a21 Spezial Kolumbien: Vom Friedensabkommen zur Protestbewegung

Interview mit dem Vorsitzenden der angesehenen Menschenrechtsorganisation "Solidaritätskomitee für politische Gefangene" (CSPP)

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Plakat: "Der Frieden erfolgt, wenn es keinen Hunger mehr gibt"
Plakat: "Der Frieden erfolgt, wenn es keinen Hunger mehr gibt"

Menschenrechtler Franklin Castañeda spricht mit amerika21 über Licht und Schatten bei der Umsetzung des Friedensabkommens. Er berichtet auch über die jüngste Protestbewegung. In dem zweiten Teil des Interviews, der später folgen wird, berichtet er über die starke aktuelle Repression gegen die Proteste sowie über die mangelnden Garantien bei den bevorstehenden Kongress- und Präsidentschaftswahlen in Kolumbien und reflektiert über die Rolle der internationalen Gemeinschaft bei der aktuellen Menschenrechtssituation des Landes. Das CSPP ist die älteste Menschenrechtsorganisation Kolumbiens. Sie wurde vom Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez im Jahr 1973 mitgegründet.

Teil I

Jahrzehntelang herrschte in Kolumbien wie im Ausland das Bild vor, die Gewalt in Kolumbien sei hauptsächlich eine Folge des bewaffneten Konflikts zwischen den Guerillabewegungen und dem Staat. Nach der Unterzeichnung des Friedensabkommens Ende 2016 ist allerdings zu beobachten, dass die Gewalt wieder zugenommen hat. Sie zeigt sich beispielsweise an der Verfolgung und Tötung von Sozialaktiven. Ist das ein Hinweis darauf, dass nicht die Farc-EP der entscheidende Faktor in der Gewaltgleichung waren? Welche wären sonst die entscheidenden Faktoren? 

Viele reduzieren den Konflikt auf ein typisches Thema des Kalten Kriegs, nämlich auf eine Auseinandersetzung zwischen denjenigen, die zu den Waffen gegriffen haben, um den Kommunismus zu etablieren, und denjenigen, die sich dagegen gewehrt haben. Doch der Konflikt hat in Wirklichkeit Ursachen, die viel struktureller sind und mit diesem Mythos nicht unbedingt übereinstimmen.

Es sei daran erinnert, dass die Farc wie andere Guerillas auch als kleinbäuerliche Selbstverteidigungsgruppen gegen die staatlichen Sicherheitskräfte und die privaten Armeen der Großgrundbesitzer oder der Siedler entstanden, die ihr Land rauben wollten. Das war die Keimzelle oder eine der Keimzellen der bewaffneten Aufstände, die noch folgten.

Im aktuellen Konflikt oder in der jüngsten Phase unserer bewaffneten Konflikte müssen wir auch unterscheiden, wann wir uns in einem Konfliktszenario befinden und wann wir uns in einem Szenario soziopolitischer Gewalt oder staatlicher Gewalt befinden, die andere Ziele verfolgt. Nehmen wir eines der größten Verbrechen in Bezug auf die Zahl der Opfer, etwa die Zwangsvertreibung. Ob es in Kolumbien Zwangsvertreibung als Folge von Gefechten zwischen bewaffneten Akteuren gab? Ja. Ob es in Kolumbien Zwangsvertreibung gab, weil die Guerilla sie als territorialen Kontrollmechanismus gegen diejenigen einsetzte, die mit ihrer Macht nicht einverstanden waren? Ja. Ob es in Kolumbien Zwangsvertreibung gab, weil manche Großgrundbesitzer bewaffnete Gruppen förderten, um Kleinbauern ihr Land zu rauben, damit es in die Hände von Großgrundbesitzern oder Großunternehmen gelangte? Ja. Letzteres hat mit dem bewaffneten Konflikt nichts zu tun und fand am meisten statt.

Was wir also sagen wollen, ist, dass die Existenz selbst des bewaffneten Konflikts andere Gewaltphänomene schließlich verschleiert hat, vor allem vor den Augen der internationalen Gemeinschaft. Nicht alle Geschehnisse der Gewalt sind streng genommen mit dem bewaffneten Konflikt verbunden.

Was haben wir aktuell? Die Farc hatten polizeiliche Funktionen in mehreren Gebieten des Hinterlands übernommen. Dort funktionierten sie praktisch als Staat. Es gab andere Zonen, wo sie zwar im Kampf gegen den Staat, die paramilitärischen Kräfte oder andere bewaffnete Gruppen standen, jedoch ständig präsent waren und dabei Handelsregeln sowie soziale Regeln und Regeln für das Zusammenleben durchsetzten. Sie lösten Probleme der Gemeinschaften und so weiter. Als die Mehrheit der Farc den Friedensvertrag unterschrieb und der Entwaffnungsprozess startete, wurden solche ländlichen Gebiete dem Staat überlassen. Er hatte die Pflicht, dorthin zu kommen, sie zu kontrollieren, die Probleme der Gemeinschaften zu lösen, ein Entwicklungsmodell im Sinne des Friedensvertrags zu bringen, Fortschritte beim Aufbau eines nachhaltigen Friedens zu machen.

Stattdessen hat der Staat mehrere Fehler gemacht. Es macht stutzig, dass er in einige dieser Gebiete gar nicht kam. Das ermöglichte, dass andere bewaffnete Gruppen das von den Farc hinterlassene Machtvakuum ausfüllten. Zum Beispiel paramilitärische Gruppen. Andere Zonen wurden von Gruppen des Drogenhandels übernommen. Und mit dem Auf und Ab des Friedensprozesses haben sich Leute, die den Friedensvertrag unterzeichnet hatten, wieder bewaffnet. Aber auch die, die nie unterschrieben hatten, sind dort geblieben.

Was wir nun heute haben, ist eine sehr komplexe Situation in vielen ländlichen Gebieten Kolumbiens, wo alle diese bewaffneten Gruppen um ökonomische, soziale und politische Kontrolle kämpfen. Im Rahmen dieser Konfrontation ereignet sich weiter Gewalt. So passieren wieder Massaker, die Zahlen der Zwangsvertreibungen explodieren erneut, ebenso die Zahl der Tötungen unter der Bevölkerung. Am sichtbarsten sind die Hinrichtungen an Sozialaktiven, aber es betrifft auch einfache Leute. Ebenso nehmen die Tötungen unter den Demobilisierten zu. Auf der einen Seite hängt das mit dem Kampf zwischen den Gruppen um die soziale Kontrolle zusammen, aber auf der anderen Seite verdeckt der bewaffnete Konflikt andere Realitäten, nämlich die Verfolgungsstrategien, die darauf abzielen verschiedene Teile der Bevölkerung zu eliminieren, die die Machtzirkel ablehnen.

Leute wie der emblematische Menschenrechtler Javier Giraldo haben angeprangert, dass der in Havanna unterschriebene Friedensvertrag die Ursachen des bewaffneten Konflikts nicht wirklich berührt und dass die nachträglichen Veränderungen ihn noch zahnloser machten. Außerdem wissen wir, dass die Regierungspartei angekündigt hatte, das Abkommen zu zerstören. Welche Tragweite hat dann der Friedensvertrag in diesem Sinne noch?

Das Friedensabkommen wird fünf Jahre alt. Knapp die Hälfte der Friedensabkommen auf der Welt sind nach fünf Jahren bereits gebrochen worden oder sind tot. Unseres wird trotz der Regierung aufrechterhalten. Sie hat mehrmals versucht, es zu sabotieren beziehungsweise es allein auf die Entwaffnung und Wiedereingliederung der Ex-Farc-Angehörigen zu reduzieren. Bei dem Tempo, das heute vorgelegt wird, werden wir im besten Fall nicht die geplanten zwölf Jahre für die Umsetzung brauchen, sondern 25 oder 30 Jahre.

Ich will jedoch klarstellen, dass das Abkommen trotz der Regierung lebt. Dank einem tapferen Widerstand der kolumbianischen Gesellschaft, der Begleitung der internationalen Gemeinschaft und dank des Justizsystems, das Veränderungen durch die Regierung nicht zugelassen hat, hat diese es nicht geschafft, das Abkommen zu töten.

Nun gut, es sollte auch beachtet werden, dass das Friedensabkommen – wie jedes Abkommen – den Verhandlungsbedingungen eines spezifischen Moments entspricht. Die Kraftverhältnisse am Verhandlungstisch ermöglichten nur begrenzte Errungenschaften. Jenseits vom möglichen Missfallen einzelner Aspekte des Vertrags oder jenseits dessen, was uns besser gefallen hätte, Tatsache ist: Sollte das Friedensabkommen vollständig umgesetzt werden, würde es in mehreren Punkten für Kolumbien eine enorme Veränderung bedeuten. Zum Beispiel in Bezug auf die Landentwicklung. Was einige Leute unter Agrarreform verstehen, ist etwas anderes. Das Friedensabkommen beinhaltet kein Modell einer Agrarreform, sondern ein Modell der Landentwicklung mit Fokus auf die spezifischen lokalen Landbedingungen. Hätten wir eine wirklich ehrliche Regierung, die dies umsetzen würde, würden die entsprechenden Maßnahmen Millionen Menschen zugutekommen. Der Weg dahin ist schon entworfen. Zum Beispiel beim Ersetzen des illegalen Drogenanbaus. Es ist illusorisch zu denken, dass der Konflikt und die Gewalt, sogar die allgemeine Gewalt, überwunden werden, ohne das Problem des Drogenhandels anzugehen.

Kolumbien ist der Hauptproduzent von Koka weltweit. Das Friedensabkommen bietet zwar keine vollständige Lösung für das Phänomen des Drogenhandels, aber doch ein interessantes Modell, das mindestens einen Aspekt des Problems in Angriff nimmt, nämlich den Ersatz des Drogenanbaus, indem die Kokabauern Staatshilfen bekommen, die ihnen ermöglichen sollen, aus dem Kokaanbau auszusteigen. Circa 100.000 Familien hat die vorherige Regierung in dieses Programm aufgenommen. Die aktuelle Regierung hat dies jedoch ständig sabotiert und eine gegen den Willen der Kokabauern forcierte Zerstörung des Kokapflanzungen durchgeführt. Für die Regierung hat es Priorität, mit den Kleinbauern in die Konfrontation zu gehen und das Problem des Kokaanbaus durch das Militär lösen zu lassen.

Heute wird allerdings mehr Koka in Kolumbien produziert als früher, obwohl es weniger Felder gibt. Zum einen ist es so, dass sobald eine Kokapflanze ausgerissen wird, wird sie am folgenden Tag woanders angepflanzt. Zum anderen haben die Mafias den Produktionsprozess von Kokain soweit technifiziert, dass mit weniger Koka mehr Kokain produziert wird. Die Errungenschaft einer leichten Senkung des Kokaanbaus, für die sich die Regierung rühmt, betreffen nicht das zentrale Problem: die Produktion von Kokain.

Abgesehen davon stecken viele Interessen dahinter, insbesondere die Interessen der großen Unternehmer, die von den bewaffneten Konflikten der Welt und vom Verkauf von Sicherheit an die Staaten leben. Und in Kolumbien sind viele solcher Interessen am Werk. Zum Beispiel beim Verkauf von Glyphosat, Flugzeugen, Drohnen, Militärausrüstung für die Polizei, Trainingsprogrammen, das heißt, alles, was aus der weltweiten Verteidigungs- und Sicherheitsindustrie kommt und privaten Interessen zugutekommt.

Solche Interessen stecken hinter der Weigerung, die Situation in Kolumbien zu ändern. Anstatt eines nachhaltigen Modells zum Ersetzen des Kokaanbaus setzt die Regierung auf die forcierte Zerstörung von Kokafeldern. Dieses Modell ist verheerend und stürzt uns in eine Spirale des Kriegs und der Gewalt, die letztendlich viele politische Sektoren in Kolumbien glücklich macht. Denn das Aktionsmodell des kolumbianischen Staates gegen den Drogenhandel hat auch eine Folge: Der Preis der Drogen steigt.

Aber worauf will ich hinaus? Zwar war die Unterzeichnung des Abkommens nicht das große Allheilmittel, die wirkliche Umsetzung des Abkommens hat jedoch ein transformatives Potenzial, das wir nicht ausklammern sollten. Darüber hinaus hat es spürbare Änderungen bei der nationalen Politik eingeführt: Die neuen Parlamentssitze für vernachlässigte ländliche Gebiete, das Sonderjustizsystem für den Frieden, die Wahrheitskommission, die Sucheinheit für vermisste Personen, die Parlamentssitze für die Farc-Demobilisierten, wo sie sich ohne Waffen artikulieren können. Auch Gustavo Petro sitzt heute dank einer Reform durch das Abkommen im Kongress, die dem zweitmeistgewählten Präsidentschaftskandidaten einen Sitz im Senat sichert.

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Franklin Castañeda, Vorsitzender des Comité de Solidaridad de Presos Políticos (CSPP)
Franklin Castañeda, Vorsitzender des Comité de Solidaridad de Presos Políticos (CSPP)

Das Abkommen hat schon greifbare Sachen gebracht. Aber am greifbarsten beim Friedensvertrag ist der Geist des Abkommens. Die Tatsache, dass die Hälfte des Landes, die beim Plebiszit für den Frieden verloren hatte, für die Umsetzung des Abkommens weiter mobil macht und darin einen Grund sieht, für den es sich zu kämpfen lohnt. Auch dass es heute linke Politiker mit hoher Popularität gibt, hat mit dem Friedensprozess zu tun. Es ist nicht mehr so einfach, die Farc als Buhmann zu präsentieren. Die Ultrarechten versuchen immer noch von hinten durch die Brust ins Auge Petro, Iván Cepeda und viele andere als Angehörige der Farc zu präsentieren. Tatsache ist, dass ein Großteil des Landes ihnen nicht mehr auf den Leim geht. Das ist auf das Abkommen und dessen Geist zurückzuführen.

Die Repression gegen die Protestwellen seit Ende 2019 und insbesondere im letzten Frühjahr durch die Polizei und bewaffnete Zivilisten ist äußerst brutal gewesen. Es gab Folter, sexuelle Gewalt, Hinrichtungen von Demonstrierenden mit Feuerwaffen, Verschwindenlassen, Zerstückelungen von Protestierenden und vieles mehr. Wenn 88,5 Prozent der Proteste friedlich waren, wie die Vizepräsidentin und Außenministerin, Marta Lucía Ramírez, selbst informierte, wie erklärt sich dann das hohe Maß an Repression?

Historisch gesehen hat der kolumbianische Staat die Idee verbreitet, dass der Dissens ein Verbrechen und eine Sache von Kriminellen ist, vor allem wenn Dissens mittels Protesten ausgeübt wird. Die Staatsdoktrin des "internen Feindes" hat in Kolumbien Karriere gemacht. Sie besagt grundsätzlich, dass nicht nur der bewaffnete Aufständische der "interne Feind" sei, sondern er bewege sich auf vielfältige Weise und in verschiedenen Teilen der Gesellschaft sowie als Teil der sozialen Masse. Der Staat habe die Pflicht, diesen Feind zu verfolgen, der die sozialen Bewegungen, die Protestierenden, die Gesellschaft unterwandert und dabei den "bewaffneten Terroristen" begünstigt.

Mit dieser Doktrin wird also gerechtfertigt und dem Militär sowie einem Teil der Gesellschaft beigebracht, es sei legitim, gegen diesen Feind vorzugehen. Denn auch wenn er nicht bewaffnet sei, spiele er eine wesentliche Rolle für den bewaffneten Feind und es sei daher legitim, ihn juristisch und sogar militärisch anzugreifen. Das erklärt vielleicht, warum wir in Kolumbien Ordnungskräfte haben – ich spreche von der Polizei –, die den Bürger, der protestiert, als einen Feind sieht, als lästig, als jemanden, der "etwas Böses" will, als jemanden, der im Unrecht ist und Schaden anrichten wird, weshalb es legitim sei, ihn anzugreifen.

Wenn wir also über Gewalt im Rahmen von Protesten sprechen, reden wir über ein tief verankertes, strukturelles Problem, das nicht nur diese Regierung produziert – obwohl diese Regierung es noch vertieft –, sondern alt ist. Was ist in den letzten Jahren passiert? Dass diese eindeutig ultrarechte Regierung, wie viele ultrarechte Regierungen auf der Welt, die auf gleicher Linie wie Donald Trump sind, auf die Simplifizierung der Ideen setzt und den kolumbianischen Bürgern sowie den Ordnungskräften beibringt, dass wir vor einer Bedrohung des Staats und sogar vor einem internationalen Komplott stehen, hinter dem Regierende wie [Venezuelas Präsident Nicolás] Maduro, politische Akteure der internationalen und inländischen Linken zusammen mit dem Terrorismus und dem Drogenhandel stehen, damit Kolumbien wie Venezuela wird. Solche absurden Simplifizierungen der Ideen werden immer wieder wiederholt und prägen am Ende einen Teil der Gesellschaft.

Gegen die Proteste von 2019 hat die Regierung beispielsweise die Kampagne "Ich streike nicht, ich produziere" vorangetrieben. Das Verteidigungsministerium und die Streitkräfte haben da auch mitgemacht. Die Kampagne stellte die Protestierenden als Bösewichte und die Nicht-Protestierenden als die Guten dar. Somit verstand die Polizei, sie habe die Legitimität, so zu agieren, wie sie es getan hat. Drei Personen wurden umgebracht, mehr als 1.800 wurden festgenommen und circa 800 wurden verletzt.

Dann kam die Pandemie. Die ärmste Bevölkerung ging dabei völlig Pleite. Auch die informelle Wirtschaft und die kleinen und mittelgroßen Unternehmen waren die großen Verlierer der Pandemie. Viele dieser Menschen mussten auf die Straße gehen, nicht nur zum Protestieren, sondern für ihren Broterwerb. Während die Regierung ihnen miserable Hilfen gab, händigte sie den Banken und Großunternehmen große Subventionen aus. Gleichzeitig ging die Polizei hart gegen die Leute vor, die fürs Überleben zum Jobben auf die Straßen gingen. Dies erzeugte Verdruss bei den ärmsten Teile der Bevölkerung, die – man muss es anmerken – für den Uribismus schon oft gestimmt haben.

In diesem Kontext prügelte die Polizei einen Jurastudenten zu Tode, weil er gegen eine Hygienevorschrift verstoßen hatte. Als Reaktion gingen Massen von Jugendlichen auf die Straße und protestierten. Es waren die Jugendlichen, die keine Arbeit, keine Ausbildung hatten, nicht mal jobben durften, und es leid waren, Tag für Tag Opfer der Drangsalierungen der Polizei zu sein. Bei den Protesten tötete die Polizei 13 Personen und verletzte mehr als 70.

Das alles führte zu einer klaren Ablehnung der Polizei. Sie ist eine der am schlechtesten bewerteten Institutionen in den Umfragen. Eine ergab, dass 64 Prozent der Leute in Kolumbien der Polizei nicht trauen. Sie sehen sie als korrupt und Menschenrechtsverletzerin. Was machte die Polizei beim Generalstreik in diesem Jahr? Das gleiche wie 2019: Sie ging gegen die Rechte der Menschen der Armenviertel vor. Dabei agiert sie ganz klar voreingenommen im Sinne des Rassismus, Klassismus und Sexismus. Die Angriffe auf die Jugendlichen durch die Polizei riefen eine enorme Solidarität unter den Bewohnern hervor, deren Kinder zusammengeschlagen wurden. Und so hat sich der Streik vervielfältigt.

Über die Steuer- und Gesundheitsreformen hinaus war die Polizeigewalt Teil der Beweggründe des Streiks. Tatsächlich setzten die Leute die Proteste fort, nachdem diese Reformen zurückgenommen wurden. Zum einen streben die Leute nach mehr. Sie erstellten lokale Agenden: Sie sagten: "ich brauche hier eine Schule", "ich brauche eine Arbeit", "ich brauche dies und das in meinem Viertel", "ich brauche Veränderungen". Aber sie richteten sich auch gegen eine Tatsache: die Polizeigewalt. Und das erzeugt bis heute eine große Spannung.

Was war nun die Antwort der Polizei darauf? Anhand des Diskurses der Regierung wurde sie von deren ultrarechten Vorstellungen angetrieben. Nachdem die Regierung begann, das politische Kräftemessen gegen die Protestierenden zu verlieren, entschied sie sich für extreme Gewalt, um die Proteste zum Schweigen zu bringen. Das Ergebnis: 87 Ermordete, 84 von ihnen Zivilisten und drei Angehörige der Ordnungskräfte. 115 Personen wurden mit Feuerwaffen verletzt und über 3.300 Personen wurden festgenommen, die Mehrheit willkürlich. Es gab mehr als 1.800 verletzte Personen. 90 davon verloren auf einer Seite das Augenlicht als Folge des Abfeuerns von Polizeiwaffen mit reduzierter Letalität. Mindestens vier Menschen sind mit solchen Waffen getötet worden.

Aber auch Feuerwaffen hat die Polizei wieder gegen die Zivilbevölkerung gerichtet. Und als dies angeprangert wurde, sind dann Taktiken eingesetzt worden, wie der Einsatz von Undercoveragenten, die auf Demonstrierende aus Oberklasse-Fahrzeugen schossen. Das ist die Realität, die wir heute in Kolumbien erleben. Eine Realität, die für die jüngere Generation schwer zu vergessen sein wird und die Debatte über die Reform der Polizei anstößt.

Diese jugendliche Widerstandsbewegung entwickelte schnell einen hohen Grad an Organisation, politischem Bewusstsein und Solidarität und wurde faktisch zu einer partizipativen Basisdemokratie, vor allem in den ersten zwei Monaten der Proteste. Was ist damit passiert? Ist es der Regierung durch terrorisierende Handlungen gelungen, die Bewegung zum Schweigen zu bringen, oder sind sie immer noch aktiv und in welcher Form?

Bei den Protesten im Jahr 2019 gingen Jugendliche mit Schutzschilden auf die Straßen, um die Leute bei den Protesten zu beschützen. So entstanden die "Ersten Linien" (Primeras Líneas). Es entstanden auch Modelle der Selbstorganisation für die Mobilisierungen. Dies entwickelte sich bei den Protesten im Jahr 2020 und auch im Rahmen des Streiks von 2021 weiter. Vor allem in den Armenvierteln organisierten sich die jungen Leute und bildeten die "Ersten Linien". Sie versuchen, sich auf nationaler Ebene zu koordinieren, und verbinden sich dabei nach und nach. Es handelt sich jedoch um keine homogene Organisation mit einer klaren Führung, wie die Regierung aber auch Kreise der selbsternannten "politischen Mitte" es glauben machen wollen, wenn sie einen der Präsidentschaftskandidaten als Aufwiegler darstellen. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Was wir haben, sind viele lokale Bemühungen von organisierten Jugendlichen, die sich politisiert haben. Die Sachlage hat sie dazu getrieben, tagtäglich bei den Protesten praktisches und reales Wissen untereinander auszutauschen, um gemeinsame Ziele zu erreichen.

Was haben wir heute? Es gibt Schwierigkeiten unter ihnen, es gibt aber auch Brücken der Kommunikation, was ganz normal bei Organisationen ist, die dabei sind, ihr Schicksal zu gestalten. Wenn die alten Organisationen Schwierigkeiten haben, dann stellen wir uns einmal vor, wie es diesen jungen Leuten geht, die neu bei diesem ganzen Aufbauprozess politischer Organisation sind. Aber trotzdem haben sie dem Uribismus eine schwere Niederlage zugefügt. Erinnern wir uns daran, dass eine der möglichen Präsidentschaftskandidatinnen des Uribismus die Vizepräsidentin Marta Lucía Ramírez war. Sie war gezwungen, dieses Bestreben aufzugeben. Stattdessen musste sie Außenministerin werden, um zu versuchen, der Welt die Idee zu verkaufen, dass was sie gesehen hatte, das heißt, die Polizei beim Schießen auf Demonstranten, nur in Ausnahmefällen passiert war. Die Regierung musste also eine ihrer möglichen Kandidatinnen verwerfen, um ihr zu helfen, vor der internationalen Gemeinschaft "das Feuer zu löschen". Außerdem mussten zwei Minister zurücktreten und zwei Gesetzentwürfe sind gescheitert. Überhaupt ist das kolumbianische Establishment völlig verpönt. Die Popularität des Kongresses, des Präsidenten, der Polizei und weiterer Institutionen sinkt immer weiter.

Die Mobilisierungen setzen sich fort. Das wird sich nicht so leicht ändern. Vielleicht wird im Dezember ein bisschen pausiert, denn in Kolumbien ergeht es uns wie Europa im Sommer. Danach werden wir sehen, wie sich die Kongresswahlen im März und die Präsidentschaftswahlen im Mai und Juni entwickeln. Aber in der Zwischenzeit ist es eine Tatsache, dass jeden Tag an verschiedenen Ecken Kolumbiens mobil gemacht wird. Es sind meistens nicht mehr die großen auf nationaler Ebene koordinierten Mobilisierungen sondern eher Mobilisierungen in den Vierteln der Randbezirke. Das hat der Streik hinterlassen.

Diese jungen Leute der Armenviertel bleiben aktiv. Vorher waren sie nie die Hauptakteure von Mobilisierungen gewesen. Ein Rückblick auf das letzte Jahrzehnt zeigt, dass die Leute auf dem Land die Protagonisten der Landstreiks waren, nämlich die Afrokolumbianer, die Indigenen und die organisierten Kleinbauern. Viele Leute der Mittelschichten, viele Hochschulstudenten. Diesmal war es anders. Die Bevölkerung der armen Viertel, die an dem Streik teilnahmen, sind Opfer des Konflikts gewesen, der sie aus ihren Wohnorten in die Randbezirke der Städte fliehen ließ. Auch venezolanische Migranten, die ihr Überleben in Kolumbien versuchen. Ebenso afrokolumbianische Bewohner, die historisch am meisten ausgegrenzt und auf dem Land misshandelt worden sind. Sie sind die wirklichen Protagonisten des Streiks und sie machen in ihren Vierteln weiter mobil.

Sie werden weiterhin misshandelt. Es gibt weiter Verletzte und Festgenommene. Es scheint eine sehr gut durchdachte Strategie zu geben, die hauptsächlich die Generalstaatsanwaltschaft anführt. Sie versucht, Sozialaktive, die mit dem Streikaufruf zu tun hatten, und junge Leute, die sich an dem Streik beteiligt haben, strafrechtlich zu verfolgen.

Manche von ihnen haben tatsächlich mit Schäden an öffentlichen und privaten Gütern zu tun. Andere haben aber gar keine Straftat begangen, sondern sind Anführer ihrer frisch entstandenen Jugendbewegungen. Obwohl sie klein sind und gerade erst entstanden, haben sie dem Uribismus eine seiner bislang größten Niederlagen beigebracht. Und das aus den Vierteln, die historisch für die Ultrarechten gestimmt haben. Das ist eine Realität, die die kolumbianische Regierung sehr erschrecken muss. Das erklärt, warum der Generalstaatsanwalt, der aus der Regierungspartei stammt, gerade einen Kreuzzug führt, um diese Bewegung zu delegitimieren.