Stellungnahme des UN-Menschenrechtsexperten de Zayas zu Venezuela und Ecuador

Der Menschenrechtsexperte der Vereinten Nationen, Alfred-Maurice de Zayas, zu seiner jüngsten Reise nach Venezuela, die Gefahren der Politisierung der Krise des Landes und eine Medienkampagne gegen die Regierung

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Der UN-Experte Alfred-Maurice de Zayas (links) mit dem Außenminister von Venezuela, Jorge Arreaza
Der UN-Experte Alfred-Maurice de Zayas (links) mit dem Außenminister von Venezuela, Jorge Arreaza

Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung, Alfred-Maurice de Zayas

Mission nach Venezuela und Ecuador vom 26. November bis 9. Dezember 2017

Als erster Unabhängiger Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung hatte ich die Möglichkeit, das Mandat und die Methodik zu definieren. Ich habe sechs Berichte für den Menschenrechtsrat und sechs Berichte für die Generalversammlungen verfasst, die Fragen der internationalen Ordnung, einschließlich Steueroasen, Streitbeilegung zwischen Investoren und Staaten, bilateralen Investitionsabkommen, Freihandelsabkommen, Weltbank-Projekten, des Internationalen Währungsfonds und seine Kreditkonditionen, Abrüstung für die Entwicklung, die Selbstbestimmung der Völker und die Reform des Sicherheitsrates behandeln. Ziel und Zweck meines Mandats sind in der Resolution 18/6 des Menschenrechtsrates festgelegt, und die Parameter meines Besuchs sind in einer Presseerklärung vom 27. November 2017 beschrieben1.

Die Funktion von Berichterstattern und unabhängigen Experten besteht darin, Fragen zu stellen, allen Interessengruppen zuzuhören, Dokumente auszuwerten und konstruktive Empfehlungen an Staaten zu geben. Wir kommen, um Bevölkerungen zu helfen, ihre Menschenrechte besser zu verwirklichen. Hierfür versuchen wir, die Regierungen davon zu überzeugen, dass es in ihrem eigenen Interesse liegt, mit den Vereinten Nationen zusammenzuarbeiten und bieten ihnen unsere Beratung und technische Hilfe an. Unsere Funktion kann nicht darauf reduziert werden, Regierungen zu verurteilen.

Einige Beobachter und Aktivisten der Zivilgesellschaft betrachten Berichterstatter fälschlicherweise als Sonderbeauftragte oder Bevollmächtigte. Ich persönlich wurde mit einem begrenzten Mandat betraut und sollte nicht als Superberichterstatter oder Beauftragter angesehen werden. Ich kann nicht die Funktionen der Berichterstatter in Bezug auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf friedliche Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Unabhängigkeit von Richtern und Rechtsanwälten, in Bezug auf Nahrung, Gesundheit oder willkürliche Inhaftierungen beanspruchen.

So konnte ich die Erwartungen mancher Gruppierungen der Zivilgesellschaft nicht erfüllen, obwohl ich meinen Gesprächspartnern versichert habe, dass ich ihre Anliegen an die zuständigen Berichterstatter weiterleiten werde. Ich habe mich auch bemüht, einige ihrer Anliegen in die Darlegung meiner vorläufigen Empfehlungen an die Staaten einzubeziehen. Wo es angebracht ist, werde ich ihren Beitrag in den Abschlussbericht an den Rat im Jahr 2018 berücksichtigen.

Ich begreife Länder-Missionen als Goodwill-Missionen. Ich habe hunderten von Gesprächspartnern zugehört und wertvolle Informationen von ihnen bekommen, die ich immer noch studieren und auswerten muss, bevor ich meine Berichte abschließe. Eines sollte Ihnen klar sein, mein Ansatz ist nicht "öffentliches Anprangern", sondern das Zuhören und Anbieten konstruktiver Vorschläge, um Gesetze, Regelungen und Praktiken zu reformieren, die zu Verletzungen von Menschenrechten führen.

Ich habe mich bemüht, einen neuen Blick auf die Realitäten Venezuelas und Ecuadors zu bekommen, im Bewusstsein der Probleme von Armut, Korruption, Knappheit bestimmter Nahrungsmittel und Medikamente, fehlender freier, vorheriger und informierter Zustimmung im Bereich der Rohstoffgewinnung, Inflation, ineffizienter Verteilung, Untätigkeit der Regierung, Unterdrückung von Dissens. Es gibt viele Diagnosen der Probleme und viele Ursachen. Meine Absicht ist, im Rahmen meines Mandats geeignete Lösungen zu empfehlen, und mein Ansatz war immer ergebnisorientiert.

Dieser Besuch beinhaltete eine sehr große Zahl von Treffen mit Ministern beider Länder, Botschaftern, Diplomaten, führenden kirchlichen Funktionären, Akademikern, Ökonomen, Professoren, Studenten, Organisationen der Zivilgesellschaft, einzelnen Opfern, die herzzerreißende Geschichten erzählten, mit Angehörigen von Gefangenen, die Petitionen zur Übermittlung an zuständige Personen übergaben. Ich habe mich bemüht, meine Begegnungen mit den verschiedenen Gruppen ausgewogen zu halten und habe nicht nur passiv Informationen entgegengenommen, sondern war proaktiv in der Suche nach Wahrheit und habe gezielte Information eingefordert.

Die Mission konzentrierte sich auf die Prüfung gemeinsamer Anstrengungen zur Förderung des sozialen Fortschritts und der Verbesserung des Lebensstandards entsprechend den Bestimmungen des Internationalen Pakts über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte, des Internationalen Pakts über Bürgerliche und Politische Rechte und den Tagesordnungen der Weltsozialforen seit Porto Alegre.

Es sei daran erinnert, dass die Vereinten Nationen im September 2005 bekräftigten, dass "Demokratie ein universeller Wert ist, der auf dem frei zum Ausdruck gebrachten Willen der Menschen beruht, ihr politisches, wirtschaftliches, soziales und kulturelles System und ihre volle Beteiligung an allen Aspekten ihres Lebens zu bestimmen." Das Abschlussdokument des damaligen Weltgipfels betonte zudem, dass "Demokratie, Entwicklung und Achtung der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten voneinander abhängen und sich gegenseitig verstärken" und unterstrich, dass "Demokratien zwar gemeinsame Merkmale aufweisen, es gibt aber kein einheitliches Demokratiemodell". Entsprechend verdienen die venezolanischen und ecuadorianischen Modelle Aufmerksamkeit.

Die Auswirkungen der in beiden Ländern ebenso wie in Bolivien, Nicaragua und Kuba bestehenden sozialen Modelle auf die internationale Ordnung zeigen Möglichkeiten einer stärkeren regionalen Integration und Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen auf, besonders mit dem System der Vereinten Nationen, das den Staaten Beratungsdienste und technische Hilfe anbieten kann, um sicherzustellen, dass sozialer Fortschritt nicht auf Kosten der bürgerlichen Freiheiten erlangt wird. Ich habe die Fortschritte auf dem Gebiet der Beseitigung des Analphabetismus gesehen, kostenlose Bildung von der Grundschule bis zur Universität, Programme zur Verringerung der extremen Armut, Bereitstellung von Wohnraum für Obdachlose und Bedürftige, schrittweise Abschaffung von Privilegien und Diskriminierungen, Ausweitung der medizinischen Versorgung für alle, einschließlich der sehr jungen und älteren Menschen.

Bezüglich der Hindernisse für die Wahrnehmung der Menschenrechte erkundigte ich mich nach den nachteiligen wirtschaftlichen Maßnahmen, die von mehreren Staaten ergriffen wurden, um das reibungslose Funktionieren des betroffenen Staates direkt und indirekt zu beeinträchtigen oder seinen Handlungsspielraum einzuschränken. Die Vereinten Nationen verurteilen seit Jahrzehnten einseitige Zwangsmaßnahmen, insbesondere seit der wegweisenden Studie der Unterkommission zur Förderung und dem Schutz der Menschenrechte aus dem Jahr 2000. Währungsspekulation ist eines der bevorzugten Instrumente, um gezielt Volkswirtschaften zu destabilisieren, ebenso wie die Aktivitäten von Ratingagenturen, die, obwohl sie keinerlei demokratische Legitimation besitzen, die finanzielle Fähigkeit der Staaten, Anleihen auszugeben und Finanzierungen zu erhalten, gravierend beeinträchtigen. Die Flucht nationaler Gelder in Steueroasen hat sich negativ auf die Fähigkeit der Staaten ausgewirkt, ihren finanziellen Verpflichtungen nachzukommen und internationale Zusammenarbeit ist notwendig, um die Rückführung von Geldern zu sichern, die illegal aus den jeweiligen Ländern herausgenommen wurden. Es hat sich außerdem gezeigt, dass internationale kriminelle Gruppen für den Diebstahl von öffentlichen Gütern, Lebensmitteln und Medikamenten verantwortlich sind, die ihren Weg in die Nachbarländer gefunden haben und dies beeinträchtigt die Inanspruchnahme der Menschenrechte durch die Bevölkerungen, für die diese Ressourcen ursprünglich bestimmt waren. Das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung kann Staaten bei der Bewältigung einiger dieser Probleme behilflich sein. In Venezuela gibt es ein zusätzliches Problem, die Sabotage von öffentlichem Eigentum, Brandstiftung gegen öffentliche Gebäude, Krankenhäuser und andere Institutionen, Zerstörung von Strom- und Telefonleitungen etc., manchmal verbunden mit Wahlkämpfen. Ich bin besorgt über Berichte, die ich über diese Sabotageakte erhalten habe, die sogar unter der Rubrik "Terrorismus" zusammengefasst werden könnten.

Ich muss den Regierungen von Venezuela und Ecuador meine Anerkennung aussprechen, die jede Anstrengung unternommen haben, meine Fragen zu beantworten, und Unterlagen und Statistiken zur Verfügung gestellt haben, unter anderem durch Power-Point-Präsentationen, die ich gerade auswerte und mit anderen Informationsquellen vergleiche.

Auch zivilgesellschaftliche Organisationen lieferten sehr nützliche Informationsmaterialien, und ich traf mich mit Nichtregierungsorganisationen Indigenen, Einzelpersonen und Familienangehörigen von Inhaftierten sowie mit Personen, deren Angehörige im Zusammenhang mit dem Medikamentenmangel starben.

Leider wurde scheinbar Wochen vor meiner Ankunft in Caracas eine Kampagne gegen meine Mission gestartet und manche nannten die Mission sogar eine "Scheinuntersuchung". Gleichzeitig wurde in den Sozialen Netzwerken die Glaubwürdigkeit meiner Person infrage gestellt und ich war persönlichen Angriffe ausgesetzt, einschließlich Beleidigungen und aller möglichen Anschuldigungen, noch bevor ich mit einem einzigen Journalisten gesprochen oder eine Pressekonferenz gegeben hatte. Dies spiegelt ein hohes Maß an Polarisierung und die Weigerung wider, zu akzeptieren, dass ein unabhängiger Experte unabhängig ist und dass er kommt, um zuzuhören und auszuwerten, nicht um sich aufzuspielen und zu verurteilen.

Es gibt eine besorgniserregende Medienkampagne, um Beobachter in eine vorgefasste Sichtweise zu zwingen, zum Beispiel, dass es in Venezuela eine "humanitäre Krise" gibt. Wir sollten uns vor Übertreibung und Überspitzung hüten und bedenken, dass "humanitäre Krise" ein Fachbegriff ist und als Vorwand für militärische Intervention und Regime Change missbraucht werden könnte.

Selbstverständlich sollte es einen ungehinderten Fluss von Nahrungsmitteln und Medikamenten nach Venezuela geben, um die derzeitige Knappheit an Lebens- und Arzneimitteln zu mildern. Aber diese Hilfe sollte wirklich humanitär sein und keine anderweitigen politischen Ziele verfolgen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Caritas und andere Organisationen könnten sicherlich behilflich sein bei der Koordinierung der Einfuhr und Verteilung von Hilfsgütern.

Die Situation in Venezuela erreicht nicht die Schwelle der humanitären Krise, auch wenn es in einigen Bereichen Knappheit gibt, Mangelernährung, Verunsicherung, und Angst. Als ich in Venezuela war, habe ich auch die von der Regierung ergriffenen Maßnahmen gesehen, um diese Probleme anzugehen, und ich habe Empfehlungen ausgesprochen, wie diese Maßnahmen verbessert werden können. Es ist nicht hilfreich, einfach nur zu wiederholen, dass es in einigen Sektoren ein unannehmbares Maß an Leid gibt. Entscheidend ist, konstruktive Vorschläge zu machen. Um solche Vorschläge zu formulieren, ist es wichtig, die vielfältigen Ursachen der Probleme zu untersuchen. Es ist wichtig, die Auswirkungen von Sabotage, Horten, Schwarzmarktaktivitäten, induzierter Inflation und Schmuggel von Nahrungs- und Arzneimitteln zu kennen.

Länder dürfen nicht isoliert und boykottiert werden. Entscheidend ist, internationale Solidarität durch Maßnahmen der Einbeziehung und eine konzertierte Anstrengung internationaler Organisationen wie UNDP, UNICEF, FAO, UNAIDS usw. zu zeigen, um zu helfen. Ich habe Venezuela explizit aufgefordert, die Vereinten Nationen um Beratung und technische Hilfe zu ersuchen, und es scheint, dass dieser Aufruf gehört wurde2. Ich habe auch empfohlen, sieben weitere Berichterstatter einzuladen.

UN-Missionen behandeln nicht nur negative Aspekte. Berichterstatter können auch gute Initiativen würdigen und gewonnene Erkenntnisse anerkennen. Im Falle Venezuelas denke ich, dass sich das venezolanische Programm zum Bau kostengünstiger Wohnungen bewährt hat und Millionen von Menschen vor Armut und Obdachlosigkeit bewahrt hat. In Ecuador bewundere ich den Nationalen Entwicklungsplan 2017-2021 und die Initiativen zur Verabschiedung eines Vertrags der Vereinten Nationen über die soziale Verantwortung transnationaler Unternehmen sowie die Schaffung einer UN-Steuerbehörde, die Steuerpolitiken koordiniert, um den Steuerwettbewerb, die Steueroasen und die Steuerhinterziehung abzubauen. Die Initiative für eine Finanztransaktionssteuer verdient allgemeine Unterstützung.

Ich erkenne auch an, dass beide Länder erhebliche Anstrengungen unternehmen, um die 17 Ziele für Nachhaltige Entwicklung vor Ablauf der Frist im Jahr 2030 zu erreichen, und beide wenden einen beträchtlichen Prozentsatz der nationalen Haushalte für soziale Dienstleistungen auf.

Das Wichtigste ist, dass der soziale Frieden gewahrt bleibt. Den Dialog zwischen allen Bevölkerungsschichten zu fördern, den Privatsektor anzusprechen und seine Vorschläge anzuhören. Sowohl in Venezuela als auch in Ecuador gibt es ein großes Streben nach Frieden und Gerechtigkeit, was die Ecuadorianer Buen Vivir nennen. Dies spiegelte sich in der Erklärung der Versammlung der Interparlamentarischen Union in Quito 2013 wider, die ich voll und ganz unterstützen möchte, wie ich auch die Resolution der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (Celac) von 2014 unterstütze, mit der Lateinamerika und die Karibik zu einer "Zone des Friedens" erklärt werden. Dies sind gute Praktiken, die es zu befolgen gilt. Pax optima rerum3.

Alfred-Maurice de Zayas ist ein US-amerikanischer Völkerrechtler, Historiker, Sachbuchautor und UN-Beamter. Seit 2012 ist er UN-Sonderberichterstatter für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung