay-Institut bei der Entwicklung des Impfstoffs zusammenarbeitet und die klinische Zusammenarbeit zwischen Kuba und Italien begleitet. Er fügt hinzu: "Wenn wir heute im weltweiten Kampf gegen die Pandemie auf Kuba und seine Impfstoffproduktion blicken, dann deshalb, weil Kuba bei der Entwicklung eines öffentlichen Gesundheitssystems und einer öffentlichen biotechnologischen Forschung visionär war."2

In der Tat ist die Frage nach einem öffentlichen oder privaten Gesundheitssystem nicht nur eine ideologische Frage. Die kleine Karibikinsel, die seit mehr als 60 Jahren unter einer Wirtschafts- und Handelsblockade steht, war in der Lage, in kürzester Zeit drei Impfstoffe und zwei Impfstoffkandidaten zu entwickeln. Und dies deshalb, weil sich Kuba nicht der Logik multinationaler Konzerne und der Big Pharma unterwarf, sondern seit Jahrzehnten schon in ein öffentliches Gesundheits- und Bildungssysteme investiert, die erstklassige Fachkräfte garantieren.

Mitte September 2021 – kurz nach Beginn des Impfprogramms auf der Insel – hat Kuba die Zulassung seines Impfstoffes bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beantragt. Für die internationale Anerkennung von Soberana hat sich die kubanische Regierung bewusst gegen einen Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und der us-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) entschieden. Die Ablehnung des chinesischen Sinovac- und des russischen Sputnik-Impfstoffes durch EMA und FDA sind ein Beweis dafür, dass diese Agenturen politische Entscheidungen treffen. In der Perspektive einer globalen Kooperation gegen die Pandemie wird in Kuba jedoch ausschließlich die WHO als multilaterales, neutrales Organ anerkannt.

Kubas Umgang mit der Covid-19-Pandemie ist also eine Lektion für die ganze Welt: Sie stellt die Gesundheit der Menschen vor private Profite, fördert die internationale Zusammenarbeit und lehnt Handelskriege zwischen Staaten und multinationalen Konzernen strikt ab. Es wäre daher ein fataler Fehler, die kubanischen Erfahrungen im Hinblick auf einen global vereinten Kampf gegen Covid-19 unberücksichtigt zu lassen.

Dieser Beitrag von Maurizio Coppola erschien am 10. Dezember 2021 bei re:volt

  • 1. Die Reaktogenität eines Impfstoffes bezeichnet "das Ausmaß und die klinische Bedeutsamkeit der – nach Gabe eines bestimmten Impfstoffs – zu erwartenden Impfreaktion." Immunogenität hingegen bezeichnet "die Eigenschaft eines Stoffes, im tierischen oder menschlichen Körper eine als Immunantwort bezeichnete Reaktion des Immunsystems auszulösen".
  • 2. Ende der 1980er, Anfang der 1990er-Jahre – geplagt von der 1960 von den USA auferlegten Handelsblockade gegen die karibische Insel und geschwächt durch die Auflösung der Sowjetunion, dem wichtigsten Handelspartner Kubas (rund 80 Prozent aller Produkte wurden von der UdSSR importiert) – traf die damalige Regierung von Fidel Castro Ruz in dieser Hinsicht visionäre politische Entscheidungen: Mitten in der wegen ihren Erschwernissen als período especial (Sonderperiode) bezeichneten Periode ab 1990 wurde massiv in die Biotechnologie investiert mit dem Ziel, eine gesundheitspolitische Unabhängigkeit zu erlangen, bestimmte auf Kuba vorherrschende Krankheiten komplett zu eliminieren und Zentrum des internationalen Gesundheitstourismus zu werden.