Für den Berichterstatter oder die Berichterstatterin zu den Präsidentschaftswahlen in Venezuela am kommenden 7. Oktober ist es eine Pflicht, auch den Kandidaten der Rechten zu beleuchten. Im Falle des 40-jährigen Henrique Capriles Radonski stößt dies jedoch auf Schwierigkeiten, die nichts mit Abneigung gegen einen Kandidaten zu tun hat, der Favorit Washingtons ist und im Wesentlichen die Interessen der venezolanischen Oligarchie vertritt.
Wer aus den inzwischen zahlreichen Wahlkampfauftritten von Capriles inhaltliche Aussagen herauszufiltern sucht, wird nachhaltig frustriert. Gerade die mit Capriles sympathisierenden Medien in Venezuela helfen nicht weiter, weil sie kaum zusammenhängende Sätze von ihm zitieren. In den letzten Wochen war kein größeres Interview in den Printmedien zu finden und auch ältere sind schwer aufzutun.
Recherchen fördern stattdessen allerdings ein anderes Fundstück zutage: Mehrere Quellen zitieren Capriles bei einer Wahlveranstaltung am 12. April 2012 im Bundesstaat Zulia mit dem Ausspruch: "Jeder 13. hat seinen 7. Oktober". Dies wäre als ein Echo zu verstehen auf die legendäre Parole der bolivarischen Bewegung, nachdem der Putschversuch der venezolanischen Rechten vom 11. April 2002 nur zwei Tage später an der Mobilisierung der chavistischen Basis scheiterte: "Jeder 11. hat seinen 13" ist seitdem das Motto. Sollte Capriles seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen und einen Wahlsieg tatsächlich als die Erfüllung der Putschziele von 2002 sehen? Der ihm zugeschriebene Ausspruch soll jedenfalls seither der Hit in den sozialen Netzwerken der Oberschicht hierzulande geworden sein.
Bei der Suche nach ein paar zusammenhängenden Aussagen von Capriles hat schließlich die Tageszeitung Correo del Orinico (15.09.2012) weitergeholfen. Diese Zeitung untertitelt sich selbst als die "Artillerie des Denkens" und gehört zu den Leitorganen der "bolivarischen Revolution". Sie hat im laufenden Wahlkampf eine neue Debattenkultur eingeführt, indem sie täglich ein bis zwei Seiten der sachlichen Darstellung der Opposition einräumt.
Auf diese Weise ist der breit angelegte Gegenangriff des Oppositionskandidaten dokumentiert worden, mit dem dieser nach mehreren Rückschlägen seiner Kampagne in den vergangenen zwei Wochen wieder Boden gutzumachen versucht hat.
Capriles nutzte einen Wahlkampfauftritt am vergangenen Freitag in Carora im Bundesstaat Lara, der auch über den privaten Fernsehkanal Globovisión übertragen wurde, um sich neu aufzustellen: "Das Einzige, worin die Regierung vorankommt, ist, Themen für einen schmutzigen Krieg zu inszenieren. Wir sehen, wie sie uns in ihren Sumpf ziehen wollen, wie sie uns disqualifizieren wollen, wie sie Verwirrung stiften und die Menschen in Angst versetzen wollen." Und "diejenigen, die andere einer verdeckten Agenda beschuldigen, sind es, die etwas zu verbergen haben."
Capriles spielt hier auf zwei für seine Kampagne kritische Ereignisse der vergangenen Wochen an. Zunächst hatte der unabhängige Oppositionspolitiker David de Lima - und nicht die Regierung - eine heftige Debatte um eine "verdeckte Agenda" der Opposition entfacht, die den Verdacht nährte, dass die offizielle, soziale Wahlkampfrhetorik einen Tag nach einem Wahlsieg obsolet werden könnte. Wenige Tage darauf tauchte Videomaterial auf, das ein Mitglied des Capriles-Wahlbündnisses "Tisch der Demokratischen Einheit" (MUD) bei der Entgegennahme von nicht gemeldetem und damit im Wahlkampf illegalem Geld zeigte.
Capriles wendete sich anschließend den fünf "historischen Zielen" zu, die der amtierende Präsident Hugo Chávez im Rahmen seines "Bolivarischen Sozialistischen Regierungsprogramms 2013-2019" im Juni vorgestellt hatte. In Hinsicht auf das erste der fünf historischen Ziele, die nationale Unabhängigkeit, meinte der Oppositionskandidat, dass diese den Befreiungshelden des 19. Jahrhunderts zu verdanken sei, nicht der gegenwärtigen Regierung. Sie habe das Land lediglich in die Abhängigkeit anderer Nationen gebracht. Für ihn, Capriles, bedeute Unabhängigkeit heute, dass "man auf die Straße gehen und sich sicher fühlen" könne.
Das Thema der Sicherheit und die Tatsache, dass nach Umfragen das subjektive Gefühl der Unsicherheit in der Bevölkerung in Venezuela das zentrale Thema zu sein scheint, steht in der Wahlkampagne des Rechtsbündnisses, das Capriles als gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt hat, im Mittelpunkt. Es ist nicht originell und sozusagen der Klassiker für die politische Rechte überall. In der jüngeren venezolanischen Geschichte steht dies vor dem Hintergrund, dass die amtierende Regierung von der Militarisierung der riesigen Armenviertel Abstand genommen hat. Die einschließende Sozialpolitik und der Aufbau der neuen Bolivarischen Nationalpolizei, die mit den Kommunalen Räten (Consejos Comunales) zusammenarbeitet, verbessert die Sicherheit in den Vierteln aber nur sehr langsam.
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Capriles ruft die Bevölkerung auf, auf die anhaltende Unsicherheit zu reagieren. Wenn Präsident Chávez die Sicherheitsprobleme nicht löse, müsse er, Capriles, sich diesen widmen. Innerhalb von einem Jahr an der Regierung werde er bereits eine spürbare Verbesserung der Sicherheit erreicht haben, indem er hart gegen korrupte Polizeibeamte vorgehen und die Arbeitsbedingungen der Polizeiorgane verbessern werde, so Capriles. Er hatte als Gouverneur des Bundesstaates Miranda jedoch eine Zusammenarbeit mit der neu geschaffenen Nationalpolizei stets abgelehnt. Und nach Angaben der Regierung weist der von ihm regierte Bundesstaat die höchste Kriminalitätsrate in ganz Venezuela auf.
Natürlich ließ Capriles nicht die vielleicht kritischsten Punkte für die bolivarische Regierung aus: die Mängel in der Gesundheitsversorgung, die Probleme mit der Strom- und Wasserversorgung und häufige Verzögerungen von Lohnzahlungen. "Diese Regierung wird uns keine Lösungen für unsere Probleme geben; sie will die menschliche Gattung retten." Das einzige was sie interessiere, sei, "dass ihr revolutionäres Projekt voranschreitet". Capriles seinerseits betont, dass es "hier Wasser und Elektrizität für alle geben" müsse, da das Land die nötigen Mittel habe, um dies zu garantieren. Den Arbeitern versprach er die Auszahlung ausstehender Löhne. Sollte er die Wahl gewinnen, werde er für die nächsten sechs Jahre eine Million neue Arbeitsplätze schaffen.
Zum Abschluss seiner Ausführungen versprach Capriles, dass es unter seiner Regierung "keine Enteignungen mehr" geben würde, und dass er die Mittel, die die gegenwärtige Regierung in andere Länder leite, wieder auf dem eigenen Territorium investieren werde. Capriles hat bereits angekündigt, die Großverträge mit den globalen US-Konkurrenten Russland und China zu "überprüfen". Und er lehnt die neuen Wirtschaftsbeziehungen ab, die Venezuela im Rahmen des ALBA-Bündnisses eingegangen ist. Diese Beziehungen orientieren sich an Komplementarität und Solidarität und sollen die traditionellen und ungleichen Wirtschaftsbeziehungen zwischen den entwickelten Industrienationen und dem Süden ablösen.
Hier muss die Absicht, den sachlichen Gehalt aus einer Wahlkampfrede herauszuziehen, enden. Der Präsidentschaftskandidat Capriles hat an diesem Tag einen traditionellen Wahlkampfauftritt abgeliefert, wie es in repräsentativen Demokratien üblich ist, mit dem Handwerkzeug der Imageberatung und mit den Versprechen von allem und jedem. Was in den europäischen repräsentativen Systemen nur noch mit gelangweilter Resignation in den Alltag integriert wird, ist in Venezuela aber bereits zu einem Fremdkörper geworden: Nach 14 Jahren Politisierung und Einbeziehung der Bevölkerung, ernsthaften, enthusiastischen Programmdebatten und Partizipation.
Die Irritation geht aber noch weiter. Aus zwei Gründen löst in Venezuela die Vorstellung einer Rückkehr der Rechten an die Macht weit verbreitet große Ängste aus. Erstens haben Capriles und sein Rechtsbündnis von Beginn des Wahlkampfs an die Weichen dafür gestellt, sofort am Abend der Auszählung der Stimmen einen Wahlbetrug zu unterstellen, falls Capriles nicht zum Gewinner erklärt wird. Gegen jede Evidenz und entgegen allen Erfahrungen, seit Hugo Chávez 1998 zum ersten Mal zum Präsidenten gewählt wurde. Und schließlich auch gegen das einhellige positive internationale Urteil über die Sicherheit des venezolanischen Wahlsystems.
Zweitens hat die öffentliche Debatte um eine neoliberale "verdeckte Agenda" der Rechten für den Fall einer Regierungsübernahme den Sprengstoff sichtbar gemacht, der in einem sozialen Rollback für die armen Mehrheiten der venezolanischen Bevölkerung liegen würde. Die Anzeichen dafür, dass die sozialpolitischen Einsichten von Henrique Capriles genau bis zum Tag einer Regierungsübernahme gelten würden und allein der wahltaktischen Annahme geschuldet sind, ohne eine Anerkennung der sozialpolitischen Programme der Chávez-Regierung von vornherein chancenlos zu sein, wachsen mit jedem Rückzug von Politikern aus dem MUD-Bündnis. Ein skrupelloser Betrug an der sozialen Rhetorik nach der Wahl würde in Venezuela allerdings mit großer Wahrscheinlichkeit eine Explosion auslösen.
Hier möchte man noch eine Äußerung des venezolanischen Botschafters bei der OAS und Abgeordneten am Lateinamerikanischen Parlament, Roy Chaderton, in Erinnerung rufen, die von 2010 stammt:
"Wenn wir ... annehmen, was hoffentlich nicht der Fall sein wird, dass wir in der Konsequenz angesichts einer mit der finanziellen und medialen Unterstützung durch den globalen Abschaum geeinten Opposition ... die Präsidentschaftswahlen von 2012 verlieren, dann könnt ihr vergessen, dass es einen demokratischen, zivilisierten Übergang geben wird und dass eine neue, ebenfalls demokratische Regierung dazu übergehen wird, die geerbten Fehler zu berichtigen und die polarisierten Venezolaner miteinander zu versöhnen, während wir, die Verlierer unsere Reihen säubern und für die demokratische Schlacht vorbereiten, die Regierung sechs Jahre später zurück zu gewinnen. Vergiftet und manipuliert von den Medien der Ultrarechten und mit Unterstützung seiner internationalen Herren würde ein triumphierender Mob damit beginnen, alles Aufgebaute zu zerlegen, dann Repression auszuüben und schließlich sogar dazu übergehen zu töten."